Aufsatz im Triathlonjahrbuch 1989
 

Triathlon und Psyche

Der Fluch des Erfolges


 

   

 

 

von Dr. Bernd Holstiege

Das Wort ,,Fluch" weist auf mystische, geheimnisvolle, aus göttlichen, unerklärlichen Sphären stammende Zusammenhänge hin. Für offene, unerklärliche und demzufolge meist angstbesetzte Fragen werden in allen Gesellschaften und Kulturen Gott und gottähnliche Wesen eingesetzt und diese von Mythologien umrankt. Unsere Gesellschaft ist vom christlichen Mythos bestimmt. Daneben beherrschen uns andere Mythen, wie z.B. die der (Natur-) Wissenschaft oder der Technokratie, obwohl sogar Physiker behaupten, daß physikalische Formeln, obwohl vieles danach berechnet werden kann und funktioniert, letztlich Glaubensfragen und unerklärlich sind. So stellt der Sport selbst und in diesem Bereich besonders die Leistung und der Erfolg — ein Mythos dar. Heroen und gottähnliche Menschen füllen die Stadien. Die Erfolge eines Boris Becker entfachten einen Tennis-Boom. Und wenn ein deutscher Triathlet in Hawaii gewinnen sollte, setzt vielleicht ein Triathlon-Boom ein. Hawaii selbst ist schon ein Mythos ,,Traumreise; schwerster Wettkampf der Welt" — deswegen mußte ich dieses Jahr hin.

Der Mythos gehört zum Zauber, ja Lebenselexier eines jeden Menschen. Nicht was ich tue, sondern mit welcher Bedeutung, Sinn und Wert ich es tue, die begleitenden Phantasien und mythologischen Zuschreibungen ist wichtig. Entmythologisiert ist das Leben fade, besteht nur aus Hand lungen, wie es zum Teil in der Aufklärung und im technokratischen Zeitalter geschieht— allerdings ein neuer Mythos. Manche nennen solche Menschen Normopathen, die an ihrer Normalität leiden.

Zu den reizvollen Seiten des Mythos gehören die Schattenseiten, und einigen Aspekten dazu gehören diese Zeilen.

Bekannt ist, wie Spitzensportler unter dem Erwartungsdruck ihrer selbst, ihrer Fans, Funktionäre und Medien leiden und unter Umständen versagen. ,,Ob ihre Psyche hält?" Sportler sind meist keine Schauspieler, die den Beifall des Publikums als Lebenselexier brauchen und erst dann zur Größe wie in einem Rausche emporschwingen. Der Erfolg stellt eine sozialpsychologische Belastungssituation dar, weil genauso bekannt im Falle des Nichterfolges das nachträgliche Zerreißen in den Augen anderer ist. Im Alltag des Spitzensportlers kann es passieren, daß solch eine Größe privat, auf der Straße, beim Training, in Gesellschaft, mit ehrfürchtigen Blicken bedacht wird. Es wird nach den Geheimnissen des Trainings, nach der Ernährung, Schuhen o.ä. fortwährend gefragt. Man wird mit dem Vornamen oder einem vertraulichen ,,Du" begrüßt und gerät sofort in den Ruf der Arroganz, wenn man nicht auf dieser Ebene erwiedern bzw. nicht sofort den kaum Bekannten ebenso mit dem Vornamen benennen kann.

Vor allem Jugendliche mit Früherfolgen können gut das Hochjubeln ihrer Umgebung artikulieren. Das im Mittelpunktstehen stellt einerseits einen Anreiz dar, andererseits im Falle der Nichtbestätigung weiterer prognosfizierter Erfolge beinhaltet es den Absturz des Höhenfluges. Die alten Griechen benannten in ihrer Mythologie diesen Sachverhalt in der Dädalos und Ikaros-Sage. Ich spreche vom Ikaros Syndrom. Nicht nur bei Jugendlichen nach Anfangserfolgen erfordert das Durchleben von Höhen und Tiefen und die Integration dieser Erfahrungen längere Zeiträume. Neben einer athletischen Reifung ist eine psychische Reifung nicht nur des Athleten, sondern auch seiner Umgebung wichtig. Oft wird beklagt, daß Trainer unter äußerem Erfolgsdruck zu sehr auf kurzfristige Erfolge hinarbeiten und dem Sportler nicht genügend Zeit zur Leistungsentwicklung, Erfolgsgewöhnung und -verarbeitung lassen. Weiterhin ist die Integration des oft langwierigen, zeitraubenden, teils mühevollen Trainings in die Lebensgestaltung bei teilweiser Aufgabe anderer altersentsprechender Lebensbereiche und Hobbies wie Disco, Freund oder Freundin, anderer Sportarten usw. zu berücksichtigen. Schließlich sind nicht alle solche Lebenskünstler wie "Tomba la Bomba".

Der Erfolg, ob im absoluten oder persönlichen Sinne, stellt ein rauschartiges Erlebnis dar, sowohl für den, der ihn selbst erringt, als auch für den, der mit lebt, sich identifiziert. Dieses Gefühl kann naturgemäß nur vorübergehend sein. Es muß Ernüchterung folgen, vor allem wenn der Alltag eintritt, der ja oft nicht berauschend ist. Und je mieser der Alltag ist, desto wichtiger ist der Rausch, Erfolg, desto größer wiederum der Absturz. Dädalos undIkaros entflohen einem Gefängnis. Der Vater sah die Flucht nüchterner, während der Sohn den Frevel begann, zur Sonne emporsteigen zu wollen. Und das Denken, einen Frevel zu begehen, ein Verbot zu überschreiten und dafür bestraft werden zu müssen, steckt nicht nur in den alten Griechen und ihrer Mythologie, sondern auch in unserer Kultur, also in uns allen. Gerade für Triathleten ist der Erfolg nicht täglich wie eine Droge einnehmbar und zu wiederholen. Das Inderhöheschweben, nach den Sternengreifen im Traum und in der Phantasie, z.B. während eines Trainingslaufes, wenn es besonders gut läuft, oder im Gespräch mit Freunden, kennt — glaube ich — jeder. Schwierig wird es, wenn diese Phantasien als Maßstab genommen werden. Da dies persönlichkeitsbedingt ist und sich in anderen Lebensbereichen oft ebenfalls abspielt, schwingt immer die Angst vor dem Absturz, vor der Enttäuschung mit.

Die eigene Selbstüberschätzung kann ebenso in Uberschätzung der Gegner umschlagen, sodaß gerade der Erfolgreiche diese wie eine jagende Meute erlebt, deren Ubermacht er sich hilflos ausgelierfert fühlt. Sich die Realität vor Augen führen, daß jeder seinen Wettkampf im Rahmen seiner aktuellen Möglichkeiten durchführt, kann hilfreich sein. Manche Spitzensportler haben aufgrund übermässiger Anstrengungen zur Erreichung ihrer Leistungen aufgrund der phantasierten Ubermacht ihrer Gegner vorzeitig aufgegeben. Die Uberschätzung der Gegner und die Ikaros-Sage, wobei ein Vater-Sohn-Konflikt in versteckter Form eine tragende Rolle spielen kann, führen in die Nähe einer anderen griechischen Sage, die wie Sigmund Freud herausgearbeitet hat, unsere Kultur bestimmt, nämlich der Ödipus-Sage.

Nach diesem Mythos ist es den Söhnen verboten (entgegen der normalen Entwicklung) die Väter zu schlagen, weil dies sozusagen als Vatermord gedeutet wird. Manchen Sportlern ist bekannt, wie ihnen die Beine versagen oder die Konzentration nachläßt, wenn sie die Gelegenheit haben, ihr großes Vorbild zu schlagen. Ein unauflöslicher Konflikt kann entstehen, wenn ein solcher Heros noch zu ihrem Trainer bestellt ist und ihre Leistung fördern soll. Das hieße, den Mythos vom Throne zu stürzen, ein frevelhaftes Ansinnen. (Schließlich ist sozial nur die umgekehrte Form erlaubt, das allerdings nicht mythisch, sondern ganz real, wenn z.B. die Söhne in den Kriegen fallen, die die Väter angezettelt haben). Im Odipus­Mythos werden ebenfalls erotische und sexuelle Phantasien angesprochen, die im Sport sicherlich eine tragende Rolle spielen, z.B. in der körperlichen Attraktivität für andere und im Rahmen noch vorherrschender Tabus Bestrafung erfordern. Daß trotz härtester Anstrengungen die Erfolge versagt bleiben wie bei sogenannten Trainingsweltmeistern, ist in der Sisyphos­Sage festgehalten.

Vielleicht weniger bei Triathleten, mehr in anderen Sportarten, bei denen Jugendliche einer intensiven Betreuung bedürfen und sich ein enges Verhältnis Betreuer/Sportler einspielt, wird es schwierig, wenn die Umgebung die Erfolge ihres Schützlings zu sehr zur Kompensation für eigene Leistungsideale und -defizite benötigt und den Sportler zu sehr unter Druck setzt. Dann hat der Sportler andere sozusagen als Klotz am Beim mitzu schleppen. Ein typisches Beispiel stellen die sogenannten Eislaufmütter dar. Wenn sich der Sportler unter diesem Druck zu sehr zur Decke streckt, ist er zu Wiederholungen nicht bereit. Nur wer sein Leistungsziel einigermaßen locker und mit eigener Freude verwirklicht, bleibt längerfristig bei der Stange. Dieser zwischenmenschliche Prozeß kann sich auch als verinnerlichter intrapsychischer Prozeß abspielen. Deswegen ist sportlicher Erfolg als Kompensation anderer Lebensbereiche wie mangelnde Studien- und Berufsentwicklung, unbefriedigende Partnerschaft, fehlende Interessen eine ungünstige Konstellation. Weil es zu einer Uberfrachtung des Sporterfolges führt mit den dazugehörigen Angsten im Falle des Nichterfolges ist eine Aufrechterhaltung anderer Lebensziele wichtig. Diese Erhaltung anderer sozialer Bezüge führt zu Grenzen in den Trainingsmöglichkeiten.

Mir erscheint gegenüber einem Erfolgsdenken bei längerem Durchschreiten eine Entbehrungsphase im Hinblick auf ein höheres Ziel ein anderer Weg bzw. Denken wichtig. Im Training wird bei der Sportausübung die meiste Zeit verbracht. Deswegen halte ich es für wichtig, im Training selbst, nämlich an der Freude der Sportausübung und der Kommunikation das überwiegende Ziel zu sehen und nicht am Erfolg, der mehr als Nebeneffekt gesehen werden sollte. Als Vergleich dazu: Wie bei einer Wanderung, der Weg, die Körperbetätigung, die Unterhaltung, Freude an der Natur das überwiegende Ziel sein sollte und nicht der Berggipfel oder die Kneipe am Ende. Deshalb darf das Training nicht zu hart, entbehrungsreich oder quälerisch gestaltet werden. Eine so gestaltete Durststrecke kann zu einer Uberhöhung des Zieles und in Anbetracht der Selbstquälerei zu einer vorzeitigen Aufgabe führen. Nach einer Uberhöhung des Zieles schwingt die Angst vor dem Absturz (Ikaros) regelmäßig mit und kann im Wettkampf, wenn nicht gar schon im Training selbst zu Verkrampfungen und demzufolge zu Leistungsversagen führen (Trainingsweltmeister). Außerdem führt ein dauerhaft zu hart gestaltetes Training leicht zu Uberreizungen des Bewegungsapparates, Verletzungen und zu einer psychischen Demotivation. Jedes Training wird schmerzhaft und mit Angst vor der Quälerei erlebt. Als Maßstab gibt es neben der aufwendigen Kontrolle der Laktatwerte und/oder der Pulsfrequenz eine Uberprüfung der subjektiven Befindlichkeit, anders ausgedrückt des körperlichen und seelischen Befindens. Bei entsprechender Befindlichkeit können sogar knallharte Trainingssequenzen Spaß machen und ein gehobenes Körpergefühl vermitteln.

Mit der Befindlichkeit ist es allerdings so eine Sache, womit viele als Trainingssteuerung ihre Schwierigkeiten haben. Da sie physikalisch nicht meßbar ist, erst bei Verletzungen und längerfristiger Demotivation, wurden die oben genannten meßbaren Parameter eingeführt. Als Ursache sehe ich ein vor allem im Deutschen tief verwurzeltes Härtedenken, nur Härte führt zum Leistungszuwachs, Härte gegen sich selbst und gegen den eigenen inneren Schweinehund. Dieses Härtedenken sehe ich als kontraphobische Reaktion bzw. als Abwehrstrategie gegen die Angste vor dem Mißerfolg, ähnlich dem Männlichkeitsideal als Reaktionsbildung auf Ängste, Ohnmachtsgefühle und Hilflosigkeit, z.B. in der Zigarettenwerbung vielfach dargestellt.

Ein deut­scher Spitzentriathlet meinte auf einem Triathlonsymposium: ,,Einen Spitzentriathleten unterscheide vielleicht von einem genauso Trainierten und Talentierten, daß er auch mal, wenn er sich nicht so gut fühle, einen Tag aussetzen könne. Damit meine ich nicht, daß es nicht mal sinnvoll ist trotz Unlust sich aufzuraffen aber dann locker! Oft kommt die Freude dann wieder. Auch meine ich mit der Betrachtung der persönlichen Befindlichkeit nicht ein hypochondrisch-ängstliches Hineinhorchen in den eigenen Körper mit einer überdimensionalen Wahrnehmung von Schmerzen und Schmerzchen. Dies stellt eine Kehrseite des Härtedenkens dar bzw. eine Projektion der Ängste auf den eigenen Körper. Aufgrund des Härtedenkens haben viele Menschen nicht gelernt, sich selbst, ihren Körper und ihre Psyche zu beachten, sondern bewegen sich nach bestimmten Vorstellungen. Wenn die Vorzeichen nicht wahrgenommen werden, kann ein so unbeachteter Körper sozusagen aus heiterem Himmel, der vorher gar nicht so heiter war, zuschlagen. "lch war doch so locker, die anderen machen das doch auch‘. Jedoch ist die Wahrnehmung der Befindlichkeit trainierbar. Dazu gehört, daß das Härtedenken zu einer unzureichenden Beachtung der 2. Trainingskomponente, der Regeneration führt. Das Training besteht nämlich, das sollte man sich immer wieder vor Augen führen, aus dem Wechsel von Belastung und Regeneration. Die Folgen sind oben beschrieben.

Eine vielgeübte Reaktionsbildung auf die Angst vor dem Mißerfolg ist ein hartes Training bis kurz vor dem Wettkampf, so daß der Sportler völlig unregeneriert antritt und sozusagen im Sinne einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung durch sein Handeln versagt bzw. nicht die nach den Trainingsleistungen erwartete Leistung erbringt. Nach meinen Erfahrungen steckt diese Angst vor dem Formverlust in vielen tief drin, und ist von der Umgebung gut wahrnehmbar, jedoch vom Sportler selbst nicht nachvollziehbar. Trainingsweltmeister machen trotz aller Vorhaltungen immer wieder dieselben Fehler.

Harald Schmid beharrte auf einem Kongreß aufgrund eigener Erfahrungen sogar auf der Auflassung, daß bei guten Trainingsvoraussetzungen l4tägige Bettruhe nicht zu Formverlust führe. Er benannte diese Angst ebenfalls als seinen vermuteten Hintergrund für die Tatsache, daß viele Wettkämpfer bis kurz vor dem Wettbewerb zu hart trainieren. Diese Auffassung wurde von den versammelten Arzten mit keinem Wort aufgenommen — ein Hin­weis, wieweit psychische Faktoren tabuisiert sind — bei der gleichzeitigen Auffassung der immensen Rolle im Sportgeschehen.

Zu Erklärung von Ängsten und Leistungsdenken möchte ich außer auf kulturelle mythische Aspekte auch auf individuelle entwicklungs-psychologische Aspekte zurückgreifen. Angstlichkeit, Sorgen und Warnungen, vor allem je inkonkreter und diffuser, der Primärbezugspersonen, das heißt die in der Kindheit am meisten anwesenden und somit bilder prägende Personen, werden aufgenommen und, da sie auf eine noch nicht reflexionsfähige Person treffen, unreflektiert übernommen. Solange sie nicht einer Realitätsprüfung unterzogen sind, d.h. sich im Kopf nicht richtig klar gemacht worden sind als Phantasien und Angste, schwingen sie im späteren Leben mit und wirken sich auf das Nerven- und Organ-system aus, oder kommen z.B. in hypochondrischen Angsten zum Ausdruck. Weiterhin ist eine kontraphobische Reaktionsbildung typisch — es handelt sich ja nicht um eigene Ängste — sozusagen erst recht das Gegenteil zu beweisen, so daß in diesem Leistungsbeweis die eigenen körperlichen und psychischen Grenzen nicht mehr wahrgenommen und überschritten werden. Für die medizinischen Folgen werden die Ärzte aufgesucht, die jedoch aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Ausbildung wenig von den psychischen und sozialpsychologischen Ursachen verstehen — und dafür auch nicht aufgesucht werden bzw. keinen Behandlungsauftrag erhalten.

Abschließend möchte ich für den im Angstdenken, wenn auch meist in verleugneter Form, und als Reaktionsbildung im Erfolgsdenken. im Kopf Trainierten ein mentales Training empfehlen. Ich möchte auf die Notwendigkeit hinweisen, daß Training überwiegend locker und mit Freude zu gestalten, die Erfolgsziele nicht zu hoch anzusetzen, die Befindlichkeit zu überprüfen, sich ausreichend Regeneration einzuräumen, somit einer Entfaltung des optimalen Leistungspotentials im Einklang mit psychophysischem und sozialen Wohlbefinden.