Ausdauer und Lebenserwartung

     Animiert durch einen Bericht in der Ärztezeitung vom 17.1.91 möchte ich eigene Vorstellungen zu diesem Thema ansprechen. In diesem Bericht mit der Überschrift "Männer mit exzellenter Kondition haben eine höhere Lebenserwartung" wurde von einer Studie niederländischer Epidemiologen berichtet, die 2259 Männer, Teilnehmer 1956 an der 11 Städteschlittschuhfahrt über 200 km  zugefrorener Kanäle, dem "De Elfstedentocht", über 32 Jahre nachbeobachteten. Die Zahl der teilnehmenden Frauen war für eine statistische Erhebung zu klein gewesen. Die Gesamtsterblichkeitsrate dieser Ausdauersportler wurde mit der männlichen niederländischen Bevölkerung über den gleichen Zeitraum verglichen.

    Dabei zeigte sich, daß die Gesamtsterblichkeitsrate um 24 % niedriger lag als bei der Normalbevölkerung. Die Schere klaffte am weitesten auseinander zwischen den Kontrollmännern und den Sportlern in den ersten 10 Jahren mit um 47 % reduzierter Sterblichkeit, also fast der Hälfte. Nach gut 30 Jahren war die Sterblichkeit noch um 17 % niedriger. Auffallend war jedoch der Unterschied, daß die schnellsten Eisläufer nicht länger als die Vergleichbevölkerung lebten. Dagegen hatten die langsamsten Läufer die besten Überlebenschancen. Die Epidemiologen schließen aus ihrer Studie, daß Männer mit einer exzellenten Kondition, die sportliche Strapazen über viele Stunden aushalten, eine bessere Lebenserwartung haben als die Normalbevölkerung, während bei Spitzensportlern nicht dieser Effekt vorhanden zu sein scheint.

    Bei dieser Studie entstehen viele offenen Fragen. In dem Bericht wurde nicht erwähnt, wie viele von den Eisläufern nach 30 Jahren noch im Ausdauertraining standen, und inwieweit sich die Lebenserwartung dieser von denen, die inzwischen und eventuell nach welchem Zeitraum aufgehört hatten, unterschieden. Es ist zu vermuten, daß die Weitertrainierenden statistisch eine noch bessere Lebenserwartung haben. Offen ist auch, wie viele von ihnen bei doch um fast die Hälfte erheblich erhöhter Lebenserwartung während der nächsten 10 Jahre weiter trainiert hatten, oder ob ein vorübergehender guter Trainingszustand über mehrere Jahre einen nachhaltigen Effekt ausübt.

    Meinem Eindruck nach ist der anfänglichen Euphorie, geschürt durch Autoren und Theoretiker wie van Aacken und Hollmann, durch Langstreckenlauf und Ausdauertraining sozusagen Gesundheit und Lebensverlängerung gepachtet zu haben, eine Ernüchterung gefolgt. Gegenüber den erwiesenermaßen günstigen Auswirkungen von Ausdauertraining auf Herz-Kreislauf, Stoffwechsel und seelischer Ausgeglichenheit tragen zu dieser Ernüchterung meiner Auffassung nach alte tiefwurzelnde Krankheitsängste vor der Sportausübung überhaupt bis zum Slogan "Sport ist Mord" bei. Gelenk- und Wirbelsäulenverschleiß, Herzschädigung und vieles mehr werden gefürchtet, vor allem von der Umgebung des Sportlers, der er selbst oft in einem trotzigen Gegenbeweis das Gegenteil zeigen muß, nämlich, daß Sport ihm nicht schadet.

    Auch nicht bewußt eingestandene (bzw. gerade diese) Ängste führen zu Verspannungen und Verkrampfungen, vermehrter Körperbelastung und Krankheitsanfälligkeit. Die Angstverspannung hat eine vermehrte Vorspannung der bei der Sportausübung benutzten Muskulatur zur Folge. Ebenso ist die gegenläufige (antagonistische) Muskulatur mit verspannt und arbeitet dagegen, sodaß die Leistung herabgesetzt und der orthopädische Apparat vermehrt belastet ist. Die Folge der Ängste sind früh- und vorzeitige Überlastungserscheinungen.

    Ebenso wirkt sich der Angststreß auf die Körperabwehr, das Immunsystem aus, sodaß ansonsten leicht verkraftbare fakultativ pathogene Krankheitskeime, die normalerweise z.B. im Nasen-Rachenraum vorhanden sind, zu Erkältungen und Infekten führen können. Insofern wirkt sich die Angst und Sorge als Sich-selbst-erfüllende-Prophezeiung aus. Vorläufiger trauriger Höhepunkt der potentiellen Bestätigung der Krankheitsängste war der  Frankfurter Silvesterlauf 1990 mit mehreren Kreislaufzusammenbrüchen. Sicherlich spielen neben der Angst noch andere Faktoren wie plötzlich warmes Wetter, Überforderung durch Übersteigerung des Leistungs- und Durchhaltewillens, dies wohl oft wieder auf einem Angst- und Gegenbeweishintergrund, eine auslösende Rolle.

    Ähnliche Krankheitskreisläufe spielen sich naturgemäß bei anderen inneren Verspannungen in Konflikten im Beruf und noch stärker in den Primärbeziehungen wie in der Familie ab. Schließlich ist nicht jede Familie der Hort der Einigkeit und Harmonie, wie die vielen Trennungen zeigen.

     In diesem Geschehen geht leicht eine differenzierte Sichtweise von komplexen Zusammenhängen verloren,  ähnlich dem Geschehen bei entsprechend tief sitzenden Sexualängsten und -tabus und einer teils religiös und materiell motivierten - schließlich werden Millionen an Aidsforschung, -verhütung und -behandlung verdient - Aidshysterie nach einer befreienden Phase der Sexualliberalisierung.

    Die Studie über die Eisläufer zeigt meines Erachtens, daß der springende Punkt der Sportausübung das Wie ist. Die Langsamsten lebten im Schnitt am längsten, die Schnellsten nicht länger als die übrige Bevölkerung.

     Ich möchte dieses Ergebnis nicht vorbehaltslos im Zusammenhang mit der meßbaren Leistung übernehmen, sondern ich sehe dies im Zusammenhang mit den Zielen der Sportausübung, der geistigen und seelischen Einstellung zum Sport. Wofür ich oder andere das machen. Es können reflektiert oder unbewußt unreflektiert, wobei der Mensch die Neigung hat, sich selbst und anderen viel vorzumachen, ganz verschiedene Ziele bestehen.

     Liegt das Ziel der Ausdauersportausübung in der Freude an der Natur, frischen Luft, am eigenen Körper bis zu fast orgiastischen Gefühlen oder als Kommunikationsmedium, weil man sich beim Laufen so gut unterhalten kann, bis zur stillschweigenden Gemeinsamkeit beim nebeneinander Herlaufen, sehe ich nur die günstigen Momente. Gelegentliche Leistungsvergleiche auch in Wettkämpfen machen Spaß und fördern im Falle des persönlichen Austausches über die Erfahrungen die Kommunikation. Dann sehe ich auch in Ultrabereichen keine beeinträchtigenden Momente. Gelegentliche und vorübergehende Quälereien werden von Körper und Psyche folgenlos verkraftet. Und treten in Training oder Wettkampf, wenn man es mal aus Freude am Sport, nicht infolge von Leistungsdruck, übertrieben hat, Reizzustände auf, heilen diese bei lockerer Sportausübung schneller ab als durch längeres Aussetzen.

    Arztbesuche können schon problematischer sein, denn sie weisen meist auf die Angstverarbeitung der "Verletzung" hin, nämlich schlimmeres zu befürchten. Sie verweisen auf mangelnde Übersicht der Zusammenhänge, geringes Selbstvertrauen und Vertrauen in die Selbstheilungstendenzen, und mangelnde Souveranität. Auch können die Erklärungen und Empfehlungen des Arztes einerseits wie vollständige Ruhe oder z.B. "lockeres Weiterlaufen“ nicht akzeptiert werden. Der Sportler verweist auf diesen oder jenen, der angeblich unbeschadet viel mehr und härter trainiere. Er übersieht, daß die Gewebetoleranz zum gegebenen Zeitpunkt verschieden ist bzw. dies eine Frage des Zeitpunktes ist. Das heißt, andere können früher oder später auch verletzt sein.

Auch tragen viele Ärzte nicht gerade zur Beruhigung ihres Patienten bei. Sie unterliegen selbst diesen Krankheits(realitäts)vorstellungen - Realitätsvorstellungen, weil sie ihre Meinung für Realität halten - und mögen von der Sportausübung abraten. Hält sich der Sportler daran, gehen somit potentiell bereichernde Lebenserfahrungen verloren.

     Liegt das Ziel des Sports allein in der Gesundheit selbst, der Gesundheitserhaltung oder Krankheitsvermeidung, können Probleme auftreten. Oft liegen nämlich Krankheitsängste zugrunde, z.B. Ausdauersport zur Verhütung eines Herzinfarktes.

    Liegt das Ziel allein in der Leistung und im Erfolg, so treten häufig verschiedene ungünstige körperliche, seelische und psychosomatische (Teufels)Kreisläufe in Aktion. Sind die Ziele zu hoch angesetzt evtl. aufgrund hochfliegender Erfolgsphantasien, die möglicherweise für spätere Realitäten gehalten werden oder weil der Mund zu voll genommen wurde und der zukünftige Adel verpflichtet und der Lächerlichkeit preisgegeben wird, oder nach Anfangserfolgen, der Absturz gefürchtet werden (Ikarossyndrom) muß. Die Enttäuschung und die Lächerlichkeit in den eigenen Augen und in denen des Umfeldes müssen gefürchtet werden. Dabei mögen sich die Erwartungen der Umgebung mit der des Sportlers addieren und potenzieren.

    Hintergründe vom Erfolgszwang: Oft dient der Sporterfolg  zur Kompensation anderweitiger Frustrationserlebnisse wie im Beruf, im Bett oder beim Witzereißen am Stammtisch. Das Erfolgsstreben weist also auf das persönliche Selbstachtungsdefizit bzw. auf die persönliche Selbstmißachtung hin, sozusagen "es nötig zu haben". Dann dient der Erfolg nicht zur Selbstdarstellung und zum Austausch verschiedener persönlicher Seiten - ich nenne das analogen Dialog - , sondern zur Hervorrufung eines Positivbildes bei sich selbst und im Gegenüber (digitaler Dialog), wobei Schwächen möglichst ausgeschaltet werden sollen. Dadurch besteht eine starke Abhängigkeit vom Erfolg. Der Mißerfolg muß gefürchtet werden und wird tragischerweise infolge der Angstspannung vor dem Mißerfolg geradezu provoziert.

     Zu den Verhinderungsmechanismen des Mißerfolges gehören, alles erdenkliche für den Erfolg getan zu haben, in Ernährung, Trainingsvorbereitung, Entspannungsversuchen, mentalem Training und so weiter. Infolge der Erfolgsverpflichtung wird vorübergehendes Nachlassen im Training von Schuldvorstellungen und -gefühlen begleitet - also eine zusätzliche psychische Belastung, anstatt die psychische Unlust bzw. das Unlustgefühl und -verhalten als Warnsignal für eine Überlastung ernst zu nehmen. Als typisches Beispiel führt gerade die Angst vor dem Formverlust bei Ausdauersportlern zu intensiver Betätigung bis kurz vor den Wettkampf, sodaß infolge der mangelnden Regeneration der Mißerfolg geradezu vorprogrammiert ist.  

     Ich sehe als weiteren Hintergrund für Überlastungen eine Art Härtedenken, inneren Härteparolen und Männlichkeitsidealen getreu Turnvater Jahn "den inneren Schweinhund überwinden", "nur Härte führt zum Erfolg", "Durchbeißen, nicht Nachlassen" und das auch oft noch im Training, also als ein Dauerzustand. Dies sehe ich als eine Reaktionsbildung von oft uneingestandenen Ängsten wie "wer einmal aufgibt, gibt immer auf" usw. Horst Eberhard Richter überschrieb ein Kapitel in seinen Büchern "Herzinfarkt - Männlichkeitsideal".

    Hinter diesen Vorstellungen stecken angstbesetzte frühere und potentielle zukünftige Erfahrungen von Entbehrungen und Leiden, die nur so durchgestanden und denen vermeintlich so vorgebeugt werden kann. Tragischerweise werden sie gerade durch die Reaktionsbildungen zu einer Wiederholung des Leidens. Unter früheren Erfahrungen verstehe ich Erfahrungen in der Eigenentwicklung und Erfahrungen früherer Generationen, die an spätere Generationen weitervermittelt werden.

     Weiterhin ist der Erfolg etwas verführerisches. Vielfach wird Bewunderung hervorgerufen. Diese verführt zur Wiederholung, sodaß zur Erreichung dieses Zieles alle Anstrengungen unternommen werden müssen. Dann wirft der Erfolgszwang nicht nur seine Schatten zurück, sondern, was oft noch gravierender ist, seine Schatten in die Zukunft. Der Erfolg mag dann mehr von Schatten als von Licht begleitet sein. Wir alle kennen die Ausdauersportler, die sich nach früheren Erfolgen bei den Versuchen der Erfolgswiederholung gehäuft mit Verletzungen herumplagen. Andere begnügen sich mit ihren Erfolgen, trainieren nach Lust und Laune weiter, so wie es gerade geht, und setzen sich keine hohen Ziele. Die Ausdauersportbetätigung ist zu einem Lebensbereich wie andere auch geworden mit allen positiven Folgen. Der Erfolg ist aber nicht mehr das Primärziel.

     Als das tragischste Beispiel aus den letzten Jahren von Erfolgszwang sehe ich Birgit Dressel an. Man mag sich vor Augen führen, in welchem Dilemma sie gesteckt haben muß - dauernde Schmerzen, Arztbesuche, vielfältige Medikamenteneinnahme mit widersprüchlichen Wirkungen, Trainings- und Leistungsstreß, Hoffnungen und Enttäuschungen. All das mag zu einer Dauerqual und Depression geführt haben - eine Depression ist oft von Schmerzen begleitet, wobei oft nur die körperliche Schmerzkomponente spürbar ist und die psychische Komponente nicht oder erst im Nachhinein, subjektiv dann meist als Folge der körperlichen Beschwerden, erlebt wird - . Und da sie offensichtlich nicht loslassen und verzichten konnte, mag ihr Leben für sie keinen Sinn mehr gehabt haben. Man kann herauslesen, das Verzichtenkönnen auf den Erfolg führt weiter, zu Lockerheit und innerer Freiheit, möglicherweise auch zu großen Leistungen, jedenfalls eher als das Nichtverzichtenkönnen und der Erfolgszwang.  Er führt leicht zu den oben genannten Teufelskreisen.

     Aus der anfangs angeführten Studie und meinen Ausführungen ergibt sich für mich, daß die Ausdauersportausübung zu Gesundheitserhaltung und Lebensverlängerung im Bevölkerungschnitt führen kann. Der springende Punkt ist das wie bzw. das Ziel. Liegt das Ziel allein beim Sport, treten die positiven Auswirkungen ein. Der Sport dient als Hobby und Freizeitgestaltung. Liegt das Ziel allein im Erfolg und das auch noch zur Kompensation anderweitiger Mißerfolgserlebnisse, tritt ein Erfolgszwang ein mit potentiell negativen Auswirkungen und Teufelskreisen. Ich vergleiche diese Form der Sportausübung gerne mit einem Tunnel, in dessen Dunkel das ersehnte Licht des Erfolgs sich weiter und weiter entfernt, gleichzeitig das Licht der Illusion im Dunkel umso greller gleißt. Bestehen Leistungsziele, die den Sport durchaus verschönern können, möge man diese als Nebenziele, nicht als Hauptziel ansehen. Wie bei einer Wanderung ist der Weg das Ziel bzw. der Lebensweg, nicht unbedingt die Bergspitze oder die Kneipe am Ende des Weges.

     So wie ich viele Menschen kenne, sind sie kulturimmanent zielorientiert, weniger wegorientiert. Beispielsweise wird schon oft in der Kindheit beigebracht, die Note in Prüfungen sei wichtig, nicht das Drum und Dran - inwieweit es mir wichtig ist und ich Lust habe, ob ich gut drauf bin, wie der Stoff vom Lehrer herangetragen wurde und dessen eigene Bewertungskriterien. Es wird übersehen, daß bei der Note die subjektiven Kriterien des Lehrers mit eingehen bzw. im Sport die Kriterien des Beobachters. Und da schneiden die Ausdauersportler nicht immer gut ab, werden von den einen als verrückt, leistungs- und quälsüchtig bezeichnet, um so mehr, je heroischere Taten in Ultrabereichen sie vollbringen, und von den anderen bewundert. Und gerade diese Bewunderung kann der Stachel im Fleisch sein.  Der Psychologe Aufmuth führte das Suchtverhalten von Extrembergsteigern auf frühkindliche Ohnmachts- und Entbehrungenerfahrungen vor allem im Anerkennungsbereich zurück - wovon diese natürlich wenig hören wollten. Daran können auch diese Ausführungen bei vielen wenig ändern – oder vielleicht doch bei dem einen oder anderen Leser.

     Ähnliche Gedanken und weitere Ausführungen habe ich in den letzten Triathlonjahrbüchern und auf medizinischen Triathlonsymposien vorgestellt   (Niederschriften in den Symposionbänden). Die Themen waren etwa "Psychosoziale Hintergründe beim Leistungsversagen", "Der Fluch des Erfolges", "Selbstachtung und Erfolgszwang".

 Frankfurt, den 19.1.91