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Entscheidungsgrundlagen

Wolf Singer, Max-Planck-Institut für Hirnforschung, Frankfurt am Main

Entscheidungen sind das Ergebnis von Abwägungsprozessen, an denen jeweils eine Vielzahl unbewußter und bewußter Motive mitwirken. Diese legen gemeinsam das Ergebnis fest, sind jedoch in ihrer Gesamtheit kaum zu erfassen, weder vom entscheidenden Ich noch vom außenstehenden Beobachter. Hirnforscher behaupten, daß Entscheidungen vom Gehirn getroffen werden, also auf neuronalen Prozessen beruhen. Sie müssen deshalb erklären, wie das Wissen neuronal repräsentiert ist, auf dem Entscheidungen beruhen, wie sich die Motive für Entscheidungen im Nervensystem manifestieren, wie die Abwägungsprozesse organisiert sind, wie das wollende und entscheidende „Ich" sich konstituiert und schließlich, welches die Konsequenzen der Antworten für unser Selbstverständnis und die Beurteilung von Fehlentscheidungen sind.

Die Gewißheit, daß unser Wollen und Entscheiden auf neuronalen Vorgängen im Gehirn beruht, verdankt sich der Konvergenz mehrerer, unabhängiger Beobachtungen. Eine Argumentationslinie stützt sich auf die evolutionsbiologische Evidenz einer engen Korrelation zwischen dem Differenziertheitsgrad von Gehirnen und ihren kognitiven Leistungen. Die Verhaltensleistungen einfacher Organismen lassen sich lückenlos auf die neuronalen Vorgänge in den respektiven Nervensystemen zurückführen. Da die Evolution sehr konservativ mit Erfindungen umgeht, unterscheiden sich einfache und hochdifferenzierte Gehirne im wesentlichen nur durch die Zahl der Nervenzellen und die Komplexität der Vernetzung. Daraus folgt, daß auch die komplexen kognitiven Funktionen des Menschen auf neuronalen Prozessen beruhen müssen, die nach den gleichen Prinzipien organisiert sind wie wir sie von tierischen Gehirnen kennen.

Zur gleichen Schlußfolgerung zwingen entwicklungsbiologische Argumente: Die Ausdifferenzierung von Hirnstrukturen in der Individualentwicklung geht Hand in Hand mit der Ausbildung immer komplexerer kognitiver Fähigkeiten. Dies gilt auch für die mentalen Leistungen, die den Menschen auszeichnen. Schritt für Schritt erwirbt das Kind die Fähigkeit, sich einer symbolbasierten Sprache zu bedienen, logische Operationen höherer Ordnung auszuführen, ein Ich-Bewußtsein auszubilden und, sich dadurch seiner selbst als autonomem Agenten gewahr zu werden. Mit der Ausreifung von Strukturen im Frontalhirn einher geht dann die Gabe, eine Theorie des Geistes zu entwickeln, d. h. sich vorstellen zu können, was der je andere denkt oder fühlt, und der Erwerb hochdifferenzierter sozialer Kompetenzen. Soweit es nur um diese operationalisierbaren kognitiven Funktionen geht, erscheint deren neuronale Bedingtheit also zwingend. Aber wie verhält es sich mit der Repräsentation sozialer Realitäten, den Glaubens- und Wertesystemen, die ihr In-die-Welt-kommen der schöpferischen Leistung sozialer Systeme verdanken. Finden auch diese ihren Niederschlag in den neuronalen Prozessen einzelner Gehirne?

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Wie Wissen in den Kopf kommt

Alles Wissen über das ein Gehirn verfügt, residiert in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen. Zu diesem Wissen zählt nicht nur, was über die Bedingungen der Welt gewußt wird sondern auch das Regelwerk, nach dem dieses Wissen zur Strukturierung unserer Wahrnehmungen, Denkvorgänge, Entscheidungen und Handlungen verwertet wird. Dabei unterscheiden wir angeborenes und durch Erfahrung erworbenes Wissen. Ersteres wurde während der Evolution durch Versuch und Irrtum erworben, liegt in den Genen gespeichert und drückt sich jeweils erneut in der genetisch determinierten Grundverschaltung der Gehirne aus. Das zu Lebzeiten hinzukommende Wissen führt dann zu Modifikationen dieser angeborenen Verschaltungsoptionen. Solange die Hirnentwicklung anhält - beim Menschen bis zur Pubertät - , prägen Erziehungs- und Erfahrungsprozesse die strukturelle Ausformung der Nervennetze innerhalb des genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes. Später, wenn das Gehirn ausgereift ist, sind solche grundlegenden Änderungen der Architektur nicht mehr möglich. Alles Lernen beschränkt sich dann auf die Veränderung der Effizienz der bestehenden Verbindungen. Das seit Beginn der kulturellen Evolution zusätzlich erworbene Wissen über die Bedingungen der Welt, das Wissen um soziale Realitäten, findet also seinen Niederschlag in kulturspezifischen Ausprägungen der funktionellen Architektur der einzelnen Gehirne. Frühe Prägungen programmieren dabei die Vorgänge im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren, da beide Prozesse sich gleichermaßen in der Spezifikation von Verschaltungsmustern manifestieren.

Daß auch die, erst durch Einbettung in Kultur erworbenen Fertigkeiten ihre neuronale Grundlage haben, bestätigen die Ergebnisse der kognitiven Neurowissenschaften. Mentale Akte wie das Mitempfinden des Leids Anderer, das Haben eines schlechten Gewissens, das Unterdrücken einer Reaktion, die Mißempfindung sozialen Ausgeschlossenseins oder die Verurteilung einer unfairen Handlung Anderer, all diese intrapsychischen Vorgänge, die ihre Relevanz erst in bezug auf Andere erfahren, beruhen auf der Aktivierung wohl definierter neuronaler Strukturen. Umgekehrt gilt, daß die gestörte Funktion der entsprechenden Hirnregionen zum Ausfall dieser Leistungen führt. So gilt natürlich auch, daß ein Ersuchen oder ein Befehl – nicht anders als gewöhnliche sensorische Reize – Aktivierungen in ganz bestimmten Hirnregionen auslösen, die erst dann wieder zur Ruhe kommen, wenn der Auftrag erfüllt oder vergessen wird. Somit beeinflussen kulturelle Verabredungen und soziale Interaktionen Hirnfunktionen im gleichen Maße wie alle anderen Faktoren, die auf neuronale Verschaltungen und die auf ihnen beruhenden Erregungsmuster einwirken. Für die Funktionsabläufe in den neuronalen Netzwerken spielt es keine Rolle, ob Verschaltungsmuster durch genetische Instruktionen oder durch kulturelle Prägungsprozesse ihre spezifische Ausbildung erfuhren, ob die Aktivität der Neurone durch gewöhnliche Sinnesreize oder soziale Signale erfolgte.

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Verschiedene Formen des Wissens

Wichtig für die Beurteilung von Entscheidungsprozessen ist, daß genetisch vermitteltes Wissen impliziten Charakter hat, da wir uns an seinen Erwerb nicht bewußt erinnern können. Das Gleiche gilt für früh Erlerntes, weil Hirnstrukturen, die für den Aufbau des deklarativen Gedächtnisses benötigt werden, erst spät ausreifen. „Deklaratives Gedächtnis" bezeichnet die Fähigkeit, Erlerntes bewußt zu erinnern und den Kontext mit abzuspeichern, in den der Lernprozeß eingebettet war. Kleine Kinder erwerben Wissen über die Welt, haben aber keine bewußte Erinnerung an den Lernvorgang. Wir sprechen von frühkindlicher Amnesie. Und so kommt es, daß nicht nur angeborenes Wissen sondern auch ein wesentlicher Anteil des durch Erziehung tradierten Kulturwissens den Charakter absoluter, unhinterfragbarer Vorgaben erhält, von Wahrheiten und unumstößlichen Überzeugungen, die keiner Relativierung unterworfen werden können. Zu diesem impliziten Wissensgut zählen angeborene und anerzogene Denkmuster und Verhaltensstrategien ebenso wie Wertesysteme und religiöse Überzeugungen. Aus dem gleichen Grund haben vermutlich auch die Inhalte unseres Selbstbildes jenen absoluten Anspruch. Wir erfahren früh, daß uns zugeschrieben wird, autonome, in unseren Entscheidungen und Handlungen freie Agenten zu sein, die für ihr Tun verantwortlich sind und deshalb Sanktionen ausgesetzt werden dürfen. Sätze wie „Wenn Du das tust, dann ..." vermitteln, man könnte frei zwischen Handlungsoptionen wählen. Auch an den Erwerb dieser Überzeugung, die wir aus dem auf uns gerichteten Verhalten der Anderen gewinnen, haben wir keine Erinnerung. Das gleiche gilt für den Prozeß, in dem sich unser Ich-Bewußtsein durch Beobachtung unserer Wirkung auf Andere, durch Spiegelung in der Kognition des Anderen konstituiert. Erst das Weltwissen, daß nach der Ausbildung deklarativer Gedächtnisfunktionen erworben wird, also in der Zeit, die wir erinnern, wird zu explizit Gewußtem. Wir erinnern den Lernvorgang, können dieses Wissen bewußt rekapitulieren und sprachlich zu Argumenten verwandeln.

Neuronale Grundlagen von Entscheidungsprozessen

Auf Grund evolutionärer Anpassung sind Gehirne daraufhin ausgelegt, fortwährend nach den je optimalen Verhaltensoptionen zu suchen. Sie wenden dabei Verarbeitungsstrategien an, die in ihrer Architektur durch genetische Vorgaben eingeschrieben und/oder durch Erfahrung eingeprägt wurden. Um zu entscheiden, stützen sie sich auf eine ungemein große Zahl von Variablen: auf die aktuell verfügbaren Signale aus der Umwelt und dem Körper sowie auf das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In dutzenden, räumlich getrennten aber eng miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft, und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven Prozeß ausgesetzt, in dem es schließlich einen Sieger geben wird. Das Erregungsmuster setzt sich durch, das den verschiedenen Attraktoren am besten entspricht. Dieser distributiv angelegte Wettbewerbsprozeß kommt ohne übergeordneten Schiedsrichter aus. Er organisiert sich selbst und dauert solange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster als nächstes die

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Oberhand gewinnt, ist demnach festgelegt durch die spezifische Verschaltung und den jeweils unmittelbar vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns. Falls diese Bedingungen Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche Folgezustände erlauben, dann können auch zufällige Schwankungen in der Signalübertragung zum Tragen kommen und dem einen oder anderen Zustand zum Sieg verhelfen.

Dieses Scenario erscheint uns plausibel für Entscheidungen, die wir unwillkürlich treffen, - für die vielen unbewußten Entscheidungen, die uns sicher durch den Alltag bringen. Aber für Entscheidungen, die auf der bewußten Abwägung von Variablen beruhen und die wir als gewollt empfinden, fordert unsere Intuition anderes. Wir neigen dazu, eine von neuronalen Prozessen unabhängige Instanz anzunehmen, die neuronalen Abläufen vorgängig ist: Eine Instanz, die sich Sinnessignale und Speicherinhalte bewußt machen kann, daraus Schlüsse zieht, eine Option als gewollt identifiziert und diese dann in Handlung umsetzt. Diese Sichtweise artikuliert sich in zwei Positionen. Eine, die dualistische, postuliert für die wollende Ich-Instanz einen immateriellen Dirigenten, der das neuronale Substrat nur nutzt, um sich über die Welt zu informieren und seine Entscheidung in Handlungen zu verwandeln. Diese Position ist mit dem Verursachungsproblem konfrontiert und mit bekannten Naturgesetzen unvereinbar. Sie hat den Status unwiderlegbarer Überzeugungen. Die andere geht zwar davon aus, daß auch die sogenannten „freien Entscheidungen" vom Gehirn selbst getroffen werden, daß die zu Grunde liegenden Prozesse sich aber aus nicht näher spezifizierten Gründen über den neuronalen Determinismus erheben können. Aus neurobiologischer Sicht ist auch diese Lesart unbefriedigend. Wenn eingeräumt wird, daß das bewußte Verhandeln von Argumenten auf neuronalen Prozessen beruht, dann muß es neuronalem Determinismus in gleicher Weise unterliegen, wie das unbewußte Entscheiden, für das wir dies zugestehen. Dies folgt aus der zwingenden Erkenntnis, daß neuronale Vorgänge in der Großhirnrinde nach immer gleichen Prinzipien ablaufen und daß sowohl bewußte als auch unbewußte Entscheidungen auf Prozessen in dieser Struktur beruhen. Wenn dem aber so ist, warum räumen wir den bewußten Entscheidungen einen anderen Status ein als den unwillkürlichen, warum wähnen wir erstere unserer Intention und Wertung unterworfen und sind bereit, für sie besondere Verantwortung zu übernehmen? Wodurch unterscheiden sich bewußte und unwillkürliche neuronale Prozesse?

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Bewußte und unbewußte Prozesse

Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren in solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum Bewußtsein haben, solche, die wahlweise ins Bewußtsein gelangen können, und solche, die grundsätzlich bewußt sind. Zu den vom Bewußtwerden ausgeschlossenen Vorgängen zählen viele der sogenannten autonomen Funktionen, welche für ordnungsgemäßes Funktionieren aller Organe, einschließlich des Gehirns, sorgen. Von den anderen, potentiell bewußtseinsfähigen Vorgängen können jeweils immer nur wenige gleichzeitig ins Bewußtsein gelangen und im Kurzzeitspeicher gehalten werden. Generell gilt, daß nur die Sinnessignale bewußt werden, die mit Aufmerksamkeit belegt werden und daß nur die Speicherinhalte ins Bewußtsein gehoben werden können, die während des Speichervorgangs mit Aufmerksamkeit belegt und bewußt erfahren wurden. Die Zuteilung von Aufmerksamkeit unterliegt dabei wiederum einem distributiv organisierten Wettbewerb, der sich in einem weit verzweigten Netzwerk selbst strukturiert und nicht von einem zentralistischen Dirigenten verwaltet wird. Ein starker oder unerwarteter Reiz zieht Aufmerksamkeit automatisch auf sich, aber das Gehirn setzt Prioritäten auch selbst, und das oft unbewußt. Man sucht einen Namen, findet ihn nicht, die Aufmerksamkeit wandert zum nächsten Problem und plötzlich taucht der gesuchte Name im Bewußtsein auf. Ein Beispiel von vielen, das illustriert, daß unser Gehirn, nachdem sich ein Bedürfnis eingestellt hat, offenbar ganz ohne unser „bewußtes" Zutun Speicher durchsuchen, die Stimmigkeit des Gefundenen mit dem Gesuchten überprüfen und das Resultat ins Bewußtsein bringen kann. Und dann gibt es die obligat bewußten Prozesse, zu denen alle sprachlich gefaßten Vorgänge gehören. Bewußte Vorgänge unterscheiden sich von unbewußten also vornehmlich dadurch, daß sie mit Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt und sprachlich gefaßt werden können.

Entsprechend unterscheiden sich die Inhalte, die bewußten Entscheidungen zu Grunde liegen mitunter von denen, die bei unwillkürlichen Entscheidungen zum Tragen kommen. Bewußte Entscheidungen basieren per Definitionen auf Inhalten bewußter Wahrnehmungen und auf Erinnerungen, die im deklarativen Gedächtnis als explizites Wissen abgelegt wurden. Bei den Variablen bewußter Entscheidungen handelt es sich also vornehmlich um spät Erlerntes: Um ausformuliertes Kulturwissen, ethische Setzungen, Gesetze, Diskursregeln und verabredete Verhaltensnormen. Abwägungsstrategien, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägung oder unbewußte Lernvorgänge ins Gehirn gelangten und sich deshalb der Bewußtmachung entziehen, stehen somit nicht als Variablen für bewußte Entscheidungen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd und beeinflussen bewußte Entscheidungsprozesse. Sie lenken den Auswahlprozeß, der festlegt, welche von den bewußtseinsfähigen Variablen jeweils ins Bewußtsein rücken, sie geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen verhandelt werden, und sie sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt.

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Freie und unfreie Entscheidungen

Hier also könnte der Schlüssel liegen zur Frage, warum wir eine Art von Entscheidung als bedingt und die andere als frei beurteilen, obgleich beide auf gleichermaßen deterministischen neuronalen Prozessen beruhen. Offenbar ist es die Natur der Variablen und die Art ihrer Verhandlung. Wir beurteilen Entscheidungen als frei, die auf der bewußten Abwägung von Variablen gründen, also auf der rationalen Verhandlung von bewußtseinsfähigen Inhalten. Entscheidungen, die sich auf diese Weise vollziehen, werden uns voll zugerechnet. Geprüft wird allenfalls, ob die Person zum Zeitpunkt der Abwägung in der Lage war, sich die relevanten Variablen bewußt zu machen und diese bei ungetrübtem Bewußtsein zu verhandeln. Diese Position schreibt dem Bewußtsein eine letztinstanzliche Funktion zu, oder anders, sie setzt die verantwortliche Person mit ihrem Bewußtsein gleich. Sie definiert jenen Anteil am Entscheidungsprozeß als „frei", dessen sich die Person bewußt ist. Diese Interpretation ist nachvollziehbar, denn die Selbst- und Fremdwahrnehmung suggeriert genau dies. Alles, was wir von anderen als Handlungsbegründung erfahren können, ist, was ihnen davon bewußt wird und mitgeteilt werden kann. Dem handelnden Subjekt geht es nicht anders. Auch dieses wird sich nur der bewußten Motive gewahr, und da sie die seinen sind, empfindet es sich als für sie verantwortlich. Das Subjekt erfährt sich zu Recht als Urheber der Entscheidung, die es getroffen hat. Wer sonst käme in Frage?

Die bewußten Motive müssen jedoch keineswegs die entscheidenden gewesen sein, auch wenn es dem inneren Auge, das nur Bewußtes zu sehen vermag, so scheint, als seien die jeweils bewußten Argumente hinreichende und vollständige Begründungen. Zweifel kommen nur selten auf, da in der Regel im Wettbewerb der Entscheidungsprozesse jener Zustand gewinnt, der durch maximale Kohärenz aller Variablen ausgezeichnet ist, der unbewußten wie der bewußten. Es kann aber passieren, daß die auf bewußter Verhandlung von Argumenten aufbauenden und in sich konsistenten Lösungen mit den unbewußt ablaufenden Abwägungsprozessen in Konflikt geraten und unterliegen. Dann heißt es:" Ich habe es getan, obgleich ich es nicht wirklich wollte oder obgleich ich ein ungutes Gefühl dabei hatte". Das bewußte Ich gesteht ein, anderen Kräften unterlegen zu sein. Gelegentlich erfindet es sogar Argumente, um im Nachhinein Entscheidungen zu begründen, deren Motive ihm nicht zugänglich waren. Es ist möglich, einer Person Handlungsanweisungen aufzugeben, ohne daß sie sich dieser bewußt wird. Führt die Person die Handlung aus und soll sich dann zu der Aktion erklären, so gibt sie zumeist eine plausible, rational wohl begründete Antwort im intentionalen Format „weil ich dies oder jenes wollte". Die angeführten Gründe sind in solchen Fällen naturgemäß unzutreffend und konnten erst nach der Handlung erfunden werden. Dennoch ist die handelnde Person von der Richtigkeit und der verursachenden Natur der angegebenen Gründe überzeugt und schreibt sich die Handlung als gewollte zu. Es scheint, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewußtsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen bzw. Entscheidungen herzustellen. Gelingt das nicht, weil im Bewußtsein gerade nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden. Und niemand weiß anzugeben, wie hoch bei den alltäglichen, selbst „verantworteten" Entscheidungen dieser fiktive Anteil ist.

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Es gibt also nachvollziehbare Gründe, warum wir zwischen unbewußten und bewußten Abwägungsprozessen unterscheiden und letztere als unserem freien Willen unterworfen wahrnehmen, auch wenn in beiden Fällen der Entscheidungsprozess selbst auf deterministischen neuronalen Prozessen beruht. Wenn aber alle Entscheidungen auf gleichermaßen bedingten neuronalen Prozessen beruhen, warum hat dann die Evolution überhaupt Gehirne herausgebildet, die über zwei Entscheidungsebenen verfügen? Eine naheliegende Vermutung ist, daß bewußtes Verhandeln von Variablen Vorteile gegenüber den unbewußten Entscheidungsprozessen bietet. Ein offensichtlicher Gewinn könnte die Mitteilbarkeit der Gründe sein. Auch wenn die benennbaren Motive nur Fragmente darstellen, erlaubt ihre Kommunizierbarkeit eine wesentlich differenziertere Bewertung von Verhaltensdispositionen, als dies durch die Beobachtung von Verhalten allein möglich wäre. Diese Mitteilbarkeit hat vermutlich entscheidend zur Entwicklung und Stabilisierung sozialer Systeme beigetragen, weil sie die Option eröffnet, die Äußerungen über getroffene Entscheidungen zu bewerten, Entscheidungen als intentionalen Akt zu interpretieren, Verantwortung für Entscheidungen zuzuschreiben und Sanktionen für unerwünschte Entscheidungen vorzusehen. Und so nimmt nicht Wunder, daß mit den sogenannten freien Entscheidungen nur die bewußten, die mit mitteilbaren Gründen gerechtfertigten, gemeint sind.

Ein weiterer Vorteil bewußten Entscheidens ist, daß die Variablen nach rationalen Diskursregeln verhandelt werden können. Der Abwägungsprozess läßt sich differenzierter gestalten, weil er sich auf erlernte Regeln der Argumentationslogik stützen kann. Aber dieses evolutionsgeschichtlich junge Verfahren hat auch Nachteile. Die rationalen, bewußt herbeigeführten Entscheidungen sind zweifach begrenzt, einmal durch die geringe Zahl der Variablen, die gleichzeitig im Bewußtsein gehalten werden können, und dann durch den vorgängigen Auswahlprozess, der entscheidet, welche Variablen überhaupt ins Bewußtsein gelangen. Somit ist durchaus möglich, daß bei unbewußt ablaufenden Entscheidungsprozessen weit mehr Variablen zueinander in Bezug gesetzt werden als bei den bewußten. Zu vermuten ist allerdings, daß diese unbewußten Abwägungen einfacheren, kompetitiven Regeln folgen als die bewußten Entscheidungen, die von erlernten Regelwerken strukturiert werden. Beide Strategien, die bewußten und die unbewußten, haben somit ihre Vor- und Nachteile, und es scheint nicht ausgemacht, daß die bewußten immer die besseren sind. Der „klinische Blick" des erfahrenen Arztes ist gelegentlich treffsicherer als die rationale Analyse notwendig unvollständiger Meßgrößen.

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Eine humanere Betrachtungsweise?

Die in der lebensweltlicher Praxis gängige Unterscheidung von gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen erscheint in Kenntnis der zu Grunde liegenden neuronalen Prozesse problematisch. Unterschiedlich sind lediglich die Herkunft der Variablen und die Art ihrer Verhandlung: Genetischen Faktoren, frühe Prägungen, soziale Lernvorgänge und aktuelle Auslöser, zu denen auch Befehle, Wünsche und Argumente anderer zählen, wirken stets untrennbar zusammen und legen das Ergebnis fest, gleich, ob sich Entscheidungen mehr unbewußten oder bewußten Motiven verdanken. Sie bestimmen gemeinsam die dynamischen Zustände der „entscheidenden" Nervennetze.

Diese Sicht hat Konsequenzen für die Beurteilung von Fehlverhalten. Ein Beispiel: Eine Person begeht eine Tat, offenbar bei klarem Bewußtsein, und wird für voll verantwortlich erklärt. Zufällig entdeckt man aber einen Tumor in Strukturen des Frontalhirns, die benötigt werden, um erlernte soziale Regeln abzurufen und für Entscheidungsprozesse verfügbar zu machen. Der Person würde Nachsicht zuteil. Der gleiche „Defekt" kann aber auch unsichtbare neuronale Ursachen haben. Genetische Dispositionen können Verschaltungen hervorgebracht haben, die das Speichern oder Abrufen sozialer Regeln erschweren, oder die sozialen Regeln wurden nicht rechtzeitig und tief genug eingeprägt, oder es wurden von der Norm abweichende Regeln erlernt, oder die Fähigkeit zur rationalen Abwägung wurde wegen fehlgeleiteter Prägung ungenügend ausdifferenziert. Diese Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. Keiner kann anders als er ist.

Diese Einsicht könnte zu einer humaneren, weniger diskriminierenden Beurteilung von Mitmenschen führen, die das Pech hatten, mit einem Organ volljährig geworden zu sein, dessen funktionelle Architektur ihnen kein angepaßtes Verhalten erlaubt. Menschen mit problematischen Verhaltensdispositionen als schlecht oder böse abzuurteilen, bedeutet nichts anderes als das Ergebnis einer schicksalshaften Entwicklung des Organs, das unser Wesen ausmacht, zu bewerten. Überschreitet das Fehlverhalten eine Toleranzgrenze, drohen wir mit Sanktionen. Interessanterweise fallen diese Maßnahmen umso drastischer aus, je mehr wir davon ausgehen können, daß dem Delinquenten die Variablen, auf denen die Entscheidung basierte, bewußt sein müßten. Offenbar ahnden wir Verstöße dann besonders streng, wenn sie gegen explizit Gewußtes begangen werden, gegen Wertordnungen also, die über Erziehungsprozesse im deklarativen Gedächtnis verankert wurden. Wir begründen dies, indem wir bewußten Entscheidungen ein besonderes Maß an Freiheit zuschreiben und daraus besondere Schuldfähigkeit, Verantwortlichkeit und Sanktionsnotwendigkeit ableiten.

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An dieser Praxis würde die differenziertere Sicht der Entscheidungsprozesse, zu der neurobiologische Erkenntnisse zwingen, wenig ändern. Die Gesellschaft darf nicht davon ablassen, Verhalten zu bewerten. Sie muß natürlich weiterhin versuchen, durch Erziehung, Belohnung und Sanktionen Entscheidungsprozesse so zu beeinflussen, daß unerwünschte Entscheidungen unwahrscheinlicher werden, sie muß Delinquenten die Chance einräumen, durch Lernen zu angepaßteren Entscheidungen zu finden und – wenn all dies erfolglos bleibt, sich durch Freiheitsentzug schützen. Nur die Argumentationslinie wäre eine andere. Sie trüge den hirnphysiologischen Erkenntnissen Rechnung, ersetzte die konfliktträchtige Zuschreibung graduierter „Freiheit" und Verantwortlichkeit durch bewußte und unbewußte Prozesse und eröffnete damit einen vorurteilsloseren Raum zur Beurteilung und Bewertung von „normalem" und „abweichendem" Verhalten. Die schwer nachvollziehbare Dichotomie einer Person in freie und unfreie Komponenten wäre damit überwunden. Die Person als ganze würde nach wie vor für all das zur Rechenschaft gezogen, was sie fühlt, denkt und tut, und diese Beurteilung umfaßte unbewußte und bewußte Faktoren gleichermaßen. Diese Sichtweise trüge der trivialen Erkenntnis Rechnung, daß eine Person tat, was sie tat, weil sie im fraglichen Augenblick nicht anders konnte – denn sonst hätte sie anders gehandelt. Da im Einzelfall nie ein vollständiger Überblick über die Determinanten einer Entscheidung zu gewinnen ist, wird sich die Rechtsprechung nach wie vor an pragmatischen Regelwerken orientieren. Es könnte sich aber lohnen, die geltende Praxis im Lichte der Erkenntnisse der Hirnforschung einer Überprüfung auf Kohärenz zu unterziehen.