Bernd Holstiege

Psychosoziale Hintergründe beim Leistungsversagen

1. Einleitung<

 

Mit psychischen Zusammenhängen, d. h. den Vorgängen im Innenleben des Einzelnen, den Vor- bzw. Einstellungen, den Denkinhalten und -schemata, den Phantasien und den damit verbundenen Folgezuständen emotionaler Art, die jenach Bewertung Freude, Stolz, Ärger, Angst, Scham oder Ekel sein können, beschäftigen sich Sportler und Ärzte höchst ungern, soweit ess ich um deren negative Seiten wie Krankheiten und Versagen handelt. Die positiven Seiten, die von sportlichen Erfolgen ausgelösten Stimmungen stellen dagegen für den Sportler einen besonderen Reiz dar, und auch für Ärzte können Erfolge ,ihrerSportler überidentifikatorische Vorgänge positive Seiten haben. Im Gegensatz zu diesem individuellen, psychischen Geschehen ist unter ,,psychosozialdas zwischenmenschliche Geschehen zu verstehen, die Beeinflussungen der Psyche des Sportlers durch seine Umgebung, durch Trainer, Familie, Medien  und die Rückwirkungen des Sportlers auf seine Umgebung.

 

 2. Die ,,Machtder Phantasie

 

Im Sinne eines pragmatischen Vorgehens sind die Begriffe "Phantasie“ und ,,Realität" zu unterscheiden, wobei die Macht der Phantasie als Beeinflussung und Veränderung der Realität an einigen Beispielen verdeutlicht werden kann.

 Wenn sich eineMannschaft, die an der Spitze der Tabelle steht, von der Phantasie ,,Alle gegen einen, leiten läßt", verzagt  sie gegenüber der Übermacht der Gegner und spielt ängstlich und verkrampft, während die Realisierung der Realität ,,Einer nach dem anderenZuversicht und Spielstärke schafft (Grau, Kiel: Demonstration und persönliche Mitteilung auf dem Kongreß ,,Sportpsychologie und Medien im Gespräch“, Bad Orb 1987 ). Hintereinander sind die Gegner schlagbar, alle auf einmal aber nicht.

 Eine der besten deutschen Radfahrerinnen hörte kürzlich auf, weil sie es leid war, sich vor jedem Rennen verrückt zu machen, wohl aus Angst vor ihrem Leistungsanspruch, unbeding zu gewinnen, und der phantasierten Übermacht ihrer Gegnerinnen. Hätte sie sich locker an sich selbst und ihren Möglichkeiten orientiert, könnte sie voraussichtlich über Jahre weiterhin gewinnen.

 Eine deutsche Spitzentriathletin trainierte beinhart ihre Schwäche das Laufen und war infolge des Überziehens verletzt. Bei meiner im persönlichen Gespräch erfolgenden Beschreibung eines regenerativen, lockeren Lauftrainings im 5- bis 6-Minuten-Tempo pro Kilometer schaute sie mich entsetzt mit den Worten an ,,Ich bin doch Leistungssportlerin!“.

Ein Trainingsfreund, der als Jugendlicher Radrennen fuhr, berichtete mir, sie seien von ihrem Trainer zum Kurbeln in harten Gängen ( Kette rechts) angehalten worden. Im Rennen selber hätten sie dann aber nichts mehr zuzusetzen gehabt. Jetzt schwört er auf das überwiegend hochfrequente Fahren. Er wollte dieses Jahr unter die 10 besten deutschen Triathleten vorstoßen. Leider ist er verletzt - vielleicht auch aufgrund zu hoch gesteckter Leistungsziele.

 3. Sich selbsterfüllende Prophezeiungen

 Leistungssportler zeichnen sich durch typische Denk- und Verhaltensweisen aus, die als Realitäten behandelt  werden und durch die gedachte Handlungsweisen im Sinne einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung Realität werden.

Oft wird zuwenig gesehen, daß das Training aus zwei Komponenten besteht, der Anspannung und der Regeneration. Das linear – kausale Denken, nur hartes, umfangreiches Training führe zum Leistungszuwachs, hat leicht zum einen eine körperliche Überbelastung des orthopädischen Apparates und Verletzungen, zum anderen auf Dauer auch eine psychische Überbelastung ( Streß, Quälerei) mit Unlust und Demotivation zur Folge. Wenn dann keine Erholung gestattet wird, oft aus der Phantasie, nur Härte gegen sich selbst, führe weiter, entsteht eine oft uneingestandene Angst vor jeder Trainingseinheit. GeradeMenschen mitausgeprägtem Härte- und Leistungsdenken können sich ihre Ängste wenig eingestehen und sind dann den Folgen hilflos ausgeliefert. Übermäßige Angst führt zu Verspannung und Verkrampfung und teils über eine Mitinnervation der antagonistischen Muskulatur zu vermehrter orthopädischerBelastung. Es spielt sich so ein ,,circulus vitiosusein.

 Wenn nun ärztlicherseits usschließlich die körperlichen Beschwerden medikamentös behandelt werden - bis hin zum Fitspritzen -, dann werden die Auswüchse und Folgen dieses einseitigen Denkens behandelt, aber die Einstellung insgesamt nicht in Frage gestellt und somit gefördert, eine Illusion in die Möglichkeiten der Medizin genährt und Abhängigkeiten erzeugt. Dieser Kreislauf zwischen Leistungsstress, Schmerz und Behandlungen kann weitreichende gesundheitliche Folgen haben (Extrembeispiel Birgit Dressel). Solch einseitig verstandenerLeistungssport berechtigt zur Aussage ,,Sport ist Mord“, wobei von Manchen sämtliche sportliche Betätigung in diesen Topf geworfen wird und Ängste bzw. Ausreden bezüglich sämtlichen Sports geschaffen werden.

 Die andere oft gehörte ärztliche Reaktion ,,4 Wochen aussetzen“, die noch dem alten Schonungsdenken verhaftet ist, kann auch nicht angenommen werden. Es herrscht dann die Phantasie ,,Alles umsonst" beim Athleten vor. Ich halte das längerfristige Aussetzen bei den meisten Verletzungen für unnötig. Nach meinen Erfahrungen lassen sich Verletzungen mit leichter und lockerer Belastung bis zur erträglichen Schmerzgrenze am schnellsten überwinden - bei einigermaßener Erhaltung der Form.

 

4. Die Angst vor dem Formverlust

Weiterhin erscheint mir vor Wettkämpfen die Angst vor dem Formverlust eine gravierende Rolle zu spielen, so daß dann bis kurz vor dem Wettkampf zu hart und zu umfangreich trainiert wird und infolge mangelnder Regeneration sich diese Angst bestätigt. Harald Schmid hob diese Angst auf einem Sportärztekongreß hervor und vertrat sogar ernsthaft den Standpunkt, daß bei guten Trainingsvoraussetzungen sogar 14-tägige Bettruhe nicht zu Formverlust führe. Diese Angst wurde von den Kongreßteilnehmern mit keinem Wort aufgenommen. Sie taucht jedoch bei mir selbst immer wieder hartnäckig auf, und ich muß mir jedesmal die Realitäten vor Augen führen.

 

5. Entwicklungspsychologische Aspekte

Zur Erklärung von Ängsten und Leistungsdenken möchte ich auf entwicklungspsychologische Aspekte zurück greifen. Angstlichkeit, Sorgen und Warnungen in den verschiedensten Bereichen der Primärbezugspersonen, d. h. der in der Kindheit am meisten anwesenden und somit bilder prägenden Personen, werden aufgenommen und, da sie auf eine noch nicht reflexionsfähige Person treffen, übernommen. Solange sie nicht einer Realitätspriifung unterzogen werden, schwingen sie im späteren Leben mit und wirken sich auf das Nerven- und Organsystem aus oder kommen z. B. in hypochondrischen Ängsten zum Ausdruck. Davon weiß sicher jeder Arzt ein Lied zu singen, wenn ein Patient auf eine schmerzende Stelle verweist, kein Befund zu erheben ist und die Befürchtung oft in abstruser Form das tragende Element ist. Weiterhin ist eine kontraphobische Reaktion typisch - es handelt sich ja ursprünglich nicht um eigene, sondern von den Primärpersonen übernommene Ängste - sozusagen  erst recht das Gegenteil und die Unbegründetheit der Ängste zu beweisen, so daß in diesem Leistungsbeweis die eigenen körperlichen und psychischen Grenzen nicht mehr wahrgenommen und überschritten werden. Bei ungünstigen Konstellationen scheint mir die frühkindliche, zwangsläufige Situation des völligen Ausgeliefertseins an und der Prägung durch die Bezugspersonen das größte menschliche Trauma zu sein. Kompensatorisch werden Größenphantasien, -ziele und -ideale eingesetzt, wozu sich die Mythenbildung im Leistungssport besonders eignet, die als Maßstab dienen und deren zwangsläufige Enttäuschung bzw. der Fall gleichzeitig gefürchtet wird (Ikarossyndrom, Sätze wie "Kann nicht gut gehen‘, ,,Hochmut kommt vor den Fall".

 Ein mir befreundeter Läufer, der in Trainingsläufen zu hohen Erwartungen Anlaß gibt, warnt mich und offenbar auch sich selber vor dem, was nicht gut gehen könne, und beendet alle Wettkämpfe wegen Magen- und Darmproblemen mit enttäuschenden Ergebnissen. Infolge seiner Negativprophezeiungen fehlt die Umsetzbarkeit seiner athletischen Voraussetzungen.

 Angstmache z. B. vor dem Laufen macht auch vor Medizinern nicht halt. Anläßlich des letzten Trierer Halbmarathons warnte ein Orthopäde bei einer Podiumsdiskussion vor den Gefahren des Langstreckenlaufens. Er empfahl eine gründliche sportmedizinische Untersuchung von einem erfahrenen Sportarzt und eine anfängliche Begleitung durch einen erfahrenen Läufer. Danach muß Laufen eine gefährliche Sache sein, und die Angst läuft mit.

 Je perfekter die Wettkampfvorbereitung im Training, je besser das Umfeld wie Schlaf, Ernährung und Betreuung stimmt, je mehr sich das Gefühl „alles getan zu haben‘ einstellt, desto mehr wird durch diese Handlungsweisen die Berechtigung von Ängsten bestätigt und das Leistungsziel erhöht. Die Angst vor der Enttäuschung und die Vorstellung eines Versagens implizieren dann das Versagen. Eine gewisse Unbekümmertheit ist dagegen leistungsförderlicher.

 Vor allem bei jugendlichen und talentierten Anfängern impliziert das Hochjubeln nach Ersterfolgen ein Versagen, weil der Druck der eigenen Erwartungen und der der Umgebung zu Verkrampfungen führt. Ebenso, wenn jemand in hochfliegenden Phantasien den Mund zu voll nimmt und unter Druck gerät, seine Vorhersagen zu erfüllen.

 Von immenser leistungsfördernder oder -behindernder Bedeutung ist die Einstellung der Umgebung. Wenn jede Trainingseinheit im Extremfall den Fortbestand der Partnerschaft gefährdet, legt sich dies zwangsläufig als Belastung auf die Sportausübung. Ich weiß von mir, wie ich bei Partnerschaftskonflikten schon Wochen vor einem geplanten Marathon im Halbschlaf die Zwischenzeiten durchging, nicht zur Ruhe kam und dabei dachte, ,,Oh je, wo soll das noch hinführen?“. Die Erkenntnis der Zusammenhänge brachte mich wieder mehr zur Ruhe.

 

6. Die Anpassung der Leistungsziele: Optimierung statt Maximierung

Als Folgerung plädiere ich dafür, das Leistungsziel an den gegenwärtigen körperlichen und psychischen Möglichkeiten anzusetzen und nicht an einer Topzeit oder einem Sieg. Damit macht man sich nur übermäßig verrückt und das Leben schwer, obwohl dies bei unserem gesellschaftlichen Leistungsdenken immer wieder eines guten Zuredens bedarf. Dazu möchte ich die Begriffe Leistungsoptimierung = Leistung im Einklang mit körperlichem, psychischem und sozialem Wohlbefinden und als Gegensatz Leistungsmaximierung = Leistung ohne Rücksicht auf diese Parameter einführen.

Das Triathlontraining ist zeitaufwendig, und deshalb ist es notwendig, daß das Ziel der Tätigkeit dort steht, wo die meiste Zeit verbracht wird, nämlich im Training selbst, in der Freude an der körperlichen Betätigung und möglichst auch in der zwischenmenschlichen Kommunikation, dem Gedankenaustausch mit mittrainierenden Freunden während des Trainings. Anders ausgedrückt, wie bei einer Wanderung sollte der Weg das Ziel sein, nicht die Bergspitze oder die Kneipe am Ende. Letztere können Nebenziele sein, ähnlich wie die Leistung im Wettkampf oder der Erfolg. Deswegen ist es notwendig, das Training überwiegend mit Freude zu gestalten und nicht knallhart, obwohl dies auch Freude bereiten kann, oder selbstquälerisch. Dann wird das Training zum Streß, und Streß ist bekanntlich gesundheitsschädlich. Ich möchte ein anderes bild anbieten. Wer sein Leistungsmaximum frühzeitig erreicht, kann sich nur noch nach Bestätigung strecken, oder es geht abwärts. Unterhalb der Leistungsgrenze geht es eher aufwärts.

 Ich möchte zu triathlonspezifischen Schwierigkeiten bei der Umstellung von einer Disziplin zur anderen kommen, inwieweit sich aus den Einzeldisziplinen vertraute Einstellungen als Hindernis in anderen Disziplinen erweisen. Schwimmer und Radfahrer bringen eine gute allgemeine Organkraft mit, so daß zügiges Laufen oft möglich ist. Außerdem sind sie kurzfristige Kämpfe auf Biegen und Brechen gewöhnt. Ihre Orthopädie ist jedoch noch nicht genügend angepaßt, so daß der gewohnte Trainingsstil schnell zu Überbelastungen führen kann. Zumindest anfänglich lockeres Laufen bis zur Anpassung der Otrthopädie wäre angesagt.

 Ich selbst glaubte als Langstreckenläufer und einigermaßen geübter Brustschwimmer nach schnellen Fortschritten im Radfahren, mich im Kraulstil schnell verbessern zu können. Dabei ließ ich mir nicht genügend Zeit zur Eingewöhnung und zum Stiltraining und war nur auf Schnelligkeit aus, japste nach Luft, hatte Angst, Wasser zu schlucken und verkrampfte völlig. Letztlich dauerte die Eingewöhnung dadurch wesentlich länger, und ich habe erst im vierten Jahr deutliche Fortschritte gemacht.

 

7. Empfehlungen

Abschließend und als Folgerung aus dem Dargestellten möchte ich Empfehlungen über den Umgang mit sich selbst und den eigenen Phantasien und Reaktionen aussprechen. Der Versuch des Selbstvertrauens in den eigenen Körper und die eigenen Trainingsvoraussetzungen mit aktiver Regeneration vor Wettkämpfen und das Hineinhorchen in den eigenen Körper - im Unterschied zur ängstlichen hypochondrischen Selbstbeobachtung - schafft vor allem auf eine längere Zeitdauer hin gesehen bessere Ergebnisse. Klaus Klaeren meinte auf dem Hanauer Symposium 1986: ,,Spitzentriathleten unterscheiden sich vielleicht von einem genauso Trainierten und Talentierten, daß sie auch mal einen Tag, wenn sie sich nicht so wohl fühlen, im Training aussetzen können.“ Der Versuch des gelassenen Abwartens kann vor allem im Ultraausdauerbereich sehr hilfreich sein, d. h. eigene Körpereindrücke erstmals als Phantasien und Eindrücke zu nehmen, Wenn ich mich während mancher Wettkämpfen nach meiner augenblicklichen Befindlichkeit und meinen Phantasien gerichtet hätte (z. B. beim 100km-Lauf: ,,Schon nach 20 km harte Beine und jetzt noch 80 km, wie soll das werden?‘) und nicht einfach locker weitergemacht hätte, wäre manches ausgezeichnete Ergebnis nicht zustande gekommen. Von Dave Scott habe ich gehört, daß er sich bemüht, nicht an die Länge des Wettkampfes in Hawaii zu denken, sondern fortwährend locker zu bleiben. Allerdings, der kleine Unterschied in der Nuance ,,Nur ja nicht daran denken!“ beinhaltet schon die vermehrte Angstspannung, während der Gedanke ,,Mal probieren, mal sehen!‘ Lockerung beinhaltet. Von ,,Versuch“ spreche ich deshalb, weil dies oft nicht so einfach ist, und die Gedanken mit den entsprechenden Körperreaktionen erst mal vorhanden sind.

 Unter Beachtung der zweiten Trainingskomponente der Regeneration, dem Versuch einer Leistungsoptimierung statt -maximierung und Setzung nicht zu hoher und auf Biegen und Brechen zu erreichender Ziele kann Triathlon verletzungsfrei in jedem Alter mit Freude ausgeübt werden, wofür es sich meines Erachtens wie keine andere Sportart eignet.