Ein Aufsatz aus dem Jahre 96

 

 

Pantha rhei - Gnothi s`auton

 

(das sollte vielleicht der Titel eines Buches sein, wenn ich jemals dazu komme.)

 

Untertitel:  Über das Göttliche und Menschliche im Alltäglichen und Fluß des Lebens

 

 

Einleitung

 

Pantha rhei - gnothi s'auton“- aus dem Altgriechischen übersetzt, bedeutet "alles fließt" und "erkenne dich selbst". "Alles fließt" stammt aus der Philosophie von Heraklit. Von ihm stammt auch der Satz "es ist nicht möglich, zweimal in denselben Fluß zu steigen". Der Fluß fließt weiter und ist nicht mehr derselbe. Gnothi s'auton ist eine Inschrift über dem Eingang des Apollotempels in Athen. Gemeint ist, erkenne dich selbst als Mensch und nicht als Gott. Dies sollte eine Mahnung sein, weil schon damals das menschliche Problem bekannt war, in sich das Göttliche zu erkennen und nicht das Menschliche, den Menschen in seinen Möglichkeiten, aber auch Schwächen und Grenzen. Zum Göttlichen rechne ich u. a. die Einzigartigkeit, Erhabenheit, das Ewige und Unvergängliche, das Absolute und Totalitäre, das Ideale, Unfehlbare und Heroische, die Allwissenheit, Allmacht oder Omnipotenz. Die Griechen prägten dafür, falls der Mensch sich nicht in seiner Menschlichkeit bescheidet und sich Gott gleichsetzt, den Begriff Hybris, zu deutsch Frevel. Und Hybris wurde in ihren Mythen bestraft. Weil mir schon früher, weniger reflektiert, die Bedeutung dieser Sätze klar war, habe ich sie vielleicht als fast einziges aus meinem Griechischunterricht in Erinnerung.

Erkenne dich selbst - darunter verstehe ich den Menschen in seinen Grenzen. Und zwar die Grenzen nach oben und unten, nach rechts und links zu den anderen Menschen, also den zwischenmenschlichen Grenzen. Nach oben bedeutet die Göttlichkeit, nach unter so etwas wie die Minderwertigkeit, der aber göttliche Maßstäbe zugrunde liegen. Ansonsten wäre kein minderwertiger Wert zuzuerkennen. Der Mensch würde sich achten und anerkennen wie er ist. Unter zwischenmenschlichen Grenzen verstehe ich, sich selbst in den Anderen und die Anderen in sich selbst zu sehen. Dadurch wird der Mensch zu einem grenzenlosen, allumfassenden, zumindest sein nahes Umfeld umfassendes, oder göttlichen Wesen.

Sicher ist der Mensch nicht nur er selbst, unbeeinflußt von einer Umwelt und den Mitmenschen. Er ist ein Produkt seines Umfeldes, seiner Erziehung und seiner Prägungen und wird im weiteren Leben weiter geprägt. Es kommt mehr auf das Maß und den Grad seiner Entwertung und Erhabenheit und seiner zwischenmenschlichen Entgrenzung an.

            

            Ich verband diese Sätze miteinander, weil ich die Selbsterkenntnis und Selbstwahrnehmung - was ist an mir selbst und der Welt wahr, beziehungsweise Wahrheit? - im Fluß des Lebens, der Vielfältigkeit, Wechselhaftigkeit, den Unterschieden, den Unwägbarkeiten, der Veränderlichkeit und Vergänglichkeit, dem Hin und Her, dem Auf und Ab für ein ureigenes menschliches Problem halte. - Dazu als Vignette die Aussage eines höheren Wirtschaftsmanagers: "In Wirtschaft und Industrie wird das Auf und Ab gerade noch toleriert, aber das Hin und Her, der Zickzackkurs, ist zutiefst verpönt, obwohl überall gang und gäbe". - Dazu gehört die Subjektivität der Wahrnehmung, nämlich daß ein Mensch nur mit seinen Augen die Welt wahrnehmen kann, diese also für jeden Menschen unterschiedlich ist. Für den Menschen gibt es keine absolut identische Wahrnehmung. Leicht ist dies zu beweisen: Wenn verschiedene Menschen ein Bild beschreiben, gibt es bei allen Gemeinsamkeiten genauso viele verschiedene Beschreibungen wie Beschreibende. Da der Mensch auf einen zwischenmenschlichen Kontext angewiesen ist, ist diese subjektive und individuelle Wahrnehmung je nach inneren Aussagen, Stimmung, Zeitpunkt und vor allem den Aussagen anderer, die die eigene Aussage beeinflussen, veränderbar.

Den Grund der Nichtwahrnehmung der Wechselhaftigkeit und Veränderbarkeit und mangelnden Grenzen sehe ich in der Traumatisierung des Menschen, in der existentiellen Bedrohung, in der alle Grenzen verloren gehen und viele Menschen in ihrem Innenleben und ihrer Wahrnehmung vom Absoluten, Gleichbleibenden, Ewigen und Unvergänglichen ausgehen, das man auch das Göttliche nennen könnte. Das ist der Maßstab ihre Lebens und ihr Weltbild. Im ideologischen, politischen und religiösen Sinne spricht man von Fundamentalismus. Ich nenne es das Absolute Weltbild.

Zum absoluten Weltbild gehört meines Erachtens das Spaltungsweltbild. Bei der Wahrnehmung von Veränderungen und Unterschieden müssen diese in entweder - oder, richtig - falsch, gut und böse, Gott und Teufel aufgespalten werden. Das Ziel ist, das Absolute aufrecht zu erhalten. Dabei geht der Zusammenhang zwischen den Polen der gespaltenen Teile verloren. Die Folge ist eine Unvereinbarkeit und Ausschließlichkeit.

 Veränderungen können nur wahrgenommen und akzeptiert werden, wenn in ihnen nichts katastrophal Bedrohliches zu fürchten ist. Also stellt das  Absolute den Versuch eines Schutzes vor zukünftigen, Bedrohungen bis zu existentiellen Ausmaßen dar, daher auch die Faszination der einen und einzigen Wahrheit, etwa in Religionen und objektivierenden Wissenschaften. Bei Religionen wird besonders deutlich: Viele glauben, die eine und einzige Wahrheit gepachtet zu haben. Da es aber nicht verschiedene absolute Wahrheiten geben kann, ist die Wahrheit unvereinbar. Um etwas als bedrohlich einzustufen und wahrzunehmen, muß eine Erfahrung als Maßstab zugrunde liegen, z.B. bei der Todesangst der Maßstab, daß der Tod etwas bedrohliches ist. Maßstäbe und Voraussetzungen sind die Folge früherer bedrohlicher und schmerzhafter Erfahrungen, oft früherer Generationen, die im Erfahrungsschatz von Generation zu Generation weiter gegeben werden. Die Erfahrungen und durch die Bewertungen und Bedeutungen dessen Mythos der Vergangenheit werden zur Zukunftsvision. Anders ausgedrückt, im Lichte der Vergangenheit wird die Gegenwart erlebt und die Zukunft gestaltet. Es geht im absoluten Weltbild also um die Vermeidung einer bedrohlichen Zukunftsdimension.

 

Die absolute Weltanschauung entsteht meines Erachtens unter 3 Bedingungen, die sich gegenseitig ergänzen und bedingen können:

 

1. durch frühkindliche schmerzhafte Erfahrungen bzw. Traumatisierungen, die je nach Intensität und Schwere weitere Reifungsschritte der Differenzierung und Integration behindern oder unmöglich machen,

2. durch spätere Schwersttraumata, wie (Natur)Katastrophen, Kriege, Vertreibungen, Folter, Todesfälle und bedrohlich Erkrankungen vital wichtiger Bezugspersonen, auch eigene bedrohliche Erkrankungen, die wie ein Keil in die menschliche Psyche hineinfahren, und sein menschliches Fassungsvermögen, seine Verarbeitungsmöglichkeiten übersteigen. Sie sind emotional unfaßbar.

und      3. durch die Verinnerlichung der bedrohlichen Weltbilder früherer Generationen.

 

Der Verlust des Erfassens von Unterschieden, der Differenzierungen und deren Integration entspricht frühen Stadien der menschlichen Reifung. Das absolute oder göttliche Weltbild ist also eine frühe und unreife Stufe des menschlichen Geistes. Durch frühkindliche Traumatisierungen können erst gar nicht Reifungsschritte der Differenzierung und Integration erfolgen bzw. durch spätere Traumatisierungen kann ein Rückfall auf die frühere Stufe erfolgen.

 

Das absolute und Spaltungsweltbild betrifft jedoch bei den meisten Menschen nur Teilbereiche der menschlichen Persönlichkeit und zwar vor allem massiv bedrohliche Konfliktbereiche und das tiefere und vielfach unbewußte Innenleben, d.h. das Absolute spielt sich auf tieferen Ebenen oder in tiefen Schichten ab, während auf oberflächlicheren Ebenen jemand durchaus differenziert und integriert funktionieren kann. Z.B. können Eltern ihre Kinder in Nichtkonfliktbereichen durchaus gewähren lassen, während in bedrohlichen Bereichen diese absolut gehorchen müssen. Ich spreche gerne von Hirnrinde als die oberflächliche Schicht und Hirnstamm als die tieferen, automatischen, reflexartigen und vegetativen Schichten, die vielfach der oberflächlichen Wahrnehmung durch eine horizontale Spaltung entzogen sind.

Meiner Ansicht sind viele menschliche Konflikte, Leiden und viele Krankheiten auf diese menschliche Schwierigkeit zurückzuführen. Etwa wird beim unversöhnlichen Streit in der Subjektivät um die Objektivität und das Absolute, das absolute Rechthaben "es ist so" und nicht "es ist für mich so" gestritten, ein endloser Kampf um Sieg und Niederlage. Der Sieger muß die nächste Niederlage fürchten, und der Unterlegene zum narzißtischen Ausgleich um den nächsten Sieg kämpfen. Viele kämpfen lebenslang für das Gute und Richtige und müssen das Böse und Falsche vermeiden und fürchten, ein lebenslanger Streß, der zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit führt. Die Krankheit entsteht dabei durch die innere Spannung und Zerrissenheit zwischen den unvereinbaren Polen.

 

Wahrscheinlich ist deswegen das Buch von Dale Carnegie "Sorge Dich nicht, lebe!" so lange ein Bestseller, weil die meisten Menschen vor lauter Sorgen und Verhinderungsstrategien nicht zu einem ruhigen, ausgeglichenen und selbstbestimmten Leben kommen. Ihr Leben sind die Sorgen und deren Verhinderung. In weniger von Kriegen und Naturkatastrophen bedrohten Zeiten geht es meist um narzißtische Bedrohungen, der Entwertung in Sünde, Schuld, Schande, Blamage und Verachtung.   

 

Daß alles fließt, dieser Meinung bin ich jedoch nicht. Gerade dadurch, daß ich diese uralten Sätze im griechischen Text als Thema und Überschrift nahm, und nicht die deutsche Übersetzung, möchte ich darauf hinweisen, wie sehr der Mensch über die Jahrtausende hinweg sich gleich und treu geblieben ist, also auf seine unveränderte und gleichbleibend fortbestehende Problematik.                Als weiteren Hinweis, vielleicht sogar Beweis, möchte ich uralte Mythen, Märchen und Fabeln, vor allem wenn ich Religionen und Religionsinhalte als Mythen auffasse, in ihrer Übersetzung auf die heutige Aktualität hinzuziehen. Sie haben ihre Gültigkeit unverändert bewahrt und sind so gültig wie zu Urzeiten, als sie geschaffen und in Personen, deren Verhalten, ihre Beziehungen untereinander und in Bewertungen und Bedeutungen gekleidet wurden. Die Mythen und Religionen sagen etwas über die tieferen Schichten des menschlichen Geistes aus. Der Versuch der Übersetzung von Mythen auf den heutigen Alltag ist meiner Ansicht nach eine Fundgrube alltäglicher, vielfach nicht wahrgenommener, unreflektierter und unbewußter Realitäten.

 

Wenn auch, wie meine Ausführungen zeigen werden, die Selbsterkenntnis bei vielen Menschen massiv gestört ist, sodaß man von Seelenmord sprechen und bei der Betrachtung von Ursachen von seelischem Mißbrauch sprechen könnte, möchte ich keinerlei Schuldvorwurf, etwa an die Adresse der Mütter, aussprechen. Ich möchte nicht die Suche nach dem Schuldigen fortsetzen. In den Kulturen ist es so, daß wenn an einer Sache, an der mehrere beteiligt sind, etwas schief geht, zuerst die Schuld an einem oder mehreren fest gemacht wird.  Die Kulturen und die Menschen in ihnen sind halt so, daß meist die Suche nach dem Schuldigen seit Urzeiten vorrangig ist, und sie handeln nach ihren inneren Bedingungen.  Die Schuldsuche dient meiner Ansicht nach der Abwehr und zur Entlastung der Scham. Leider, besser noch tragischerweise entstehen massive inner- und zwischenmenschliche, vielfach unlösbare Konflikte, die zu zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen bis zu Kriegen und zu Krankheit und Tod führen können.

 

Aufgabe und Ziel

 

Mein Vorgehen möchte ich beschreiben, daß ich versuche, nach einem Einstieg über Mythen und über allgemeine, in meinen Augen gesetzmäßigen Ausführungen die Art der Bedrohungen darzustellen, dann die Abwehrmechanismen auf der Ebene der im Grunde seelenlosen Mechanismen und Automatismen und deren Folgen, die die Selbsterkenntnis und den Fluß des Lebens massiv stören. Dann komme ich zur persönlichen und individuellen Genese und Erziehung, der zwischenmenschlichen Einbeziehung von Bedrohung und Abwehr.

Als Arzt interessieren mich besonders die Krankheitsfolgen der Störungen des Lebensflusses und der Wahrnehmungsprozesse. Zum Schluß wende ich mich den nachträglichen Korrekturmöglichkeiten z. B. im Rahmen einer Psychotherapie zu, da ich meine, daß die kulturelle und psychogenetische Determination nicht unausweichliches menschliches Schicksal bleiben und in jedem Falle in einer Sackgasse enden muß. Sämtliche Kapitel möchte ich mit Fallbeispielen und -vignetten veranschaulichen, belegen und würzen. Es ist nicht möglich, die Kapitel klar voneinander zu trennen, da die verschiedenen Seiten ineinander verflochten sind und sich gegenseitig beeinflussen. Ich will versuchen, jedes Kapitel in sich so abgeschlossen darzustellen, sodaß es möglich ist, je nach vordringlichem Interesse in einem späteren Kapitel anzufangen und nicht nötig sein soll, in meiner vorgegebenen Reihenfolge zu lesen. Meine Literaturhinweise und -belege sehe ich selbst bisher als ziemlich dürftig an, da ich oft nicht weiß, wann und wo ich etwas gelesen habe und wodurch es für mich als relevant in meinen Kopf und meine Erkenntnis eingegangen ist. Im Moment ist mir auch der wissenschaftliche Charakter nicht so wichtig.

Zum Einstieg möchte ich die Mythen auswählen, die mir persönlich aus meinem begrenzten Mythenschatz in meiner täglichen Arbeit und im Angesicht der menschlichen Probleme immer wieder einfallen. Dazu gehören manch deutsche Märchen, aus dem griechischen Mythos die Tragik des Sisyphus, die Geschichte von Dädalus und Ikarus, die Ödipussage, dort besonders das Rätsel der Sphinx, das Orakel von Delphi und dessen Folge, der Mordversuch am Sohn, Vatermord, Heirat Mutter und Sohn und die Blendung des Ödipus, aus der Bibel die Schöpfungsgeschichte, die Heilige Familie und die Menschwerdung und Aufopferung Gottes. Von den moderneren Erzählungen bringe ich in Therapien als Analogie immer wieder Don Quichotte. In diesen Mythen sehe ich eine Fundgrube zentraler aktueller Szenen, Dramen und Tragödien. Zur Veranschaulichung im Alltag möchte ich die mir einfallende Übersetzungen dieser allbekannten Mythen und Märchen aus meiner jetzigen Sicht darstellen.

 

Mythen

 

Viele deutsche Märchen sind heute genauso aktuell wie zu Zeiten ihrer Erschaffung. Mir fallen immer wieder Dornröschen, Schneewittchen und Aschenputtel ein. Manche sprechen von einem Cindarellasyndrom. Aschenputtel, äußerlich und im Verhalten die Graue Maus, von der bösen Stiefmutter erniedrigt, so wie viele Menschen ihre Demütigung von außen kommend erleben, träumt von der Erlösung durch den Prinzen, entsprechend dem christlichen Mythos, einem Versprechen "wer sich erniedrigt, wird erhöht werden".

Dornröschen versteckt sich in einer Burg hinter Mauern und einer Dornenhecke und wartet auf die Erlösung, die sie in Gestalt eines Prinzen nach 100 Jahren zu sich läßt. Die Mauern und Dornen sehe ich als Symbol der vielfältigen widersprüchlichen Wünsche und Ängste, die einen zerreißen lassen. Wie viele warten nicht nur passiv auf ihr Glück, sondern tun alles, bauen Mauern und Dornen um sich auf, um es zu verhindern. Gerade aus dem Unglück entspringt der Wunsch nach Glück, und wenn im Unglück noch dazu so viel geschafft wird, erwächst der Anspruch und das Recht auf Glück. Warum? - mag sich mancher fragen. Ich denke, weil das Glück nicht ihrer Weltanschauung entspricht, ihnen in ihren Augen nicht zusteht, sie kein Recht dazu besitzen, vor allem, wenn es ihren Umgebungbeziehungen - diese auch nicht glücklich sind, aber sich abquälen und oft genug das Glück vorspielen - nicht entspricht und sie dem christlichen Mythos des Irdischen Jammertales huldigen. Die Schuldgefühle und der Neid der Umgebung, im griechischen Mythos die Erynnien, würden sie einholen und das Glück zerstören. So kann eine Tochter nicht tanzen gehen, wenn die Mutter einen Herzanfall erleidet, den diese unweigerlich bekommt, wenn sie dies Ziel erreichen kann.

Schneewittchen ißt den vergifteten Apfel aus der Hand der Stiefmutter. Es muß die böse Stiefmutter sein, da ja Mütter in unserem Mythos nicht so böse sein können und dürfen, somit verschont werden und das Böse verschoben wird. Unter dem Gift verstehe ich die verinnerlichten Entwertungen, Ängste, Schuldgefühle, die Scham, Drohungen, Prophezeiungen, die eingeredet und vorgelebt wurden, einen selbsterfüllten Lebensweg unmöglich machen und in einen todesähnlichen Schlaf versetzen. Die Parallele zum Apfel im Paradies und dem Stigma der Erbsünde ist nahe liegend. Der Erlösungsmythos, oft in Gestalt eines Prinzen, einer Fee oder eines Zwerges, spielt in den deutschen Märchen ähnlich wie in er Bibel und in Religionen eine große Rolle. Schneewittchen beschreibt das Schicksal der kindlichen Prägungen – aus der Hand, eine noch größere Rolle spielen wohl der Mund, aus dem die bösen Worte quellen, und die Augen. Schwergestörte zeichnen in ihren Bildern meist die beherrschenden Augen. In anderen Kulturen ist das Auge des …? dargestellt.

Aschenputtel ist zu einem erniedrigenden Leben verurteilt und erhebt gerade durch die Erniedrigung den Anspruch auf Erhöhung und der Erlösung. "Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden" ist ein Bibelspruch, der auch in deutschen Märchen und im heutigen Alltag gelebt wird. Alle 3 Figuren gibt es heute häufig, der/diejenige, der sich verschanzt, der, der an den guten Gaben vergiftet wird, und der, der ein graues, selbsterniedrigtes Leben führt. Verschiedene Aspekte des Verhaltens, die zum Leiden führen, werden dargestellt. Wie in der Bibel sind die Erlöser Männer, allerdings eine Ebene unter der vollen männlichen Reifung und Herrschaft - warum nicht die Väter, Gottvater oder die Könige? Offenbar besteht gegenüber den Vätern Mißtrauen.

 

Im griechischen Mythos schwingt sich, auf der gemeinsamen Flucht aus dem Gefängnis mit seinem Ziehvater Dädalus, Ikarus in seinem jugendlichen Übermut allzusehr in die Höhe, nahe der Sonne schmelzen seine Flügel, und er stürzt ab. Ausnahmsweise wird dem Vater Dädalus Besonnenheit unterstellt. Diese Weissagung festgehalten in Sprüchen wie "Hochmut kommt vor den Fall, Bäume wachsen nicht in den Himmel, ... das kann nicht gut gehen" geben Eltern ihren Kindern häufig auf den Lebensweg, sodaß sich diese keinerlei Entfaltung, erfolgreiche Autonomieschritte zutrauen und/oder der Prophezeiung recht geben und versagen. Ich spreche gerne von einem Ikarussyndrom bei solchen, für die der Höhenflug der Maßstab ihre Lebens ist, die jedoch nicht daran glauben können, bei manchen beruflich und/oder sportlich Erfolgreichen, die sich überschätzen und ihren Absturz vorbereiten oder ihn immerwährend fürchten.

 

Sisyphus ist von den Göttern aufgrund früher begangener Missetaten verurteilt, vergeblich einen Felsen einen Berg hinaufzuwälzen, der ihm immer wieder entgleitet. Das vergebliche Ackern und Bemühen unter gewaltigen Anstrengungen ist das tragische Schicksal vieler Menschen. Wähnen sie sich an der Schwelle des Erfolges, entgleitet ihnen dieser immer wieder. Die Verurteilung der Götter sind die Verinnerlichung, das sich zu Eigen-Machen oder die Übernahme der Welttbilder von ihren Eltern und ihrer Kultur. Darin sind sie schicksalhaft ihr eigener Gott, die sie immer wieder scheitern lassen und ihren Lebensweg zu einer selbstauferlegten Qual werden lassen, dem irdischen Jammertal, das auf Erlösung harrt. Diese Qual ist oft genug auch die selbstauferlegte Strafe für in den eigenen Augen unrechtmäßig erworbenes Glück. Glück wird folglich mit Unglück bestraft.

Ein Mensch, der seine unendlichen Bemühungen scheitern sieht, wird sich im Leben betrogen, verbittert und verascht sehen. Er müht sich ab für ein Glück, das er nie erreicht. Die Bemühung allein, von der er sich etwas verspricht, ist für ihn wie ein Versprechen, auf das er gerade durch die Bemühung nicht verzichten kann. Anders ausgedrückt, er rennt mit dem Kopf gegen die Wand und beharrt auf der Erlösung. Er kann nicht einfach den Fels unten liegen lassen und seiner Wege gehen. Das vermeintliche Recht auf Glück schafft die masochistische Quälsucht. Ein dermaßen tragischer, quälerischer und vergeblicher Lebensweg schafft Hilfs- und Hoffnungslosigkeit, Erbitterung, die sich wie ein Krebsgeschwür körperlich ausdehnen kann, und zu Krankheiten prädestiniert. Schmidbauer spricht dann von Krankheit als Lebensweg. Der tiefere Sinn der Krankheitsfolgen darf natürlich nicht ihm selbst, der Umgebung, den Ärzten und der Wissenschaft offenbar werden. Er würde sich in einem Weltbild der Selbstverantwortung dem Selbstverschulden und der Lächerlichkeit preisgeben.

Dem nahe steht das Bild des Herkules am Scheidewege. Im absoluten Weltbild des entweder - oder und richtig oder falsch ist eine Entscheidung tatsächlich eine Heldentat, die oft genug ein Verharren auf der Stelle infolge einer Paniklähmung hervorruft. Für Außenstehende sieht diese Panik vor der falschen Entscheidung oft wie Bequemlichkeit, Faulheit aus.

 

 In der Ödipussage sieht Siegmund Freud und seine Nachfolger die Grundlage der Psychoanalyse. Der Terminus Ödipuskomplex hat sich im Volksmund festgesetzt. Der Sohn erschlägt den Vater, natürlich in Unkenntnis, anders wäre es zu frevelhaft, und in Erfüllung eines prophezeiten Schicksals. Auf den Alltag übersetzt wird in diesem Mythos die Rivalität zwischen Vater und Sohn angesprochen, die im Ödipuskomplex vom Sohn ausgehend gesehen wird. Er beneidet den Vater um seine Größe und Stärke und ist eifersüchtig vor allem auf die Gunst der Mutter, die er zu besitzen sucht, weswegen er den Vater aus dem Wege räumt.

Dem Vatermord in der Ödipussage war der versuchte Sohnesmord als Verhinderungsstrategie der Prophezeiung und zur Verhinderung von Vatermord und der intimen Beziehung zwischen Mutter und Sohn vorausgegangen. Diese intime Beziehung ist eine häufige Realität, wie aus späteren Ausführungen erkennbar sein wird. Zur Verhinderung eines größeren Verbrechens sollte offensichtlich das kleinere Übel begangen werden. Der gute Zweck heiligt die Mittel.

Umgekehrt beneiden die Väter die Söhne um ihre Jugend, Attraktivität, Zukunftschancen und Gunst bei den Müttern und Frauen. Es ist eine Frage der Interpretation, ob nicht der Mord an den Söhnen weit häufiger im großen kulturell und gesellschaftlich anerkannten Rahmen in Kriegen stattfindet, die die Väter anzetteln und vorwiegend die Söhne fallen. Sie sind dann nicht mehr als zukünftige Konkurrenten vor allem in der Rivalität bei den Frauen zu fürchten, wie in der Ödipussage geweissagt. Offenbar stelllt die Rivalität, Neid und Eifersucht der Väter zu den Söhnen eine wesentlich stärkere kulturelle und somit verleugnete und tabuisierte Brisanz dar als der Neid und die Rivalität der Söhne zu den Vätern, wie von S. Freud und seinen Schülern postuliert. Schließlich soll eine Vater seinen Sohn fördern und nicht deklassieren, entwerten bis zum Mord. Im Vatermord wird mehr das Tabu angesprochen, daß der Sohn gegen den Vater aufsteht, gegen dessen Definitionsgewalt und Rechthaberei kämpft, meist mit den Mitteln, die er vom Vater gelernt hat. In der Ödipussage ist die Erfolglosigkeit des Vaters, die Ehe zwischen Mutter und Sohn zu verhindern, festgehalten. Die Ehe zwischen Mutter und Sohn zeugt von der Unterstützung der Mutter, von der geheimen Liäson, die eine stärkere Bezogenheit darstellt als die zwischen den Ehepartnern. Näheres dazu in der Heiligen Familie.

 

Hinter diesem tragischen Ablauf steckt der Verhinderungsversuch der bedrohlichen Prophezeiung des Vatermordes und Inzest. Ohne die Prophezeiung hätte der tragische frevelhafte Ablauf wohl kaum geschehen können. Dieser Sachverhalt verdeutlicht und trägt den alltäglichen Begebenheiten Rechnung, daß die Prophezeiung vorangeht und häufig gerade durch die Verhinderungsstrategie das geschieht, was verhindert werden soll. Der Mensch lebt nach dem, was er glaubt, was ist, nach seinen Überzeugungen. Dies schließt vor allem die Antizipation, die Prophezeiung und den Zukunftsentwurf ein. Entwirft er eine bedrohliche Zukunft, muß er alles tun, diese zu verhindern. Die Handlungen werden von der Verhinderungsstrategie bestimmt, die Handlungsfreiheit geht verloren. Er lebt in einem inneren Gefängnis und durch die Handlungsumsetzung schafft er Realitäten, die oft genug gerade durch die Verhinderungshandlungen dem zu verhindernden Unheil entsprechen.

 

- Ich denke dabei vor allem an Phobikerfamilien, einem Familiensystem, in dem einer oder mehrere an Phobien und entsprechenden Körperäquivalenten leiden, wo zur Aufrechterhaltung der Familienharmonie, Zauberformel "um des lieben Friedens willen", Streit, dabei geht es um die Absolutheit in der Wahrnehmung, die absolute Wahrheit,  und Aggressionen infolge der Verhinderung subjektiver Standpunkte unterdrückt werden und gerade durch die Aggressionsunterdrückung diese an allen Ecken und Kanten durchbrechen, etwa in spitzen Bemerkungen und in schlechtem Gerede hintenrum, sodaß alle miteinander zerstritten sind. Das Familienklima wird unerträglich, sodaß jeder ihm entkommen möchte, aber gerade der Familienzerfall gefürchtet wird, wobei dann wiederum der Familienzusammenhalt durch Scheinharmonie "Konflikte unter den Tisch kehren" aufrecht erhalten werden muß - eine Teufelskreis ohne Ende. Weiterhin denke ich an Familien, wo die Geldverschwendung gefürchtet wird, deshalb extremer Geiz herrscht (Stierlin), und ein Mitglied stellvertretend für die anderen und in oppositionellem Geist in einer manischen Phase das Geld zum Fenster herauswirft,  oder an Alkoholikerfamilien, wo aus Angst vor dem Alkohol alles getan, vor allem kontrolliert wird, um den Alkoholmißbrauch zu verhindern, und gerade deshalb einer oder mehrere saufen, um überhaupt das kontrollierende und fremdbestimmte Klima ertragen zu können. -

 

Im griechischen Altertum werden typischerweise die Prophezeiungen von Blinden Sehern ausgesprochen, die in den Orakeln aufgesucht werden. Das bekannteste ist das Orakel von Delphi und der bekannteste der Seher Theiresias. Man spricht im Volksmund von Orakel und Orakeln, weil die Auslegung der Zukunft oft ein Rätsel ist. Die Seher sind blind. Im Altertum ist wahrscheinlich gemeint, daß sie durch ihre Blindheit sich auf das Wesentliche konzentrieren können und nicht vom Unwesentlichen abgelenkt werden. Dadurch besteht für die Zukunft eine Art Hellseherei. Im heutigen Alltag wird eine bestimmte bedrohliche Zukunft vorausgesehen, alles getan diese zu verhindern, und für andere mögliche Ausgänge und andere Auslegungen Blindheit besteht. Früher blieb mir manchmal die Spucke weg, heute bin ich es gewöhnt, mitzukriegen, was viele Leute alles zu wissen glauben, für sie Realität ist und meinen, schon gewußt zu haben. - Auf den Hinweis hin, bei ihm klingen Möglichkeiten und Eventualitäten so real wie Tatsachen, sagte mir ein schwer gestörter vor allem unter Erythrophobie leidender Patient spontan lachend "ich habe halt` die Weisheit mit Löffeln gefressen!". - Das Zukunftswissen stellt häufig Blindheit und Hellseherei zugleich dar. Es wird nicht gesehen, daá man die Zukunft nicht so genau wissen kann und ganz anders als das Prophezeite aussehen kann. In dem Begriff der Blinden Seher ist eine alltägliche Realität sehr gut erfasst.

 

Aber zurück zur Ödipussage: Wichtig erscheint mir weiterhin das Rätsel der Sphinx. Das Rätsel des Menschen, egal ob es gelöst wird oder nicht, ist vom Tode bedroht, entweder des Rätsellösers oder der Sphinx. Vielleicht wird deswegen bei der Forschung nach den Ursachen von Krankheiten, Millionen dafür ausgegeben und daran verdient, gerade dort gesucht, wo sie auf jeden Fall nicht zu suchen sind, etwa bei der Schizophrenieforschung. Sollte die Ursache im Menschen selbst festgemacht werden, in seinen biopsychosozialen Zusammenhhängen, wird die tödliche Schuld - dies gehört zum Kontext dieser Erkrankung - sofort an einem festgemacht, entweder am Schizophrenen selbst oder seiner Umgebung, etwa seiner Mutter. Dann ist es leichter zu ertragen und alle sind aus dem Schneider, die Ursachen in der Anlage, Viren, Transmitterstoffwechsel oder Rezeptoren festzumachen. Die amerikanische Familienforschung hat sich allein durch den Begriff der Schizophrenogenen Mutter sehr in der Öffentlichkeit in Mißkredit gebracht und einen Aufschrei der Empörung ausgelöst, "sie, die Mütter sollten schuld sein für etwas, wo sie doch alles taten, um dies zu verhindern!".

 

Oft denke ich an die Blendung des Ödipus. Laut einer persönlichen Mitteilung des Altphilologen Patzer bedeutet die Blendung des Ödipus, die eigene Schande nicht in den Augen des Gegenübers sehen zu wollen. Die Verwandtschaft mit dem blinden Seher ist naheliegend. Dieser Aspekt der Selbstdefinition durch das Gegenüber und das Zugrundelegen einer absolut gemeinsame Sichtweise erscheint mir noch wichtiger als der der Selbstbestrafung und Sühne. In der Ödipussage war die Bereitschaft zu Verzeihen, Mitleid und Verständnis in der Bevölkerung von Theben wesentlich stärker ausgeprägt als beim unnachsichtig sich verurteilenden Ödipus selbst. Durch seine Blindheit aus Furcht vor der Schande konnte er tragischerweise die Nachsicht, Verständnis und Mitleid in den Augen des Gegenübers nicht mehr sehen. Ich denke mir weiterhin dazu, vor allem das Mitleid wollte er nicht sehen. Das hätte zu sehr Scham bedeutet, dass er unrecht hat, schließlich will jeder mit seinem Glauben recht haben, sein naives differrenzierungsloses, die mangelnde Unterscheidung zwischen sich selbst und anderen, sein verurteilendes Selbst- und Weltbild bloßgestellt und seine schwere Selbstverletzung als sinnlos erscheinen lassen.

 

Ähnlich ergeht es dem Vogel Strauß, der nicht sehen kann, dass nichts dran ist, die Bedrohungen nicht mehr entzaubern kann, solange er den Kopf in den Sand steckt. - Dazu paßt eine Mitteilung eines Phobikers, er schließe oft die Augen (z.B. beim Tanzen, dies sehe wie hingebungsvolle Nähe aus), um nicht zu sehen, wie er beobachtet werde, weil er fürchte, in den Augen anderer zu sehen, was alles schlimmes in ihm und seinem intimen Tanz entdeckt und über ihn gedacht werde. Ein anderer Phobiker schilderte, wenn er über die Straße gehe, wage er kaum die Augen zu erheben, weil er alle Blicke auf sich gerichtet und sich kontrolliert sehe. Das sei für ihn wie ein Eiertanz oder ein Spießrutenlaufen. - Solche und ähnliche Beispiele sind derartig häufig, werden aber selten mitgeteilt etwa aus Furcht, für verrückt erklärt zu werden. Und damit haben sie oft recht. Die Blendung zeigt auch, wie sehr die Menschen von den Augen und der Wertschätzung anderer leben, abhängig sind und dabei ihre eigenen Augen der Selbstbetrachtung in andere hineinsehen, sich selbst in anderen, im Spiegel der anderen sehen und blind nicht sehen, wie vieles anders ist, als sie glauben. Die Abhängigkeit ist von sich selbst in den anderen. Die anderen sind sie selbst und stellen sozusagen Selbstobjekte dar. Im absoluten Weltbild können andere Menschen als eigene Menschen mit eigenen Sicht- und Warhnehmungsweisen nicht gesehen werden. Und wenn der Phobiker mal etwas ähnliches hört oder oft genug heraus hört, ohne daß dies so gemeint ist,  ist es für ihn eine Bestätigung seines Weltbildes. Er hat recht gehabt. Zu besonderer Brisanz führt dies in der Eltern-Kind-Beziehung, wo Kinder von ihren Eltern in ihrer eigenen Kindlichkeit und eigenen Bedürfnissen nicht gesehen werden. Weiteres darüber im zwischenmenschlichen Kommunikationsstil des Digitalen Dialogs.

 

In den griechischen Mythen und im Alten Testament werden vorwiegend Istzustände in mythischer Form beschrieben, in den deutschen Märchen und vor allem im Neuen Testament Lösungen in Form von Erlösungen beschrieben. Die Erlösungen finden jeweils durch andere statt, nicht durch sich selbst, so wie sie durch andere in der Kindheit herein gekommen sind. Ich lese das Tabu der Selbsterlösung und Primat der hierarchischen Fremdbestimmung und der Abhängigkeit heraus. Selbsterlösung wäre Selbstbestimmung, Autonomie und Unabhängigkeit, etwa eine Sünde und Schuld als solches nicht mehr zu definieren bzw. sich abzugrenzen und dem anderen als dessen Definition zu überlassen, und derartige Definitionen nicht zu übernehmen. Der Schuldige und Sünder gerät in Abhängigkeit, damit er sich selbst nicht den Segen für meine Handlungen geben darf. Dadurch erhält er den Segen von Außenstehenden und zu ihnen die Harmonie auf Kosten der Harmonie mit sich selbst.

 

Nehme ich die Bibel weniger als Religion und mehr als Mythos, sehe ich in ihr eine Fundgrube von alltäglichen Realitäten.

 

Zuerst die biblische Schöpfungsgeschichte "im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott". Der Mythos der religiösen Schöpfunggeschichte entspricht der realen individuellen Menschwerdung, der religiöse phylogenetische Mythos der Ontogenese eines jeden Einzelnen. Für eine wissenschaftliche Schöpfungsgeschichte der Phylogenese des Menschen gibt sie ja nicht viel her. Zuerst ist die Aussage, das Wort, der Logos, die Bedeutung und Bewertung, ob das Kind gut oder böse, dies und jenes Schuld und Sünde sind. Ich denke dabei an Goethes Faust "des Geistes Kraft, der nicht nur das Gute, sondern auch das Böse schafft". Das Wort Psychologie bedeutet "die Aussagen des Geistes". Diese Aussagen stammen von den in den Augen des Kindes göttlichen Eltern und der nahen Umgebung, die die Definitionsmacht besitzen, und denen das Kind hilflos ausgeliefert ist. Und wehe, das Kind schafft eigene Definitionen, das muß die Einflüsterung des Bösen, des Teufels sein, wie im Sündenfall an einem an sich so banalen Beispiel dem Essen eines Apfels dargestellt wird. Der Apfel erfährt durch die Zuschreibungen, "Baum der Erkenntnis" - dem Kind ist die Erkenntnis verboten, das ist Vorrecht und die Macht der Eltern -  Selbstbestimmung "frevelhafte Gottgleichheit", eine enorme Bedeutung, ähnlich wie viele Kleinigkeiten im Alltag durch die Frage der Selbst- oder Fremdbestimmung enorme Bedeutung erlangen und zu heftigstem Streit führen.

Die Bedeutungen und Bewertungen werden meist von Generation zu Generation weitergegeben, sodaß hinter jedem kleinen Streit ein Konflikt über Generationen hinweg steckt. Die Fremdbestimmung beinhaltet schon der kleine Satz "wo kämen wir denn hin, wenn jeder seine Werte selbst bestimmen würde! Das gäbe das reine Chaos." Das Göttliche und Absolute dient danach zur Abwehr des Chaos. In meinen Augen ist die eigentliche Sünde die des Gottes, nämlich Apfelessen zur Todsünde zu erklären. Aber Gott unterliegt nur seinem eigenen verinnerlichten Glauben in der transgenerationellen Perspektive, die in der Religion fehlt bzw. als religiöse Inhalte dargestellt wird. Die biblische Schöpfungsgeschichte ist also ein ontogenetischer Mythos. Sicherlich würden manche Theologen erklären, Gott gehe es um den Glauben und das Vertrauen an ihn, genauso wie den Eltern. Und falls die Kinder vertrauen, sind sie bei der geringsten Eigenständigkeit die Bösen und Schuldigen.

 

Die Aussage des Universalanspruches des Einen Gottes beinhaltet der Satz "Du sollst keine fremden Götter neben mir haben!", der Unvereinbarkeit der Wichtigkeit und Bedeutung verschiedener Bezugspersonen, auf die das Kind hören darf. Viele Mütter, auch Väter, wollen bei ihren Kindern die Wichtigsten sein und müssen das machtvoll einbringen, obwohl sie es eigentlich sowieso sind. Oft sind sie gekränkt, wenn auch nur vorübergehend jemand anderes wichtiger ist wie etwa ein Besucher. Insofern darf sich das Kind bei Streitigkeiten mit den Eltern nicht zur Unterstützung seiner Position an andere Familienmitglieder oder Nachbarn wenden. Oft genug führt dies zu zerstrittenen Aufspaltungen etwa "böse Mutter und gute Oma" oder einem Kampf um den Einfluß der Eltern untereinander um das Kind.  In den Augen der Mutter nimmt ihr die Oma das Kind weg. Allein schon die Erlaubnis oder in Religionen der Segen sagen über die Fremdbestimmung und deren Anerkennung aus.

Genauso wenig ist es erlaubt die Aussagen Gottes zu hinterfragen, in frage zu stellen auf seinen Sinn, Zweck und seine Motive. Die Motive könnte man von verschiedenen Seiten betrachten und verschiedene Motive gesehen werden. Für die Eltern heißt es "für das Gute und dein Bestes  zur Vermeidung des Bösen". Ein erwachsener denkendes Kind könnte meinen, zur Macht- und Einflußerhaltung. Wenn etwa ein Katholik meint, Onanie sei keine Todsünde, sondern ein normaler Schritt psychosexueller Reifung und Selbstfindung, ist die Beichte nicht mehr notwendig. Die Kirche verliert ihren Einfluß über die Gläubigen und deren Gewissen, der Pfarrer verliert eine wesentliche Aufgabe und evtl. sein Amt.

Eine Hinterfragung des Brudermordes Kain an Abel könnte ein schlechtes Licht auf sämtliche Beteiligten werfen. Kain und Abel buhlen rivalisierend um die Gunst Gottes, der sich durch deren Erniedrigung erhöht. Gott säht zu seiner göttlichen Erhöhung durch die Aufspaltung in gut und böse Zwietracht. Das Gleiche spielt sich in vielen Familien ab. Oft um der Gerechtigkeit willen werden die Wertigkeiten ungerecht verteilt und tödliche Zwietracht gesäht. Für die Brüder ist es beschämend, ihren Selbstwert so sehr von der Wertschätzung eines anderen, einer göttlichen Aussage abhängig zu machen. Im deutschen Volksmund spricht man von Arschkriecher. Gerade durch die Demütigung und die mangelnde Honorierung kann ich mir die tödliche Eifersucht, Wut und Rache erklären. Offenbar hat Gott, ähnlich wie viele Eltern, es für sein Selbstwertgefühl nötig, sonst würde er die beiden nicht so demütigen und gegeneinander ausspielen. Gerade Eltern mit Selbstwertdefiziten neigen zu solchen Verhaltensweisen.  Man könnte meinen, ein für alle Seiten beschämendes und erniedrigendes Schauspiel. Insofern könnte die Schuldfrage in der Sündenbockstrategie eine Abwehr der Scham und für alle Seiten im Unheil eine Erlösung bedeuten. Das Tabu der Hinterfragung von Motivationen, vor allem die des unantastbaren Gottes, aber auch der anderen Beteiligten, bleibt bestehen. Sicherlich bedeutet eine derartige Form der Hinterfragung und Deutung der Bibel für viele Gläubige ein frevelhaftes Unterfangen.

 

Die bisher aufgezeichneten alttestamentarischen unlösbaren Konflikte harren schon lange der prophezeiten Erlösung. Die Haupterlösungsmythen stellen meiner Ansicht nach die Heilige Familie und die Erlösung durch den menschgewordenen Gott dar. Ich erinnere an die Überschrift „gedenke, dass du ein Mensch bist und nicht ein Gott. Man könnte die Umwandlung von Gott in den Menschen im tieferen Sinn als erlösenden Reifungsschritt ansehen.

 

Immer wieder springt mir die Heilige Familie ins Auge. Sie wird jedes Jahr vor allem zu Weihnachten, Muttertag und Mutters Geburtstag gefeiert und wirft nach meinen therapeutischen Erfahrungen ihre Konfliktschatten ins Vorfeld und Nachhinein. Die unbefleckte Empfängnis, Jungfräulichkeit und Reinheit Marias, erlöst von den vermeintlichen Befleckungen und dem Schmutz der Sexualität. Die duldende Hintergrundshaltung des Josef erlöst von der Gewaltbereitschaft vieler realer Väter. Und die Göttlichkeit des Sohnes erlöst von den Sünden, der Schuld vieler realer Söhne, die ihnen jedoch vorher von den Eltern zugeschrieben wurde.

 

Die Tragik ist, daß dieses Ideal erneut Konflikte schafft. Denn welcher Ehemann läßt sich schon die Jungfräulichkeit seiner Ehefrau gefallen. Es sei denn, er ist homosexuell. Sie ist in vielen Ehen Anlaß unablässiger Auseinandersetzungen. Und wenn die Sexualität in genitaler Form selbst nicht, dann vorgenitale Spielarten, die dann als pervers gebrandmarkt werden, wenn auch noch nicht in der Anfangsphase der Beziehung, dann doch im Verlauf von langjährigen Ehejahren, so daß manche eheliche sexuelle Beziehung völlig zum Erliegen kommt oder zur Pflichtübung wird. Auf die Verbreitung des Jungfräulichkeitsglaubens kam ich erstmalig durch einen Nebensatz in einem Roman von Manuel Garcia Marquez „die Jungfräulichkeit in der bürgerlichen Ehe“.

Meiner Ansicht nach liegt darin auch die Verbreitung des Prostitution begründet. Dort kann der Mann all das machen, wofür sich seine Frau zu schade und sie ihm zu schade ist, also aus Gründen für beide Seiten. Dieser 2. Teil des Satzes führt in das Geschehen, daß auch für Männer die Jungfräulichkeit und Reinheit ihrer Partnerin während der Ehe eine tragende Rolle spielt - und zwar nicht nur vor der Ehe. Die Prostitution hat insofern eine gesellschaftlich reinigende Funktion. Der umgekehrte Ablauf, dass sich Frauen Manner für ihre verbotenen sexuellen Wünsch suchen, ist weniger verbreitet, aber auch dafür gibt es eine Subkultur gerade dort, gerade dort, wo Moral und Anstand in der Ehe eine noch größere Rolle als bei uns spielen. - Zur Verdeutlichung des hochambivalenten Geschehens mögen meine Erfahrungen in Gruppen beitragen, wo ich wiederholt hörte, daß Männer sich beklagten, daß ihre Frauen erst ihre sexuellen Wünsche abwehrten mit dem Hinweis auf Müdigkeit, Kopfschmerzen, Periode u.a. und Rücksichtsnahme verlangten, später ihnen den Laufpaß gaben "sie seien doch kein richtiger Männer". Diese Männer verstanden die Welt nicht mehr. Bemerkenswert fand ich das Nicken der übrigen Frauen "ja so ist das, selbstschuld mit deiner Rücksichtsnahme". So weit verbreitet scheint dieser Zusammenhang zu sein.

 

Die Erhebung des Sohnes -  außerhalb des biblischen Mythos auch der Tochter, aber seltener, dann meist vonseiten der Väter -  zum Gott ist weit verbreitet. Oft höre ich die Hochstilisierung des Sohnes zum Erlöser, "er sei etwas besonderes, einzigartig, zu höherem geboren". Die Achse Mutter - Sohn, mythisch verdeutlicht im Neuen Testament und in der Ödipussage - ist oft wesentlich stärker als die Partnerbeziehung. Dies schafft Neid und Eifersucht des Vaters, und die wenigsten Väter stehen duldend daneben wie Josef - neulich sagte mir ein Pfarrer wegwerfend, verächtlich "ach der Josef, schwache Figur!" -, sondern drücken und demütigen ihren Sohn, wo sie nur können, der daraufhin vermehrt von der Mutter in Schutz genommen werden muß. Manchen Söhnen gelingt es durch provokatives Verhalten ihre Väter dermaßen auf die Palme, zur Weißglut zu bringen, wie ich manchmal in Therapien in der Übertragung hautnah erlebe, des Schutzes und der Liebe der Mutter sicher.

Oft tragen sie stellvertretend für ihre Mütter, die sich etwa Männern gegenüber benachteiligt sehen, den Kampf gegen die Männer und Väter aus. Durch das negative bild des Vaters können sie sich kaum mit ihm und seiner Männlichkeit identifizieren, bleiben schwach und unterwürfig oder suchen ihre männliche Identifikation bei anderen Männern in der Homosexualität. Oft fühlen sich die Männer in der Familie als Außenseiter, suchen ihre Bestätigung etwa im Beruf und fühlen sich ausgenutzt, daß sie die Finanzen tragen, damit Frau und Kinder zu Hause die Heilige Familie zelebrieren können. Manchen gelingt es, mit Hilfe einer Krankheit etwa einer Herzneurose zumindest sporadisch zu Hause zu bleiben und dort zum rechten zu sehen. Werden die Kinder älter beim drohenden Ablösungsschritt, verlieren die Mütter den Sinn ihres Lebens und müssen eventuell mit Hilfe eigener Krankheiten, etwa einer Involutionsdepression, oder einer Erkrankung des Sohnes wie einer Schizophrenie diese ans Haus und sich fesseln.

 

Viele Männer suchen Ausgleich bei ihren Töchtern, sodaß Blockbildungen Mutter/Sohn und Vater/Tochter bestehen. Dieser Ausgleich mag zum sexuellen Mißbrauch beitragen. In meiner Psychiatriezeit erlebte ich wiederholt, daß Alkoholiker dann ausklinkten, die Wohnung demolierten und eingewiesen wurden, wenn die Tochter tanzen gehen wollte oder einen Freund traf. Die vom Vater erotisch besetzten Töchter werden in Projektion des eigenen sexuellen Wunsches von ihm dann Hure, Flittchen beschimpft. Die Ohnmacht des Mannes mag noch illustrieren, da in der Frage der Abtreibung diejenigen Männer am meisten und lautstärksten ihren Einfluß geltend zu machen suchen, die am wenigsten mit der Zeugung zu tun haben, nämlich die Greise und katholischen Bischöfe bis zum Papst. Viele Männer leiden meist unbewußt unter einem Gebärneid, offenbar als Symbol der Macht und des Einflusses der Frau. Ich vermute, daß die Männer deswegen die Frauen so wenig in die Arbeitswelt hinein lassen, um wenigstens dort ein Refugium ihrer Einflußbereiche zu bewahren.

 

Im biblischen Mythos in der Kreuzigung Christi opfert der göttliche Sohn sein menschliches Leben zur Erlösung der Menschheit. Als Mensch stirbt er, als Gott und das göttliche Prinzip lebt im Bewußtsein der religiösen Menschheit fort und in seinen Stellvertretern auf Erden, den Priestern. Insofern ist der Reifungsschritt der gelungenenen Menschwerdung Gottes rückgängig gemacht worden, und das Unglück geht weiter auf Erlösung harrend. Das Göttliche ist zeitlos und, da es sich vielfach im Unbewußten abspielt, kennt es und das Unbewußte keinen Tod. - Viele bezweifeln, diejenigen, die die Bibel wörtlich und nicht als Symbolik nehmen, ob die Selbstaufopferung zur Besserung der Menschheit und zur Erlösung vom irdischen Jammertal beigetragen habe. - Unter mythischer Betrachtungsweise erhebt sich für mich die Frage, wo sich dieser Sachverhalt im Alltag wieder findet. - Einen Zugang fand ich bei der Erzählung eines HIV-positiven Homosexuellen. Er berichtete mir, daß ein aidskranker Freund vor seinem Tod seiner Mutter das Versprechen abgenommen habe, daß sie sich um seinen Freund kümmere. Seitdem gehen dieser, sein neuer Freund und die gemeinsamen Freunde im Haus der Mutter ein und aus. Sein Tod hat mehr als sein Leben zur Sinnstiftung und Gemeinsamkeit beigetragen. Insofern lebt er nach seinem Tode als lebender Christus in den anderen fort. -

Am ehesten könnte unter dem Opfer Christi die Selbstaufopferung eigener menschlicher Interessen und Bedürfnisse zum Wohle anderer gemeint sein. In der Heiligen Familie bedeutet dies, das Opfer sexueller Interessen von Frau und Mann zugunsten höherer geistiger - Empfängnis durch den Heiligen Geist – Interessen, weiterhin das Opfer kindlicher, jugendlicher und männlicher Interessen, obwohl wohlweislich die ersten 30 Lebensjahre Christi verschwiegen wurden. In unserer Kultur besteht meist der Terminus der Pflicht. Die Verpflichtung anderen gegenüber, ihre Erwartungen zu erfüllen, ihnen alles recht zu machen, oft unausgesprochen im vorauseilenden Gehorsam ist kulturelles Erziehungsziel. Jesus ist das Vorbild des Märtyrertums. Eigeninteresse, Selbstverpflichtung gibt es in diesem Sinne nicht, sind klein geschrieben und gelten oft als verpönter Egoismus. Insofern überlebt das Göttliche, das Ideale, während der Mensch als Individuum stirbt. Logische Folge der Selbstaufopferung nach einem altruistischen Leben ist der Selbstmord.

Daß Krankheiten zu vermehrtem Familienzusammenhalt im guten Sinne für das Allgemeinwohl wie im schlechten Sinne für das Individuum beitragen, erlebe und höre ich immer wieder. Darin sehe ich auch einen Sinn von Krankheiten. Ich lese gerne aus den Folgen den Sinn, die Motive und die Ursachen ab. Man spricht auch von sekundärem Krankheitsgewinn, den der Kranke und die Umgebung hautnah erleben. Dazu später einige Beispiele. Ich weiß, daß das gegenwärtige Leben sehr auf die Zeit nach dem Tode ausgerichtet ist, nicht nur in Religionen, auf das Angedenken, Vererben in den Augen der Umgebung und Nachkommen. Darin sehe ich auch einen wesentlichen Sinn in Kindern und Nachkommen.

 

Über meine theoretischen Erkenntnisse

 

Die Selbsterkenntnis ist wie ein Spiegel der eigenen Person und beinhaltet - so versuche ich sie zu umschreiben - die Wahrnehmungen, Gedanken und Phantasien, Neigungen, Vorlieben, Abneigungen, weiterhin die eigenen Affekte, Gefühle oder Emotionen, körperlich und seelischen Befindlichkeiten, Reaktionen und Handlungen. Zur Selbsterkenntnis ist eine Außenbetrachtung der eigenen Person, der eigenen, persönlichen bzw. subjektiven Wahrnehmung oder Realität notwendig. Die genauere Betrachtung des Wortes "Wahrnehmung" zeigt auf, es wird etwas als wahr (an)genommen, und weist auf den subjektiven Charakter, während das Wort "Wahrheit" auf einen objektiven und absoluten Charakter hinweist. Wahrnehmung und die persönliche Wahrheit sind  identisch.

Oft wird außer acht gelassen, daß Selbsterkenntnis auch die eigene Erkenntnis und Wahrnehmung der Umwelt, also auch anderer Menschen, die Fremdwahrnehmung und der möglichen Hintergründe des anderen beinhaltet. In Selbstbetrachtungen wie in therapeutischen Analysen wird dieser Aspekt der Fremdanalyse meiner Erfahrung nach zu wenig berücksichtigt. Dabei spielen beispielsweise die eigenen Gedanken über andere und deren Gedanken eine Riesenrolle, etwa "was sollen, werden wohl die Leute denken!" äußere Wirklichkeiten (Realitäten). Inneres wird zu äußerem. Dies zeigt sich schon in Worten, Gestik und Mimik als Ausdruck des Inneren. Wird an eine bestimmte bedrohliche Zukunft geglaubt, diese als wirklich angesehen, wird sie allein schon durch die Handlungen tendenziell bestätigt, eine selffulfilling prophecy,  sich-selbst-erfüllende Prophezeiung. Wird von falschen Annahmen der inneren und äüßeren Wirklichkeit ausgegangen, werden durch die Handlungsumsetzung neue von den falschen Annahmen beeinflußte Wirklichkeiten geschaffen, die in keiner Weise den ohne die bedrohlichen Antizipationen geschaffenen ansonsten ursprünglich eingetretenen Realitäten entsprechen müssen. Bei den inneren Wirklichkeiten könnte auch von Realitätskonstruktionen sprechen, die wiederum Realitäten setzen. Diese Relitätskonstruktionen sind sehr von den der Vergangenheit und deren Erfahrungen geprägt.

Das Innenleben ist zum Teil bewußt. Seit S. Freud wird in unserem Kulturkreis allgemein das Unbewußte akzeptiert, zumindest solange nicht konflikthaftes und unantastbares berührt wird. Ich möchte dabei nur dort von Unbewußtem sprechen, wenn es durch Abwehrmechanismen wie Verdrängung und Verleugnung zustande kommt. Da grundsätzlich nur bedrohliches verdrängt wird, ist dies Unbewußte wie eine dämonische Bedrohung, ein Dämon oder christlich religiös der Teufel. Im Unbewußten ist alles Realität und zwar deshalb, weil die Inhalte, wenn sie nicht als eine bedrohlich unannehmbare Realität aufgefaßt, ja nicht verdrängt worden wären. Diese Realität, dies ist ihr Charakteristikum, ist jedoch infolge der Bewußtseinsschranke nicht verfügbar. Man könnte auch von mehreren Bewußtseinsschichten, bewußten, vorbewußten und unbewußten oder oberflächlichen und tiefen sprechen. Ich spreche gerne von Gehirnrinde, in der mehr die Bewußtseinsprozesse, und Gehirnstamm, in dem die reflektorischen Automatismen ablaufen. Dabei möchte ich aufzeigen, daß im Gehirnstamm sozusagen die frühen Erfahrungen und die über Generationen überkommenen, nie in Frage gestellten Gesetze und Normen ablaufen, die Ideal- und Absolutheitscharakter besitzen.

Im Alltagssprachgebrauch wird oft zwischen Bewußtem und Unbewußten mit Begriffen wie Kopf und Bauch oder Verstand und Gefühl unterschieden, wobei dem Bauch und dem Gefühl die stärkere und bestimmendere Realität zugeschrieben wird. Danach regiert nicht der Verstand oder die Vernunft, sondern der Bauch oder das Gefühl die Welt. Ebenso wird zwischen einem oberflächlichen und einem tieferen Glauben unterschieden. Häufig wird von Gefühl gesprochen, wenn tiefere nicht artikulierbare innere Realitäten angesprochen werden. - Ein Patient drückte mir gegenüber den Unterschied zwischen oberflächlichen und tiefen Glauben so aus "ich glaube Ihnen zwar, daß Sie recht haben, aber ich weiß, daß ich tief in meinem Inneren Ihnen nicht glaube". - Da aber die innere, tiefe unbewußte Realität die Handlungen mitbestimmt, wird der Mensch von unbewußten, ihm und seiner Umwelt nicht erklärbaren Inhalten in seinen Handlungen bestimmt. Dies spielt in Konflikt- und Krankheitsbereichen eine Riesenrolle, so daß Konflikthandlungen und Krankheiten für den Betroffenen nicht erklärbar sind.

Da es sich oft um persönliche Bedrohungen und Verdrängungen handelt, die oft für einen anderen nicht so bedrohlich sind, z. T. weil sie ihn nicht selbst betreffen, kann eine Unbeteiligter oft besser im anderen erkennen, die blinden Flecke des Gegenübers wahrnehmen. Dazu der Spruch "es ist leichter einen Splitter im fremden als einen Balken im eigenen Auge zu erkennen." Handelt es sich um kollektive oder kulturelle verdrängte Bedrohungen, kann man von einem kulturellen Unbewußten sprechen.

Zum Unbewußten könnte man auch Überzeugungen ansehen, die wie selbstverständlich sind und mit ihren resultierenden Handlungen automatisch ablaufen, ohne daß sie je betrachtet, reflektiert oder infrage gestellt wurden. Sie werden oft von vielen Menschen einer Kulturgruppe getragen. Man könnte auch von kollektivem Unbewußten sprechen. Die Bedrohung oder Ungeheuerlichkeit kommt erst nachträglich und sekundär zum Ausdruck, wenn sie infrage gestellt oder dagegen verstoßen wird wie bei Glaubens-, überzeugungsinhalten, Selbstverständlichkeiten und weit verbreitete Normen, etwa auf Fragen nicht zu antworten, Bitten nicht zu erfüllen, bei Not nicht zu helfen, bei Verständnis sich nicht für den anderen einzusetzen oder mit Einverständnis gleichzusetzen, jemanden als Lügner zu diskriminieren, der nicht die Wahrheit sagt. Ebensolche Selbstverständlichkeiten können sein, daß es Ambivalenzen, Widersprüche, Vieldeutigkeiten, Zwiespältigkeiten nicht geben darf.

 

 Allein durch das Wort "Selbsterkenntnisprozeß" wird auf das Prozeßhafte oder auch Fließende der Selbsterkenntnis hingewiesen. Man könnte darunter zum einen den Prozeß bis zur Selbsterkenntnis, dann diese als etwas konstantes verstehen, zum anderen die Selbsterkenntnis als einen fließenden, immer sich verändernden und neu zu erfassenden Prozeß ansehen. Danach beendet nur der Tod den Prozeß der Selbsterkenntnis. Bei der ersteren Auffassung ist die Erkenntnis etwas konstantes, nur der Weg dorthin ein fließender Prozeß. Ist das Ziel einmal erreicht, kann es nicht mehr verändert werden. Bei der zweiten Auffassung ist die Selbsterkenntnis ein unaufhörlicher, nie endender Prozeß, in dem es nur vorübergehende, aktuelle, sich wandelnde Erkenntnisse gibt.

 

Mir geht es um die Feststellung, daá oft im Menschen und der Umwelt das Veränderliche, sich Bewegende, Fließende zu wenig gesehen wird, und zwar dann, wenn Bedrohungen bis zu existentiell vernichtenden Ausmaßen, also Katastrophen darin gefürchtet werden. Veränderungen bergen Unsicherheiten, in denen jederzeit Bedrohungen stecken können. Das Ziel der Abwehr von Veränderungsprozessen ist die Aufrechterhaltung des inneren und äußeren Gleichgewichtes und Stabilität bzw. der Harmonie oder Homöostase. Deshalb verneinen den Veränderungsprozeß vor allem Menschen mit bedrohlichen Vorerfahrungen und als Folge bedrohlichen Zukunftsentwürfen. Vor allem wenn sie nie oder kaum etwas anderes kennengelernt haben, somit von den Bedrohungen beherrscht werden und diese zum Maßstab für die Zukunft machen, ihren Zukunftsentwürfen, versuchen sie sich an Konstanz, Endgültigkeit, Unver(ab)änderlichkeit, Klarheit und Eindeutigkeit festzuhalten, um sich vor den Bedrohungen zu retten. Naheliegende Begriffe und Verhaltensweisen sind Geradlinigkeit, Konsequenz, Ordnung, Prinzipien, Disziplin, Treue, Loyalität. Es ist leicht erkennbar, daß es sich um traditionelle Werte handelt. Die Aufrechterhaltung von Traditionen dient also zur Vermeidung bedrohlicher Zukunftsentwürfe. Bei fehlenden Bedrohungen sind Traditionen nicht dringend notwendig.

Diese Konstanten tragen der Realität des Lebens wenig Rechnung, sind dann oft Illusionen, in denen wiederum die Bedrohungen gefürchtet werden müssen. Im Leben geht es oft auf und ab, gute und schlechte Tage und Jahre wechseln sich ab. Ein Mensch ist mal so und mal so. Er unterliegt Schwankungen, hat verschiedene Seiten, die je nach dem, was in ihm vorgeht und von außen an ihn herangetragen wird, zum Tragen kommen und nach außen gekehrt werden. Und daß er so ist, dazu tragen andere genauso viel bei wie er selbst. Zukünftige Entwicklungen weiß man in den seltensten Fällen so genau. Geschmacks-, Moderichtungen wechseln Tag für Tag und Jahr für Jahr. Und für vergangene Tatbestände bestehen die verschiedensten Erinnerungen, je nachdem, was und von welcher Seite jemand gesehen und wahrgenommen hat und in seiner Erinnerung verblieben ist. Deswegen sind Zeugenaussagen so wenig objektiv verläßlich. Ein Richter, der von der einen und objektiven Wahrheit ausgeht, wird in Verwirrung stürzen oder verzweifeln. Die Verzweiflung ist also eine Folge der Suche nach dem Absoluten. Wer von Konstanz und Linearität ausgeht, wird bei der Wechselhaftigkeit des Lebens das Chaos und in diesem die Bedrohungen fürchten. Für ihn sind Veränderungen unerträglich, ihm wird schwindelig, er gerät durcheinander oder wird verrückt. Oft werden schon in kleinen Regelverletzungen das Chaos gefürchtet "wenn das jeder machen würde..."

Meiner Ansicht nach ist Realität, daß im Menschen Tag und Nacht ununterbrochen Gedanken, bilder, Vorstellungen bzw. Phantasien ablaufen, nachts als Träume erfaßbar. Im menschlichen Geist besteht ein ungeheures Reservoir von Gedanken und bildern, die aus seinem Erfahrungsschatz resultieren. In einem Moment kann jedoch immer nur ein Gedanke im Blickfeld sein, im nächsten ein anderer usw. Deswegen ist es nicht möglich, mehreres gleichzeitig zu denken, sondern nur kurz nacheinander. Diese Gedanken, eine Assoziationskette, sind unterschiedlich, vielfach widersprüchlich, kommen von selbst aus dem eigenen Geist oder durch Mitteilungen, also Gedankeneinflüsse anderer und sind als Gedanken wenig, besser gar nicht beeinflußbar. In dem einen Moment kann ein guter Gedanke im Blickfeld sein, der das Herz frohlocken läßt, im nächsten ein ängstigender, der es pochen oder vor Schreck still stehen läßt und den Schweiß aus den Poren treibt. - Ich wundere mich manchmal beim Aufwachen, welche Geschichten ich geträumt habe, ganze Romane, wie ein 2. Leben, das mir fern von meinem sonstigen bewußten Leben und Innenleben erscheint, obwohl ich selbst aus meinem Inneren heraus das alles erträumt und phantasiert habe. Spannungsgeladene Gedanken lassen mich nicht schlafen, im Schlaf schwer atmen, Schnaufen oder Schnarchen.-

Gleichzeitig lebt der Mensch ununterbrochen in einer Realität, ist selbst real. Wie er die Realität mit seinen unterschiedlichen und widersprüchlichen bildern und Gedanken erfaßt, der Realitätsprüfung, oder was er als wahr nimmt, welche Bewertungen und Bedeutungen er zuschreibt und wie er daraufhin handelt, das ist seine Form der Wahrnehmungen und der Lebensbewältigung. Die Gedanken sind also zuerst einmal eine mögliche, eine Probe der Realität, und entstammen der Vergangenheit. Es wird auch von Denken als Probehandeln gesprochen. Ich vergleiche die Realitätsprüfung gerne mit dem Erwachen aus einem Traum. Dabei wird überprüft, wo der Unterschied von Traum zum gegenwärtigen Leben ist.

Die bilder, Gedanken und Phantasien stammen wie eben erwähnt aus früheren Erlebnissen, realen Abläufen, den Erfahrungen, sind also Abbilder der Vergangenheit, Erinnerungen und stehen sozusagen in der Gegenwart mit vor den Augen. Die Erinnerungen prägen den Entwurf der Gegenwart. Das halte ich für ein menschliches Gesetz. Weiterhin besteht die automatische Neigung, sie als Zukunft zu entwerfen und in die Zukunft zu werfen. Also muß reale Vergangenheit in Gegenwart und Zukunft der Realitätsprüfung unterzogen werden. Für die innere Konfliktlage halte ich den Zukunftsentwurf für entscheidend.

Eine unerträgliche Gegenwart ist bei einem guten Zukunftsentwurf gut zu ertragen, aber eine angenehme Gegenwart bei einem schlechten Entwurf der Zukunft unerträglich. In der Gegenwart besteht die Hauptchance, die persönliche gegenwärtige Wahrnehmung und dadurch den Zukunftsentwurf zu verändern, etwa "so schlimm ist es ja gar nicht, also braucht es das auch nicht zukünftig zu sein." Sie ist eine Art Nagelprobe. Bei vielen Menschen findet die Realitätsprüfung in manchen Situationen gar nicht oder nur sehr beschränkt statt. Dadurch geht der Traum aus der Vergangenheit weiter und wird zur Realität von Gegenwart und Zukunft. Es findet kein Erwachen statt. Dabei glauben viele Menschen automatisch das, was sie denken, und sind nicht in der Lage, eine veränderte Realität zu sehen. Vor allem bei katastrophalen Erlebnisse kann die Realitätsprüfung nicht gelingen. Sie prägen über Jahrzehnte Gegenwart und Zukunft und die ihrer Nachkommen, wie die Erfahrungen von und mit KZ-Überlebenden und Folteropfern zeigen.

Den Unterschied von Phantasie und Realität möchte ich an einem Beispiel der Verwechslung bzw. Gleichsetzung von Phantasie und Realität aufzeigen: Ein Patient erzählte mir, er habe oft falsche Phantasien. Ich erklärte prompt "falsche Phantasien gibt es nicht, Phantasien sind immer richtig", und ließ gegenüber dem verduzten Patienten nachfolgen, "als Phantasien seien sie immer richtig, allerdings, wenn er die Phantasien für Realität halte, sei das oft falsch". Die Geschichte ging weiter. Zufällig erzählte ich einer Bekannten von dieser Episode. Sie meinte "..und dann ist er dir sicher an den Hals gesprungen", woraufhin mir einfiel, daß der Patient anschließend von tetanischen Symptomen gesprochen hatte. Die sogenannte Pfötchenstellung im tetanischen Anfall kann man als Geste, jemanden an die Gurgel zu springen, deuten. Dies Beispiel zeigt zusätzlich, wie andere unbeteiligte Menschen in die Assoziationskette einbezogen werden und daraufhin Aussagen treffen können.

Ich erkläre manchmal Patienten, daß bei der Beschreibung eines bildes durch mehrere Personen ebenso viele verschiedene bilder wie beschreibende Personen herauskommen, da  jeder seine eigenen bilder hineinsieht. Mensch und bild sind real, nur die Beschreibung sieht oft völlig verschieden aus. Das bild ist zwar objektiv vorhanden, nur wie es für den Einzelnen aussieht, das ist seine subjektive Realität. - Bei einem neutralen, emotional unbelastetem bild ist es einfach, einen Konsens über die Verschiedenartigkeit zu gewinnen. Handelt es sich um bedrohliche unantastbare Inhalte, die nicht infrage gestellt werden dürfen, sind verschiedene bilder oder Vieldeutigkeiten nicht zulässig wie etwa bei religiösen Glaubensinhalten.

Im Kontakt mit anderen Menschen teilt jeder mit Worten, Gestik und Mimik von sich mit und nimmt die Mitteilungen anderer in sich auf. Die Worte, Gesten und Mimik anderer sind dann im Kopf oder Sinn und beeinflussen die eigenen Gedanke und Worte. Teilt der andere seine Gedanken als Glauben oder Überzeugung mit, wird dies tendenziell zum eigenen Glauben, es sei denn, dieser Glauben wird bei der Realitätsprüfung verworfen. Menschen ohne eigenen Glauben wie Kleinkinder oder Menschen, die im dargestellten Bereich keine eigene Erfahrung haben, sind vom Glauben anderer leicht beeinflußbar. Sie haben noch keinen eigenen Glauben als Folge ihrer Erfahrungen, an dem sie überprüfen können, was für sie zu glauben ist. In totalitären Systemen wie in manchen politischen oder religiösen Systemen darf es keine verschiedenen Überzeugungen geben. Die Übernahme von Glauben und Überzeugungen, also im Sinne von Realitäten, die zuerst keine eigenen sind, spielt in der Erziehung eine prägende Rolle.

 

Eine ureigene Eigenschaft des Menschen ist, nach den Gründen und Ursachen zu fragen. Es ist menschliche Tradition zu meinen, erst wenn diese erkannt sind, ist er in der Lage etwas dafür oder dagegen zu tun. Erst wenn der Feind erkannt ist, besteht die Möglichkeit, etwas gegen ihn zu unternehmen. Infolgedessen habe ich mich nach den Gründen des Problems der menschlichen und vermeintlich göttlichen Selbsterkenntnis im Fluß des Lebens gefragt.

 

Art der Bedrohungen

 

Die Gründe meine ich in der Bedrohung und der Angst davor, vor allem der existentiellen Bedrohung, der Katastrophen- und Vernichtungsangst zu finden. Wie sehen denn solche Bedrohungen aus? Ich unterscheide körperliche Bedrohungen wie in Naturkatastrophen, Hungersnöte, Seuchen, Krankheiten, Unfälle, Kriege, Vertreibungen und Tod. Dem müssen jedoch als real angesehene bedrohliche Bewertungen und Bedeutungen beigemessen werden, also daß Krankheit und Tod etwas schlimmes, ängstigendes und bedrohliches sei. Schließlich können Krankheit und Tod auch herbei gesehnt werden, Krankheit etwa, um sich vor Überanstrengungen zu schützen, beim Heldentod, Ehre zu gewinnen oder wie bei Religionen ein schlechtes Leben mit einem besseren Leben im Nachleben wie im Himmel einzutauschen. In Kriege wird oft mit Begeisterung, wie in den 1. Weltkrieg, hineingegangen. 

 

In Zeiten, wo diese leiblichen Gefahren vordergründig und aktuell keine so große Rolle spielen, treten mehr psychische Bedrohungen in der Vordergrund. Unter diesen verstehe ich Herabsetzungen im Werte eines Menschen, Entwertungen, Verunglimpfungen oder Diskriminierungen, etwa in Sünde, Schuld, Schande, Verachtung, Peinlichkeit, Blamage, Scham und Lächerlichkeit. Diese können existentiell bedrohliche Ausmaße annehmen, wie in Metaphern "vor Scham oder Schande im Boden versinken, völlig unten durch sein, mit dem oder der will keiner etwas zu tun haben, tödliche Blamage". Im Spiegel des eigenen Selbst spricht man auch von narzißtischen Bedrohungen nach dem Jüngling der griechischen Antike, der sein Selbtsbild im Spiegel bewunderte. Gleichzeitig kommt die zwischenmenschliche Dimension, im Spiegel der Umwelt, wie in der Blendung des Ödipus ausgeführt, zum Ausdruck. Entwertungen können zur Ausgrenzung und Ansstoßung führen, einem sozialen Tod. Da der Mensch auf Zwischenmenschlichkeit angewiesen ist, können sie zu Krankheit und Tod führen, wie ich später in Ausführungen über Ursachen und Hintergründen von Krankheiten darstellen werde. Insofern kann der psychische und soziale Tod zum körperlichen Tod führen. Beispiele sind etwa bei Naturvölkern der Voodoo-Tod nach Ausstoßung als Strafe für schändliches Verhalten. Auch bei der Blutrache führen Schuld und Schande zum Tode.

 Bei der Abwehr narzißtischer Bedrohungen spielen allerdings Verschiebungen auf körperliche Bedrohungen eine große Rolle, so daß etwa Umweltgifte, Verkehrsgefährdungen hochgespielt und gefürchtet und in ihnen die Ursachen von Störungen gesehen werden wie bei der Pollenallergie und anderen allergischen Erkrankungen. Frühere körperlich bedrohliche Erfahrungen, auch früherer Generationen, wie Kriegszeiten bleiben allerdings im Erfahrungsschatz erhalten und werden gegenwärtig und zukünftig gefürchtet.

Halten sich zukünftige Generationen, die Kinder, nicht an die Vermeidungsstrategie der Eltern, müssen diese die psychische, narzistische Bedrohung fürchten, indem sie etwa geschimpft und geschlagen werden, als trotzig, leichtsinnig, ungehorsam o.ä. gelten. Im kulturellen Erbe können also frühere körperliche Bedrohungen zu späteren narzistischen Ängsten der Kinder und späteren Generationen werden. Dies zeigen die Analysen von Kindern von KZ-Überlebenden, Gefolterten und von Naturkatastrophen Bedrohten. So ist die Furcht vor aüßeren körperlichen Bedrohungen oft eine Vermischung der Verschiebung von narzistischen Gefahren, den Erfahrungen mit vergangenen Bedrohungen und des Zukunftsentwurfes und möglichen realen Gefahren, wobei die reale Bedrohungsbewertung schwer feststellbar ist und über das Bewertungsausmaß verschiedene Meinungen herrschen können. Gerade die Vermischung von körperlicher und narzißtischer Angst, das gleichzeitige Verleugnen und Hochpuschen wie etwa bei Umweltgiften, stellt ein hochexplosives Gemisch dar. Die Ursache sehe ich in der Unsicherheit, was denn nun wirklich los ist, wo der objektive Maßstab liegt, also der Unsicherheit, was nun wiederum ängstigend ist. Das Hochjubeln wird im Alltagssprachgebrauch als Hysterie, hysterisch oder bei der Angst vor körperlichen Bedrohungen der Hypochondrie genannt, und das zu sein, ist wiederum eine Bedrohung.

Als einer der schlimmsten Bedrohungen erscheint mir die Hilflosigkeit, nichts gegen die Ängste machen zu können, und die Hoffnungslosigkeit, der Verlust der Aussicht, daß sich nach vielen bedrohlichen und hilflosen Vorerfahrungen jemals noch etwas ändert. Zur Abwehr diesen beiden Ängste erscheint jedes Mittel, auch der kleinste Strohhalm, recht, vor allem sich Hilfe und Hoffnungen zu illusionieren. Geistliche und Priester etwa können von seelischem Leid wie Schuld und Sünde befreien, zumindest Trost zusprechen. In manchen Religionen wird die irdische Hoffnungslosigkeit in Hoffnungen im Jenseits oder in einem Nachleben umgewandelt oder vertröstet. Nichtgläubige würden dies als Illusion bezeichnen. In rituellen Handlungen wird etwas symbolisch hilfreiches getan. Ärzte erscheinen als Hoffnungsträger bei körperlichen und seelischem Leid, gelten als Garanten der Hilfe, obwohl sie in der naturwissenschaftlichen Medizin bei genauerer Betrachtung oft nicht zuständig sind oder wenig von seelischem Leid verstehen. Oft reicht es, daß überhaupt etwas getan wird, weil sich in jeglichem Handeln neue, veränderte Zukunftsperspektiven eröffnen, um nicht die Hilflosigkeit ertragen zu müssen.

Eine weitere existentielle Bedrohung stellt die Angst vor dem Chaos dar. Als leichtere Formen werden Schwindel, Nebel, Verwirrung bis zur Zerrissenheit gefürchtet. In den Augen mancher wird schon in den kleinsten Regelverletzungen das Chaos befürchtet, etwa wenn ein Radfahrer gegen eine Einbahnstraße fährt. Dann heißt es oft, "wenn das jeder tun würde, das gäbe das reinste Chaos!".

Wie können denn nun derartige narzistische Entwertungen aussehen, in denen man Wert, Stolz und Ehre bis zu tödlichen Ausmaßen verlieren kann? Es heißt doch so oft, wir leben in einer aufgeklärten und emanzipierten Kultur. Die Entwertungen können bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweisen beinhalten wie egoistisch, rücksichtslos, unsensibel, hart, hartherzig, leichtfertig oder auch zu weich, weibisch, unmännlich zu sein und vieles andere mehr. - Kürzlich schilderte mir eine Patientin, der Vorwurf "sie sei nicht genügend engagiert" treffe sie dermaßen tief, daß sie alles tue, um dem vorzugreifen. Als Folge ihrer Anstrengungen und Überbelastungen leide sie unter Rückenbeschwerden und, da sie sich in der Atmung verkrampfe und ihr die Luft wegbleibe, unter Asthma. Sie habe festgestellt, deswegen "reiße sie sich für andere den Arsch auf", als Folge bekomme sie tagelang Verstopfung und reiße sich beim Stuhlgang tatsächlich den Arsch auf. Sie lasse spontane Selbstbestimmung im Wandel ihrer Stimmungen und Befindlichkeiten kaum zu, programmiert sich in ihren Handlungen und Gefühlen, um diesen und andere ähnliche Vorwürfe zu vermeiden. Eine andere putzt und wäscht täglich bis in den späten Abend, um den als Kind oft gehörten Vorwurf, sie sei eine Schlampe, zu entgehen.-

 

In der Verletzung der Schutzstrategie, von Normen und Regeln, sich etwa an Regeln der Konstanz, Prinzipien, Konsequenz und Eindeutigkeit nicht zu halten, kann ebenfalls die Entwertung liegen. Dann könnte jemand als wankelmütig, untreu, prinzipienlos, inkonsequent o. ä. beschuldigt werden.

Der psychische Tod, die existentielle Schande kann auch den körperlichen Tod zur Folge haben wie bei der Blutrache oder in totalitären Systemen, wo andere Überzeugungen mit der Vernichtung bestraft werden. Oder bei Folterungen wird neben dem körperlichen Schmerz vor allem mit seelischer Entwürdigung und Demütigung gearbeitet, wobei die Demütigung, wie Analysen von Gefolterten zeigen, die schlimmeren und tiefer gehenderen Folgen in der Seele hinterlassen als die körperlichen Schmerzen. - Den Grund sehe ich darin, daß der seelische Schmerz der existentiellen Demütigung weniger zugelassen werden und zur Sprache kommen kann als der körperliche Schmerz. Ähnlich ist es bei psychosomatischen Symptomen, wo eher der körperliche Schmerz als der dahinterstehende seelische Schmerz ausgedrückt wird. Seelische Schmerzen enthalten häufig stärker im sozialen Kontext die Entwertung. Ist das Unaussprechliche erst mal zur Sprache gekommen, hat es einen Teil seines Schreckens verloren, ist aussprechbar geworden. - Insofern sind beide Bedrohungen eng miteinander verbunden. Ein ungehorsames Kind kann mit Essensentzug bestraft werden. Dann kommt zur seelischen Bestrafung, nämlich böse und ungehorsam zu sein, die körperliche Strafe hinzu. Manchmal werden Kinder gezwungen, die das Essen ausgekotzt haben, die Kotze wieder aufzuessen. Neben dem körperlichen Ekel kommt die Erniedrigung hinzu. Dabei haben Eltern oft genug durch ihren Befehlston den Ungehorsam und die Strafe herausgefordert.      

Zuschreibungen und Definitionen, was eine Entwertung ist, wann eine Person entwertet wird, existieren meist schon vor der Geburt des Menschen. Sie werden je nach Kultur traditionell von Generation zu Generation weitergegeben. Dieser Tatbestand wird etwa im christischen Mythos der Erbsünde, der Schuld und Sünde allein durch die Geburt, festgehalten. Ein weiteres Beispiel - in den meistgelesenen pädagogischen Büchern des letzten Jahrhunderts ging Schreber vom Bösen im Kind aus, das er im eigenen Willen und Trotz des Kindes sah, der dem Kind um jeden Preis ausgetrieben werden müßte. Diese Überzeugung lebt in vielfältiger Form, meist subtil, fort, etwa in der Überzeugung "Kinder machen ohne Druck und Zwang keinerlei Schularbeiten, müssen zu ihrem Glück gezwungen werden". Selbst als Erwachsene sind sie überzeugt, ohne Druck und Zwang nicht diese und jene Dinge bewerkstelligen zu können.

 

Die Inhalte und bilder bestehen schon vor Geburt der Kinder und werden durch die Umgebung an das Kind herangetragen. Die Eltern haben sie von ihren Eltern übernommen, diese von ihren und so weiter. Familienkulturen haben ähnliche Traditionen wie Religionen. Die Bedrohung eines Kindes hat also eine Mehrgenerationsperspektive. - Eine Ahnung, wie eine Person im Netz zappeln kann, habe ich bei mehreren Epileptikern bekommen. Die Urgroßmutter, die Großmutter, die Mutter und Tante haben schon gesagt, daß du derjenige bist, der .... Da das zutiefst verurteilende Stigma schon über Generationen benannt wurde, der Epileptiker es schon immer gehört hatte und alle daran glauben, ist auch er voll überzeugt und zappelt im epileptischen Anfall, in meinen Augen einer Art ohnmächtigen Wut- und Angstanfall, wie die Fliege im Spinnennetz. Nach meinem Verständnis spricht man deshalb auch vom Morbus sacer, der heiligen Krankheit. -

         Daß ein Kind sich die Bedeutungen und Bewertungen zu eigen macht, verinnerlicht, führe ich darauf zurück, daß der Mensch eine biologische und psychologische Frühgeburt darstellt. Dies stellt eine Chance und eine Gefahr zugleich dar, je nachdem in welcher Umgebung er aufwächst. Sein unabwendbares Schicksal für sein Menschsein ist, den Glauben und die Überzeugungen seiner Umgebung zu übernehmen und sich zu eigen zu machen. Der Mensch bezieht in seiner Entwicklung als Kind sein Selbst- und Weltbild mit allen Bedeutungen und Bewertungen unausweichlich aus seiner Umgebung. Wächst er ohne menschliche Umgebung auf, wie in dem Buch "die wilden Kinder" beschrieben, reift er nicht zu dem, was einen Menschen in seinen psychologischen, psychosozialen und kulturellen Bezügen ausmacht.

Die Umgebung lebt ihm ihre Überzeugungen mit Leib und Seele vor, lebt nach dem, was sie glaubt, was ist. In seiner Identifikation lebt der Heranwachsende ebenso nach diesem Glauben. Diese innere Realität setzt der Mensch in seinem Handeln in äußere Realitäten um. Die Vergangenheit und Erfahrungen eines Menschen prägen seine Gegenwart und als wichtigste Dimension vor allem seinen Zukunftsentwurf. Anders ausgedrückt, stellt der Mythos der Vergangenheit die Vision der Zukunft dar. Durch die Handlungsumsetzung wird die Erfahrung der Vergangenheit zur selffulfilling prophecy, der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Zerlege ich das Wort Überzeugung in seine Bestandteile "über" und "Zeuge" und "Zeugnis", besagt allein dies Wort das Hinüberkommen der Vergangenheit in das Zeugnis von Gegenwart und die Erzeugung von Zukunft. Durch die Erfahrungen und den Vergangenheitsentwurf werden Gegenwart und Zukunft erzeugt und konstruiert. Man könne auch von Wirklichkeits- bzw. Realitätskonstruktion sprechen.

         Da im absoluten Sinne alle Menschen unterschiedliche Erfahrungen besitzen, ist die Realitätswahrnehmung unterschiedlich und nie absolut gleich. Gegenseitiges Verständnis ist nur über gemeinsame Erfahrungen, Parallelen und Ähnlichkeiten möglich, aber nie im absoluten Sinne. Dieser Sachverhalt ist beim Rechtsstreit bei Erinnerungen und Zeugenaussagen von ausschlaggebender Bedeutung. Die Erinnerung kann nie absolut gleich sein. Die Nichtbeachtung führt zu einem rechthaberischen Streit und zu Zerstrittenheit, oft einem Machtkampf, wer nun recht hat, um Unterlegenheit und Überlegenheit. Der Unterlegene muß dann zusehen, daß er beim nächsten Mal die Oberhand behält, und so kann es unendlich weiter gehen. Ein Sieg ist ein Pyrrhussieg.  Ein Richter, der an die absolute Wahrheit glaubt, mag bei Zeugenaussagen in heillose Verwirrung geraten, wo die Wahrheit liegen mag. Am Beispiel der Depression führt allein der lineare Entwurf einer despressiven Vergangenheit zu einer depressiven Zukunft und einem noch tieferen Absturz in Depression und Hoffnungslosigkeit.

 

Meiner Ansicht nach besitzt die am meisten anwesende Person mit ihren verbalen und nonverbalen Mitteilungen in Gestik und Mimik die stärkste Prägekraft. In unserem Kulturkreis ist dies meist die Mutter, manchmal auch die Großmutter, der Vater oder wechselnde Personen.

Je nach Familienbildern und -mythen wachsen viele Menschen mehr oder weniger in einem Klima von vielfältigen Bedrohungen auf. Auf Schritt und Tritt werden sie verfolgt "paß`auf..., hast du bedacht..., blamier`dich nicht...", oder "blamier`mich nicht". Überall bestehen Fallen und Fettnäpfchen. Oft stellen sie sich erst im Nachhinein heraus, wo das anfangs noch unwissende und unschuldige Kind hineingerät. Dann bleibt der Makel, die Blamage an ihm hängen. Es gerät in Angst und Spannung und wird oft mit nicht weniger Angst und Spannung beobachtet und kontrolliert.

       Wie der Satz "blamier`mich nicht" schon andeutet, bedeutet die Blamage des Kindes oft genug die Blamage der Umgebung und der Eltern. Sie machen sich die Blamage des Kindes zu eigen, fühlen sich für den guten Ruf und das Image ihres Kindes verantwortlich, weil es zugleich ihren eigenen Ruf bedeutet. Die Kinder werden narzißtisch besetzt, sind sozusagen die erweiterte eigene Person, ein erweitertes Selbst, getreu dem Spruch "der Apfel fällt nicht weit vom Stamm". Durch diese gegenseitigen Identifizierung, das Kind macht sich die bedrohlichen Bedeutungen und Bewertungen der Eltern zu eigen, die Eltern sich das Kind zu eigen, kann eine von Bedrohungen belastete Kindheit zu einem Drama und zur Hölle für alle Seiten werden und zu Krankheitsanfälligkeit führen. Streß ist bekanntermaßen gesundheitsschädlich.

Durch die gemeinsame Bedrohung wird nicht nur den Eltern eine ungeheure Macht über ihre Kinder zuteil, sondern den Kindern ebenso eine ungeheure Macht über ihre Eltern. Sie können ihre Eltern wahrhaftig erzittern lassen und gerade das tun, was ihre Eltern am meisten fürchten. Die heftigsten Kämpfe finden meist in Schwellensituationen der Autonomieentwicklung und Loslösung wie Trotzphase, deshalb die Bezeichnung Trotzphase, und Pubertät statt. Insofern verstehe ich den Herrn Schreber, da die ungeheure Macht des Kindes um jeden Preis gebrochen werden muß. Derartig gebrochene Menschen sind beispielsweise Schizophrene, am deutlichsten sichtbar, wenn sie am Sonntagnachmittag in der Anstalt von ihren Angehörigen bei Kaffee und Kuchen besucht werden und die heilige Familie in trauter Harmonie vereint ist und die Gebrochenheit am deutlichsten sichtbar ist. Sicher haben auch die weit verbreiteten Rückenschmerzen mit dem Gebrochensein zu tun. Schon alleine in der Beugung „halt dich gerade!“ kommt die Anspannung zum Ausdruck.  Folgerichtig ist ein Sohn Schreber schizophren geworden - er schrieb das Buch "Denkwürdigkeiten eines Geisteskranken", auf das sich auch S. Freud bezog - und einer hat Selbstmord begangen.

 

Abwehrmaßnahmen der Bedrohung

 

Was haben nun die Bedrohungen des Selbst mit dem Fluß des Lebens zu tun? Offenheit, Sicherheit und ein kontinuierlicher Fluß des Lebens sind nur ohne gravierende Bedrohungen möglich. In den Bedrohungen wird ein Ende des Lebens, also auch des Lebensflusses gefürchtet. Die Abwehrmaßnahmen dienen also dazu, den Lebensfluß aufrecht zu erhalten und Offenheit und Sicherheit wieder herzustellen. Es werden alle Anstrengungen unternommen, dies zu verhindern und das innere und äußere Gleichgewicht durch Abwehr dieser Bedrohungen aufrecht zu erhalten.      

Mir geht es darum aufzuzeigen, daß und inwieweit gerade durch die Abwehrmaßnahmen der Fluß des persönlichen Lebens erheblich gestört wird und die Bedrohungen nicht nur gedämpft, sondern oft sogar verstärkt werden. Sicher können die Abwehmaßnahmen vorübergehend einen entlastenden und stabilisierenden Effekt erzielen.  Es geht dabei um das innere Gleichgewicht einer Person und um das Gleichgewicht im Zusammenhang mit anderen Personen, die zu dieser Person in Beziehung stehen, also Systemen wie Familien, größeren Gruppen und Staatsgebilden. Bedrohungen des inneren und äußeren Gleichgewichtes beeinflussen sich gegenseitig. Ein im Gleichgewicht gestörter Mensch übt instabilisierenden Einfluß auf die Umgebung aus und umgekehrt, eine Wechselwirkung. Neben Verhaltensweisen des Einzelnen, auf die äußere Umgebung Einfluß zu nehmen, gibt es innerpsychische Abwehrmechanismen, - diese sind die Verinnerlichungen der äußeren Einflüsse. Die inneren Abwehrmechansimen bleiben jedoch nicht im Inneren, sondern wirken sich wiederum auf die äußere Realität aus.

Beeinflußmöglichkeiten der äußeren Bedrohung sind Sicherheiten zu schaffen, alles im Leben klar, eindeutig und berechenbar, möglichst für alle Zukunft, also endgültig, zu machen. Dann kann nichts mehr passieren. Im Unberechenbaren, im Wandel des Lebensflusses, in Mehr- und Vieldeutigkeiten, vor allen Ambivalenzen liegen Unsicherheiten und diese können die verschiedensten Gefahren bergen. Klarheit, Eindeutigkeit und Ambivalenzfreiheit sind die erstrebten Ziele. Dazu werden Regeln und Normen oder auch Programme geschaffen. Je größer die Gefahren, desto enger die Normen und umso weniger Spielraum besteht.

Im Verlaufe der Zeit können die Ursprünge der Bedrohungen verloren gehen, vor allem, wenn die Normen von Generation zu Generation als Tradition weitergegeben werden. So kann der ursprüngliche Sinn von Abwehr- und Hilfsmechanismen nach Erfahrungen von Krieg, Vertreibung, Hungersnöten, Seuchen und Naturkatastrophen über Generationen hin verloren gehen, und diese bleiben als Normen, Regeln, Gesetze und Verhaltensweisen in einem anderen Rahmen wie in besseren, weniger bedrohlichen Zeiten übrig. Derartige Normen und Verhaltensweisen können sein, Militarismus, Raffen von Grundbesitz, Vorratsbeschaffung, übermäßige Ernährung, um sich sozusagen einen Ranzen zur Vorbeugung von Hungersnöten anzufressen, zwanghafte Sauberkeit und Hygiene zur Vorbeugung von Krankheiten und Seuchen, oder auch Ausdauer- und Überlebenstraining. In rigiden und stringenten inzwischen unnötigen Normen können die alten Ängste fortleben. Dann erscheinen die Normen als eigenständige Wesen, denen Hintergründe und Sinn fehlen und oft nicht mehr einsichtbar sind. In der Verletzung der Norm taucht die Bedrohung jetzt als narzisstische Entwertung wieder auf. Jede Person, jede Familie, jedes Volk, jede Kultur hat ihre Normen, die das zwischenmenschliche Miteinander regeln soll. Sind diese Normen bedroht, wird versucht, sie mit Druck und Zwang, wobei ein wesentliches Mittel das der Entwertung ist, durchzusetzen.

 

Der naheliegenste und ureigenste menschliche innerpsychische Automatismus und Abwehrmechanismus ist meiner Ansicht nach die Verleugnung. Die Verleugnung führt im Falle der Vernichtungsangst sozusagen wie ein Donnerkeil dazwischen und trennt die Zusammenhänge, die Kontinuität und den Fluß des Lebens, der Person und ihres Umweltzusammenhangs, sowohl in der horizontalen als auch in der vertikalen Dimension, also im Gegenwarts- wie im Vergangenheits- und Zukunftsbezug. Ein Mechanismus, der zur Erhaltung und Kontinuität der inneren und äußeren Stabilität dient, führt als Folge zur Diskontinuität. Er mag eine gewisse Tragkraft haben, birgt aber erneute Gefahren. Weiterhin kommt hinzu, daß allein durch die Tatsache der Verleugnung, der bedrohliche Inhalt zusätzlich erhoben wird. Ansonsten hätte er ja nicht verleugnet werden müssen. Der Vogel Strauß beschwört sozusagen die Gefahren, vor denen er den Kopf in den Sand steckt. Und durch die Verleugnung der Wahrnehmung kann er sie nicht orten, auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen und so entzaubern.

Die Verleugnung führt zu einer Spaltung. Die Welt wird aufgespalten in zwei und mehr Teile und unterbricht die Zusammenhänge.  Bei vielfache Bedrohungen können viele Zusammenhänge aufgespalten werden, sodaß die Welt wie ein vielfach zerbrochener Spiegel erscheint. Umso mehr werden Sicherheit in Klarheit und Eindeutigkeit wie in einem klaren unzerbrochenen Spiegel gesucht. Die Spaltungen sind  also ein Folge von ubiquitären Bedrohungen. In ihr werden die verschiedensten Anteile in zwei Lagern zusammen geführt, schwarz - weiß, gut - böse, richtig - falsch, oben - unten, Vor- und Nachteile, inneres - äußeres, so daß nur das Äußere gilt und das Innere abgespalten ist. Dann wird ausschließlich Wert auf das Äußere gelegt und der Zusammenhang zum Inneren nicht gesehen wie oft in der Beurteilung von Menschen. Bei der Spaltung von Gemeinsamkeiten und  Unterschieden werden nur die Gemeinsamkeiten, aber nicht die Unterschiede, oder die Unterschiede, aber nicht die Gemeinsamkeiten etwa zwischen Kulturen nicht gesehen.  Weiterhin geht der Realitätsbezug zwischen den beiden Seiten verloren, daß es nämlich kein gut ohne böse gibt, kein richtig ohne falsch.  Bei der Spaltung kommt also zur Verleugnung der Mechanismus der Zusammenführung und Pauschalisierung hinzu, so daß die verschiedensten Anteile in 2 Lager zusammen geführt und pauschalisiert werden.

 

Die Spaltung ist nicht nur eine aktive meist unbewußte Abwehrmaßnahne zur Vermeidung einer aktuellen Bedrohung, sondern auch eine weit verbreitete Weltsicht, die Welt sozusagen gespalten wie gut - böse oder schwarz - weiß zu erleben. Sie wird über Generationen weitergegeben.  Bestehen beispielsweise 2 oder mehrere verschiedene Meinungen, so kann nur die eine oder die andere richtig sein, und nicht etwa, daß jeder für sich und aus seiner subjektiven Sicht recht hat. Es entsteht ein Rechtsstreit bzw. ein Machtkampf, wer nun recht hat, und die Rechthaber machen sich gegenseitig das Leben schwer. Entscheidungen fallen besonders schwer, weil entweder das eine oder das andere richtig ist, und nicht der jeweilige Weg, jeder für sich, seine Vor- und Nachteile hat. An der Schwelle von Entscheidungen ensteht oft eine Angst- oder Paniklähmung. Wird sich doch einmal entschieden, so kann der innere, oft auch äußere Rechtsstreit im nachhinein weitergehen, artikuliert als innerer Krieg oder Selbstzweifel, war nun das eine oder andere richtig. Den nachträglichen Selbstzweifel finde ich oft bei Depressiven. Sie können sich das Leben noch nach den Entscheidungen zur Hölle machen, wodurch wiederum Entscheidungen gefürchtet werden.

Die Folge der Spaltung ist eine Unvereinbarkeit oder Ausschließlichkeit. Die Spaltung ist die Voraussetzung von unlösbaren Konflikten. Bei pathologischen Ängsten wie Phobien und Angstneurosen finde ich regelmäßig derartige zerstrittene Hintergründe. Dadurch werden Eindeutigkeiten und eine Starre geschaffen, die wiederum illusionär und künstlich sind und den Realitäten des Lebens in keiner Weise Rechnung tragen.

Dazu möchte ich einige verbreitete Beispiele bringen. Bei Vorwürfen wird nicht wahrgenommen, daß die vorgeworfenen Inhalte oft mehr mit dem Vorwurfsvollen als mit dem Objekt zu tun haben. Die Geste des offen vorgestreckten Zeigefingers und der drei unter der verdeckten Hand zurückweisenden Finger zeigt dies deutlich. Ähnlich ist es mit der Schuldfrage. In unserer Kultur ist es tief verankert, ist eine Sache schief gegangen, an der mehrere beteiligt sind - z.B. schlechte Noten eines Kindes (Eltern, die durch Drohungen oder eigene Ängste dem Kind Angst gemacht haben, sodaß es nicht in Ruhe seine normale Leistung erbringen kann, oder es in den Trotz getrieben haben, Lehrer mit einem schlechten Unterricht und Leistungsdruck, unter den meistens die Eltern das Kind gesetzt haben) - die Schuld an einer Person oder einer Gruppe, meist am Kind fest zu machen. Hier besteht eine Spaltung des Zusammenhanges der Beteiligung mehrerer Personen. Die Mitverursachung wird nicht wahrgenommen. Einer dient für alle, "den letzten beißen die Hunde", die Schuld wird am Schwächsten festgemacht, der sich am wenigsten wehren kann. Ebenso ist es bei der Sündenbock- oder Schwarze-Schaf-Rolle, wo einer die Fehler aller abkriegt.

Die Klärung der Schuldfrage kann andererseits als Abwehr der Scham aller Beteiligten über das eigene Versagen oder der Lächerlichkeit, so naiv zu sein, daß die Schuld nur beim Kind liegt, und der Schwäche, daß alle mit dem gemeinsamen Konflikt so wenig fertig werden und dem Schwächsten aufladen, aufgefaßt werden. Ähnlich ist es bei Verletzungen oder Kränkungen. Der Verletzte sieht die Ursache der Verletzung meist am anderen. Dieser habe ihn verletzt. Er sieht nicht, daß der Boden bei ihm vorbereitet ist, er dafür empfänglich ist und insofern die Verletzung schon ihn sich trägt. Ansonsten käme sie gar nicht bei ihm an. Er würde zurückweisen "das hat doch mit mir nichts zu tun" oder "was redet der für einen Quatsch". Ähnlich ist es bei Vorwürfen, die Verletzungen darstellen. Übernimmt derjenige, dem etwas vorgeworfen wird, die Schuldgefühle, kann dies nur passieren, wenn in seinem Inneren schon entsprechende und dazu passende Schuldgefühle und Verletzungen vorhanden sind. Und dass die Vorwürfe beim andern ankommen, dafür kann der Vorwerfende herzlich wenig.

Ein weiteres Beispiel ist die Spaltung in Optimisten und Pessimisten. In der Vorausschau verschiedener möglicher guter und schlechter Ergebnisse und Ausgänge verleugnet der Optimist die schlechten Möglichkeiten, der Pessimist die guten. Der Pessimismus, etwa als Unken-, Kassandrarufe, Schwarzmalerei, den Teufel an die Wand malen, führt zu einer Zukunftsangst. Ähnlich werden bei der Verlustangst nur die Verlustseiten, nicht die Gewinnseiten gesehen, etwa größere Freiheiten und neue Möglichkeiten. Da der Mensch handelt nach dem, was er glaubt, was ist, wird er die Neigung haben, sich so zu verhalten, daß die Verlustangst sich bestätigt, etwa sich so zu verhalten, daß er nicht den Bezug zu neuen Objekten eröffnet, also ein Einsamkeitsverhalten.

Eine Form, man könnte auch sagen Folge der Verleugnung verschiedener Anteile und Facetten, ist der Pars-pro- toto- Glauben. Ein Teil wird zum Ganzen erklärt, die anderen bedrohlichen Teile werden verleugnet. Daß ein Sachverhalt von vielen Seiten zu sehen ist, ein Mensch mehrere Seiten hat, die zum Teil nicht sichtbar sind oder erst bei entsprechender Provokation und äußerer Einflußnahme in Erscheinung treten, jede Medaille 2 Seiten oder ein Facettenauge viele Facetten haben, wird nicht zumindest in Bedrohungssituationen wahrgenommen. Vieldeutigkeit wird dabei zur Eindeutigkeit. Es gibt nur ein einzig Wahres. Ein Facettenauge besteht danach nicht aus vielen Facetten, sondern aus einer. Damit wird illusionäre Klarheit und Eindeutigkeit erreicht und illusionär Unsicherheit vermieden. Die Schuldfragenzuweisung, Sündenbockstrategie und Verletzungen könnte man unter dem Gesichtswinkel des Pars-pro-toto auffassen.

An der Medaille läßt sich besonders leicht verdeutlichen, inwieweit die Sichtweise von der Position abhängt. Sitzen Zwei sich gegenüber, sehen sie zwangsläufig jeweils die andere Seite. Bei der Medaille als einfachem Beispiel weiß jeder, daß es noch eine unsichtbare andere Seite gibt. Man braucht sie auch nur umzudrehen. Sitzen Zwei nebeneinander, sind die Unterschiede der Sichtweise nur noch gering wahrnehmbar, aber vorhanden. Ist eine Seite bedrohlich und wird sie verleugnet, ist sie für den Bedrohten nicht mehr sichtbar, nur für den, der keine Bedrohung sieht. Gleichlautende Inhalte müssen je nach der Art der Vorerfahrung und der Verleugnung, je nachdem, was hinein gelegt wird, verschieden erlebt werden. Sie sind also keine gleichlautenden Inhalte mehr. Noch deutlicher wird der Einfluß von Position und Beleuchtung am Schatten. Es ist zwar nicht möglich, über den eigenen Schatten zu springen, aber es ist möglich, durch Positions- und Beleuchtungsveränderung so zu variieren, daß er eventuell nicht mehr bedrohlich ist.

Eine Form, die Veränderungen abzuwehren, ist Inhalte für immerwährend, ewig oder endgültig festgelegt wahrzunehmen. Eindrücke, Vorstellungen, Phantasien, bilder sind nicht vorläufig, flüchtig  und vorübergehend, sondern endgültige, unabänderliche, unerschütterliche, unverrückbare, immerwährende, ewige Tatsachen bzw. Realitäten. Am Endgültigen kann nicht mehr gerüttelt werden. Die Parallele zu totalitären Ideologien und Religionen liegt nahe. Dies führt in meinen Augen zu einer Form der Spaltung, die ich die Umgekehrte Spaltung, bis mir ein besserer Begriff dazu einfällt, nennen möchte. Da die unvereinbaren Anteile der Spaltung nicht nebeneinander bestehen können, werden sie einfach zusammengeführt und gleichgesetzt. Dann bestehen nicht mehr verschiedene Glaubensinhalte und Überzeugungen, sondern alle teilen einen gemeinsamen Glauben und eine gemeinsame, unveränderbare Überzeugung. Durch die Umgekehrte Spaltung entstehen Verwechslungen, Koppelungen, Paradoxien, Pauschalisierungen, Gleichsetzungen.

In Therapien fällt mir besonders auf, inwieweit die Gleichsetzung bzw. Koppelung von Verstehen, Verständnis mit Akzeptieren und Protestunterdrückung eine Versöhnung behindert. Wenn der Patient, versteht, auf welchem Hintergrund die Eltern ihr ihn mißhandelt, in seinem Lebensweg behindert, aber dies nicht bewußt in böser Absicht getan haben, sogar nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt haben, meint er, er müsse das Handeln entschuldigen. Er verbindet damit, er habe kein Recht mehr auf seine Position und Gefühle, müsse seine Wut unterdrücken. Da er seine Position, seinen Standpunkt verliere und gewissermaßen in den Eltern aufgehe, könne er zur Selbstbewahrung keinerlei Verständnis haben. Verstehen bedeutet im gleichsetzenden Kontext bzw. in der Identifikation mit dem anderen Selbstverleugnung, -unterdrückung, Entrechtung und eine Entdifferenzierung der verschiedenen Standpunkte und Personen.  

Zu den Folgen der Abwehrmechanismen gehört bzw. dazu subsummiere ich, die verschiedenen Möglichkeiten des subjektiven Glaubens auszuklammern und objektiv zu wissen. Subjektiver Glauben wird zu objektivem Wissen und objektiver Wahrheit. Subjektives Wissen, Subjektivität würde Unsicherheiten und somit Bedrohung bedeuten, ist etwas unerträgliches und wird in objektive Wahrheit umgewandelt. Vor allem in aufgrund der Aufspaltungen verwirrenden, paradoxen und zerrissenen (Familien)Zusammenhängen - je zerrissener desto allmächtiger und absoluter - besteht die Neigung, ein allmächtiges Wissen zu entwickeln, sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit. Es schon immer genau vorher und danach gewußt zu haben, als allmächtige Prophezeiung und mit nachträglicher Besserwisserei. Zu Familien, wo psychosenahe Mitglieder verwirrt und zerrissen sind, gehören im allgemeinen allwissende Miglieder, die mit ihrem Wissen die Verwirrten auf den richtigen Weg zu führen und zu helfen versuchen, natürlich aufgrund ihrer eigenen hintergründigen Zerrissenheit scheitern müssen und die Krankheit verstärken. Hinzu kommt, dass die Kranken gerade mit ihrer Zerrisenheit und Verwirrung sich gegen die Allwissenheit wehren und diese zum Absurdum zu führen versuchen.

Auch die Wissenschaft dient dazu, wie der Name schon sagt, Wissen zu schaffen. Wissen und Objektivität schützen vor Bedrohungen. So erkläre ich mir die Wissenschaftsfaszination und -gläubigkeit. Da jedoch das Wissen von Subjekten geschaffen wird - auch Naturwissenschaftler bauen ihre Versuche nach subjektiven Vorstellungen auf, mit denen sie dann diese beweisen - besteht oft neben einer Wissenschaftsgläubigkeit eine -ungläubigkeit. Es wird durchschaut, daá durch die Umsetzung subjektiver Vorwegnahmen und die Handlungsumsetzung Resultate geschaffen werden, die noch lange nicht objektive Realität darstellen. Neulich sagte mir ein Bekannter, die Statistik, eine Form der Wissenschaftlichkeit, die die Verschiedenartigkeiten in handbare, greif-, faßbare Ergebnisse umzuwandeln sucht, sei wie eine Hure, die ihre Ergebnisse nach dem richte, der am meisten bezahle.  Darin kommt die Interessensausrichtung der Wissenschaft zum Ausdruck.                                                                                                 

Zurück zur Verleugnung: Bei der Verleugnung bleibt es jedoch meist nicht. Die verleugneten bedrohlichen Inhalte sind nur vorüber gehend verschwunden. Oft taucht das Verleugnete bei anderen Personen und Inhalten erneut auf. Vergleichsweise leben die früheren Untaten des Schloßherren in späteren Generationen als Schloßgespenst wieder auf. Bleibt die eigene Person gut, ist der andere böse, falsch, schwarz. Man spricht von Projektion. Etwa projiziert der Rechtsradikale, er ist radikal auf der Seite des Rechts, sein bedrohlich entwertetes Selbstbild auf Juden oder Ausländer. Diese sind die Bedrohlichen und Bösen, und er der Gute. Deshalb müssen Rechtsradikale ein ihr Selbst bedrohliches Selbstbild besitzen, das sie radikal los werden müssen.

Der Jude oder Ausländer wird jedoch das projizierte bild nicht übernehmen und sich selbst als Bösen erleben. Dies geschieht in engen Beziehungen mit gemeinsamen bildern und Überzeugungen etwa in der Mutter-Kind-Beziehungen, wo die Mutter auf ein noch ungeprägtes Kind trifft, oder in engen Partnerschaften, die sich aufgrund ähnlicher bilder und innerer Verwandschaften gefunden haben. Die Mutter projiziert ihre existentiell bedrohlichen Inhalte, etwa eine schlechte Mutter zu sein, auf ihr Kind und dieses identifiziert sich mit Ihnen. Es ist dann das böse Kind. Man spricht von Projektiver Identifizierung. Da es daran glaubt, verhält es sich entsprechend der inneren Realität. Hinzu kommt, wenn es schon immer als böse hingestellt wird, ist gar zu verständlich, daß es böse wird. Weiterhin wird es versuchen, diesem bild nicht zu entsprechen und möglichst das Gegenteil, der/die Gute zu sein. Es wird sozusagen verführt, das Gute und das Böse zu sein. Dies kann sich jedoch nicht gleichzeitig, sondern muß sich nacheinander abspielen. Es schwankt zwischen Gut- und Bösesein im zeitlichen Ablauf. Eine böse, ihr Kind entwertende Mutter prägt also ein gutes und böses Kind zugleich. Hinzu kommt, daß eine Mutter nicht nur ein böses, sondern auch ein gutes Kind haben möchte, auf das sie und dann auf sich selbst stolz sein zu kann. Das Kind wehrt sich, indem es dies verweigert und somit zurückschlägt. Ebenso kann das Kind zurückschlagen, indem es das Bösesein verweigert und immer nur gut ist. Dann fällt das Böse auf die Mutter zurück. Sie mag in ihrer Wahrnehmung in Verwirrung geraten und an sich selbst zweifeln. Die Projektive Identifizierung kann also zu einer heillosen und paradoxen Verwirrung beider Seiten und zu einem Streß ohne Ende führen. Sie prädesteniert zu schweren Persönlichkeitsstörungen, entweder der einen oder der anderen Person. Dann kann die Mutter ihr krankes Kind oder dieses die kranke Mutter betreuen, und die Verhältnisse sind wieder klar.

           Wenn ich so die Wechselbeziehungen und Mechanismen in der Projektiven Identifikation beschreibe, kann ich mir vorstellen, dass dies für einen außenstehenden Leser schon eine Zumutung ist, er herzlich wenig durchblickt, wo vorne und hinten oder Kopf und Füße sind. Um wie viel stärker muß dies für jemanden sein, der in diesem System steckt, ihm ausgeliefert ist. Der kann dabei verrückt werden, und viele werden tatsächlich verrückt.

Durch die Übernahme der Überzeugung der Mutter ins eigene Selbstbild und gleichzeitige die Identifizierung mit der Mutter wird es sozusagen von innen kontrolliert bzw. regiert. Das Kind wird nach Mutters bildern behandelt, es wird auf es eingewirkt, was seine Überzeugung verstärkt. Es verhält sich nach dem inneren Glauben, ist also nach diesen Kritierien schlecht und böse. Dabei kann sich die Mutter gegenüber einem bösen Kind wiederum gut fühlen. Schließlich gehört zu bösem das Gute. Hinzu kommt, daß ein Mensch, von dem immer behauptet wird, wie schlecht und böse er ist, trotzig reagiert. Es sagt sich "jetzt erst recht" oder "wenn du das immer sagst, sollst du recht haben" und verstärkt durch den Trotz sein böses Verhalten. Gleichzeitig fällt die Schlechtigkeit des Kindes auf sie zurück. Bei einem schlecht erzogenen Kind ist sie ja folglich eine schlechte Mutter. Eine gute Mutter hat auch ein gutes Kind zu haben. Deswegen muß das Kind gut sein und zwar oft nicht in Teilverhaltensweisen, sondern insgesamt als ganze Person.

           Mutter und Kind sind innerlich zerrissen aufgrund der Unvereinbarkeit von gleichzeitigem gut und schlecht. Beide glauben und glauben zugleich nicht, sie sind schlecht und mssen zugleich gut sein. Es ist eine Illusion zu glauben, die Mutter habe aufgrund ihres Definitionsvorsprunges die höhere Gewalt, höchstens durch ihre größere Körperkraft, ihren Erfahrungsvorsprung und ihre Bestrafungsmacht, nicht jedoch in ihrer narzißtischen inneren Überzeugung. Dazu kommt, daß das Kind durch die Identifizierung mit der Mutter die Mechanismen übernimmt, sich der Mutter gegenüber genauso verhält wie diese sich ihm gegenüber und sozusagen mit gleicher Münze zurückzahlt. Dadurch gerät es wiederum in eine überlegene Position und beherrscht seine Mutter.

Ich nehme an, daß jeder derartige eng verstrickte Wechselbeziehungen mit wechselnden Unter- und Überlegenheitspositionen zwischen Mutter und Kind kennt, infolge der blinden Flecke natürlich nur bei anderen und weniger bei sich selbst. Eine solche Mutter ist selbstverständlich überzeugt, in ihrer Sorge, ihren Bemühungen und Kontrollen das Beste für ihr Kind zu wollen und getan zu haben, und wird auf sämtliches Infragestellen ihrer guten Mütterlichkeit heftig abwehrend reagieren. - Dazu ein Beispiel. Als die amerikanischen Psychoanalytiker den Begriff der "schizophrenogenen Mutter" schufen war die Psychoanalyse in weiten Teilen der Bevölkerung verpönt. In ihrem aufspaltenden Schulddenken hatten die Mütter dies als Schuldzuweisung verstanden, sicherlich auch viele Schizophrenieforscher, waren empört, daß den Müttern die Schuld gegeben würde, wo sie doch alles erdenkliche für ihre Kinder taten.- Für das Kind ist es ein Tabu, eine andere Meinung über die Mütterlichkeit zu haben als ihre Mutter. In diesem Beziehungsklima entstehen meiner Erfahrung nach schwere psychische Störungen, die somatisiert werden können als körperliche Erkrankungen. Dabei halte ich es nicht für verwunderlich, daß viele bei solchen widersprüchlichen, verstrickten und undurchschaubaren Verhältnissen nichts von der Psyche und Psychologie wissen wollen und ihr Heil in der Naturwissenschaft und dem technischen Fortschritt suchen.

Gerade als Folge dieser teuflischen Verstrickung besteht die Neigung, sich auf überhaupt nichts mehr festzulegen, völlig rauszuhalten, keine Entscheidungen zu treffen, alles vage, nebulös und indifferent zu halten. Ich spreche von dem Abwehrmechanismus der Indifferenz. Es besteht der vermeintliche Vorteil, sich vor Verwirrung und Zerrissenheit zu schützen, die absolute und unverrückbare, ewige Entscheidung vor dem Richtigen und der Bewahrung vor dem Falschen zu umgehen. Der Indifferente ist wie eine Gummiwand, nicht faßbar. Da er sich auf gar nichts festlegt, ist eine weitere soziale Entwicklung kaum oder nur gering möglich. Jedoch werden im absoluten und gespaltenen Weltbild der einzigen und ewigen Wahrheit jegliche veränderlichen Feststellungen als Wankelmütigkeit, hüh und hott, aufgefasst, verurteilt und tabuisiert.

In derartig verstrickten Beziehungen ist eine körperliche Erkrankung, wenn es auch zynisch klingt, die beste Lösung. Jeder weiß, wo er dran ist, was er zu machen hat und kann Hoffnungen auf eine Genesung haben. Die Mutter ist in ihren sorgenvollen Bemühungen um ihr krankes Kind die Beste. Dies kann sich je nach Schwere der Erkrankung und dem Ausmaß ihrer Bemühungen bis ins Heroische steigern. Sie erringt Mitleid und Anteilnahme. Konsultierte Ärzte unterstützen sie in ihren Bemühungen. Müssen sie auch, sonst werden sie nicht mehr aufgesucht und verlieren ihre Existenzgrundlage. Nur darf niemand dies makabre Wechselspiel durchschauen.         

Weiterhin hat ein Kind im Erkrankungsfalle der Mutter vor ihr seine Ruhe und sie vor dem Kind ihre Ruhe und beide können sich erholen. Die Krankheitsverführung ist insofern groß. Wenn das mit der Ruhe so wäre, meist gehen jedoch die Vorhaltungen und Ansprüche weiter. - Dazu eine Fallvignette: Ich hatte eine Gruppenpatientin, die mit ihrem Partner völlig zerstritten war und ihn nur negativ darstellte. Daraufhin fragte sie eine Mitpatientin, warum sie dann noch mit ihm zusammen blieb. Sie antwortete, weil er sie in ihrer Krankheit so schön pflege und sie sich so einig seien. Tragischerweise starb sie bald an Darmkrebs. In ihrer Krankheitspflege hatte sie mit ihm ihre einzigen schönen Stunden mit ihm gefunden. -         Bei einem MS-Patienten war mir kürzlich wieder besonders deutlich, inwieweit die Organsisation des Krankheitsgeschehens eine Spannungsentlastung beinhaltete. Als er wußte, wo er Beratung und Hilfe holen konnte, welche Behördengänge notwendig seien, war er den sonstigen Ängsten und Unsicherheiten, Ambivalenzen, bloßgestellt zu werden, zu versagen, seinem alltäglichen Streß enthoben, wußte, wo er dran war und war sich in seinem unverschuldeten Krankheitsschicksal der Anteilnahme der Umgebung sicher. Kurz, er konnte wieder Hoffnung schöpfen. Aus der Sicht der Klarheit und Sicherheit - leider - war er inzwischen in der Therapie so weit fortgeschritten, dass er in der Krankheit nicht mehr sein Lebensweg und -ziel, sondern dies in der Bewältigung seiner Probleme sah. Neue Hoffnungen konnte er sich aber auch nur deswegen machen, da er partiell Fortschritte gemacht hatte. Anfänglich wirkte er dermaßen überzeugt, die frühzeitige Organisation sei sinnvoll und bedeute Reife, daß diese Vorgehensweise und die darin enthaltene Sicherheit auf mich überging, und auch ich überzeugt war, bis mir einige Punkte und Ungereimtheiten auffielen. -

           Ähnliches wie in der frühen Mutter-Kind-Beziehung kann sich in anderen engen Beziehungen auch bei Erwachsenen wie späteren Eltern-Kind-Beziehungen und in Partnerschaften abspielen. Notwendig ist, daß bei beiden durch ähnliche Entwertungen und Abläufe aus ihrer eigenen Kindheit die Voraussetzungen geschaffen sind und sie durch ihre Seelenverwandschaft so zueinander passen. Man spricht oft von symbiotischen oder dyadischen Beziehungen.

Körperliche Störungen als Folge narzißtischer Kränkungen können von einer Person auf die andere übergehen, vor allem, wenn sie von einer Person verleugnet werden. Dann trägt eine Person die Schmerzen, die ursprünglich von der anderen ausgingen.  Dazu ein Beispiel: Eine Patientin erzählte mir von ihrer Schwester empört, wie sie ihre pubertierende magersüchtige Tochter vernichtend verurteilte. Die Tochter ließ sich bzw. ihr war nichts anzumerken. Plötzlich faßte sich die Mutter schmerzverzerrt in den Rücken, und die Tochter massierte sie wortlos wie in einem geheimen Einverständnis. Meiner Deutung nach trug die Mutter den der Tochter zugefügten Schmerz. Die unterdrückte Empörung, die emotionale Erregung, nahm die anwesende mir berichtende Schwester wahr. Ich konnte mir in meiner sadistischen Phantasie vorstellen, wie die  Tochter kräftig in den Schmerzpunkt hineinfaßte, der Mutter zusätzliche Schmerzen zufügte und sich so an ihr rächte, obwohl die Mutter sich schon selbst eigentlich genug bestraft hatte.

Der gegenteilige Mechanismus zur Projektion ist die Introjektion. Das Kind übernimmt die bösen Anteile und erhält sich somit eine gute Mutter. Schließlich will jedes Kind eine gute Mutter, muß dafür jedoch das Böse übernehmen. Auch aus dem Gesichtswinkel von Projektion und Introjektion kann man sich die Spaltung erklären.

 

Nicht so tiefgreifend bedrohliche Inhalte werden durch die Verdrängung und Verschiebung abgewehrt. Bei der Verschiebung taucht zwar ähnlich wie bei der Projektion der verdrängte Inhalt an anderer Stelle wieder auf, aber der Symbol- und Bedeutungsgehalt bleibt erhalten. Etwa bei der Claustrophobie wird die Enge des Lebens in engen Räumen wieder erlebt oder in der Carcinophobie taucht die verdrängte Krebserkrankung eines Angehörigen als Krebsangst in der eigenen Person mit vergleichbaren Inhalten und in vergleichbaren Situationen erneut auf. Bei psychosomatischen Erkrankungen, der Verschiebung seelischer Inhalte auf den Körper, werden die seelischen Inhalte verdrängt und die körperlichen Begleiterscheinungen als für den Eingeweihten übersetzbare Körpersprache artikuliert. – Sozusagen verschiedene Bewußtseinsstadien der Verdrängung bzw. Verschiebung auf den Körper habe ich früher an mir selbst festgestellt. Eine zeitlang neigte ich zu Magenbeschwerden. Ich konnte den Gedanken benennen, als Magenschmerzen auftraten. Ein andermal wusste ich, da war was gewesen, aber es war sofort weg. Oder die Magenschmerzen traten ohne erlebte bilder auf. Ähnlich erging es mir mit Rückenschmerzen. Sie treten einfach auf ohne Bewusstseininhalte. Ich kann höchstens ein Umfeld, in der sie auftraten, nachvollziehen, solange ich mein Augenmerk darauf richte. Ein andermal sind mir meine Gedanken der Situation voll bewusst z.B. ich stelle mir einen Berg von Arbeit vor, alles auf ein mal, der sich vor mir auftat. Durch die Einteilung in “eins nach dem anderen, wie der Bauer die Klöß ist, nicht zuviel auf einmal“ verschwanden die Schmerzen wieder langsam.

Es kann jedoch nicht nur innerhalb einer Person und in Bedeutungsinhalten auf einen Ort verschoben werden, sondern auch von einer Person auf die andere. Häufig wird der Konflikt eines Kindes mit der Mutter auf den Vater verschoben oder innerhalb einer Partnerschaft auf ein Kind. Dann kann eine harmonische Beziehung zur Mutter erhalten bleiben, während sich mit dem Vater gestritten wird, oder das böse oder kranke Kind trägt zur Harmonie der Partnerschaft bei.

Dazu das Beispiel eines Asthmakindes: In einer zerstrittenen Familie herrscht eine erstickende Athmosphäre. Dauerstreitpunkte können sein, daß der Vater auf seine eigene Mutter mehr bezogen ist als auf seine Ehefrau. Diese sieht sich ins 2. Glied zurückgesetzt und reagiert eifersüchtig. Um des lieben Friedens willen werden die Spannungen oft nicht ausgetragen, und das Kind lernt ebenfalls nach dem Vorbild der anderen seine Spannung und Wut über die vergiftete Athmosphäre zu unterdrücken. In besonders spannungsgeladenen Situationen mag es in Form eines Asthmaanfalles zu ersticken drohen. Meist sind beide Eltern geeint in der Bemühung dem Kind zu helfen. Solange ist ihr Kriegsbeil begraben. Es dient als Blitzableiter für Gründe, für die es nichts kann. Als ich diesen möglichen Sachverhalt einem Bekannten erzählte, der als Kind an Asthma gelitten hatte, ergänzte er trocken "und wenn sie es geschafft haben, dann liegen sie sich glücklich in den Armen". So wird ein Dritter über seinen Körper in den Streit anderer einbezogen.

Eine sehr wesentliche Form, sich gegen Bedrohungen und Anfeindungen unanfechtbar und unangreifbar zu machen, ist der der Idealisierung.  Formen der Idealisierung sind Vollkommenheit, Harmonie, Perfektion, Größe, Omnipotenz, Allmacht, Heroisierung, Idolisierung, sich selbst auf einen Thron oder ein Podest zustellen und sich als Alleskönner oder -wisser darzustellen, sozusagen über den Dingen zu stehen. Dazu rechne ich auch, sich selbst als den Guten hinzustellen, der die Güte ausstrahlt, immer nur das Beste will. Aber gerade diese als Abwehr der Bedrohung ist anfällig. In Mythen ist dieser Tatbestand etwa in der Sage von Siegfried oder der Achillesferse festgehalten. In beiden Mythen wird jedoch ein Rest Menschlichkeit erhalten und gerade an dieser Stelle schlägt das Schicksal zu.  Je tiefer die Selbstentwertung ist, für die die Idealisierung notwendig ist, desto höher sind meist die Ideale und desto größer ist die Spanne bzw. Diskrepanz zwischen Entwertung und Idealbild. Anders ausgedrückt, gegenüber dem Idealbild ist die Selbstentwertung umso tiefer. Bei Minderwertigkeitskomplexen oder -gefühlen bilden Größenbilder den Hintergrund und Wertmaßstab, ansonsten wäre ja nichts minderwertiges vorhanden. Gerade in dieser Diskrepanz oder diesem Spannungsfeld treten vielfältige Symptome auf.

Gelingt die Eigenidealisierung nicht, besteht die Neigung, andere zu Idolen zu erheben, sich ihnen, den Allmächtigen, anzuschließen und sich mit ihnen zu identifizieren, etwa wenn es einem Knecht nicht gelingt, auf sich selbst stolz zu sein, sondern er seinen Stolz darin sieht, einen besonders großartigen Herrn zu besitzen und zu ihm zu gehören. Ähnliche Idealisierungen spielen sich besonders in Religionen etwa bei der Unfehlbarkeit des Papstes und in Sekten ab. Die Nachfolger des Gottes wie etwa Priester oder Idoles identifizieren sich mit dem Idol. Menschen, die zu massiven Selbstentwertungen neigen, schließen sich zu ihrem Schutz Gurus und Sekten an. Eltern etwa, die um die Befreiung ihrer Kinder aus den Fängen einer Sekte kämpfen, sehen oft wenig, daß sie durch ihre Entwertungen und Ängste den Sektenanschluß gefördert haben.

An Religionen zeichnet sich die Spaltung in gut und böse, Gott und Teufel, Nonne und Hure besonders deutlich ab, außerdem inwieweit die Zugehörigkeit zu Gott und Identifizierung mit dem Göttlichen vermeintlich vor dem Bösen schützt - falls man sich an die Gebote hält, die allerdings oft so sind, daß dies nicht oder kaum möglich ist, weil sie der menschlichen Natur zuwider laufen, etwa das Verbot der Onanie oder des Ehebruches. In der Unmöglichkeit steckt die Bedrohung.

In Religionen wird vor allem die Todesbedrohung abgewehrt durch den Glauben an ein immerwährendes Leben nach dem Tode oder in anderen Kulturen durch Wiedergeburten und Reinkarnation. Weiterhin wird im hoffnungslosen, von Bedrohungen geschüttelten "Irdischen Jammertal" Trost und Hoffnung für ein späteres Glück etwa im Himmel gespendet. Das jetzige Leben läßt sich leichter ertragen, vorausgesetzt man hält sich an die Normen und Werte, sodaß die Furcht vor der späteren Strafe durch normengerechtes Verhalten gebannt ist. Diese Voraussetzung beinhaltet allerdings wie eben ausgeführt neue Bedrohungen. Insofern ist der Spruch "Religion ist Opium für das Volk" zu verstehen.

Außer der Selbst- und Fremdidealisierung rechne ich zur Idealisierung, sich ein gutes, schönes, harmonisches oder idyllisches Leben zu verschaffen, auf die Umgebung einzuwirken, sich daran zu beteiligen. Die Verführung ist groß, denn wer möchte dies nicht. Je schlechter das Leben und je zerstrittener die Familie ist, umso größer ist die Sehnsucht nach Harmonie. Besondere Gelegenheiten der Familienharmonie sind Feiertage wie Weihnachten, Geburtstage, vor allem Mutters Geburtstag und Muttertag. Die Beaufsichtigung der Harmonie, vor allem Familienharmonie, wird in unserer Kultur vor allem den Müttern zugeschrieben. Sie haben dafür zu sorgen, daß die Festtage harmonisch ablaufen. Oft genug kommen zerstrittene Familienmitglieder zusammen und müssen zwanghaft die Harmonie verwirklichen, die sich alle wünschen. Deren Verwirklichung erfordert oft übermenschliche Leistungen und Streß. Naturgemäß muß Zwang unterlaufen werden, Druck erzeugt Gegendruck, sodaß unter der harmonischen Oberfläche umso härter gestritten wird. Deshalb werfen Überforderrungssyndrome, Depressionen und andere Beschwerden ihre Schatten oft weit ins Vorfeld und ins Nachhinein von derartigen Festtagen.

 

Da das Auf und Ab, das Hin und Her, die widersprüchlichen Pole, die Wechselhaftigkeit des Lebens vielfältige Unsicherheiten und somit Gefahren birgt, besteht die Neigung diese zusammenzuführen, gewissermaßen auf einer geradlinigen Linie zu bündeln, der Linearität. Dann geht es darum, geradlinig, konsequent und zielgerichtet den Weg durchs Leben zu finden. Meist wird geradlinig von einer Ursache zu einer Folge und Wirkung geschlossen, wenn - dann. Das linear-kausale Denken ist vor allem in den Naturwissenschaften weit verbreitet. Die Wechselwirkungen, gegenseitige Bedingtheiten, Rückkoppelungen, oft die Zirkularität hat im Weltbild wenig Platz. Ein Weg ist der des "Goldenen Mittelweges" zwischen den widersprüchlichen Polen, eines uralten Menschheitstraumes. Ein anderer ist der des Fortschrittsglaubens. Zur Vermeidung des Bösen muß es unentwegt nach vorne und oben gehen, ansonsten wird der geradlinige Weg nach unten gefürchtet, sozusagen "in der Gosse zu landen".

Zu den Abwehrmaßnahmen könnte man auch die Gleichheitsregel zählen, etwa daß alle Menschen gleich sind und ihnen gleiches zusteht. Die Folge ist die Gerechtigkeit.  Man könnte auch von Symmetrie und von symmetrischen Beziehungen sprechen. In einer asymmetrischen Beziehung werden Neid, Eifersucht, Mißgunst, Schadenfreude, Rache gefürchtet. Neid besteht bei einem horizontalen Mißverhältnis, wenn einer mehr besitzt als der andere, höherwertig ist, zu ihm aufgeschaut oder herabgeschaut wird. Er setzt den Vergleich voraus. Wird nicht miteinander verglichen, jeder in seiner individuellen unterschiedlichen Position akzeptiert, spielt das Gleichheitsprinzip keine Rolle.   Im Falle der persönlichen Selbstentwertung ist Neid zwangsläufig die Folge. Da der Andere höherwertig erscheint, sozusagen auf einen Thron gesetzt wird, ist beim Vergleich die Diskrepanz oft unerträglich, sodaß dieser von seinem Thron, auf den er vorher gesetzt wurde, hinuntergestoßen werden muß. Den destruktiven Neid nenne ich zum Unterschied Mißgunst. Bestehen keine Bedrohungen können Ungleichheit und Ungerechtigkeit durchaus zugestanden werden.

Die Gleichheitsregel spielt etwa bei der Überlebensschuld bei KZ- oder Katastrophenüberlebenden eine tragende Rolle. Schließlich liegt eine katastrophale Bedrohung zugrunde. Ähnlich ist es bei der Loslösungsschuld, wenn etwa ein Familienmitglied einer zerstrittenen Familiendynamik zu entkommen versucht. Er versucht sich ein besseres Schicksal zu verschaffen und wird mit Schuldgefühlen bestraft, im griechischen Mythos die Erynnien, die Rachegötter, allerdings auf einem etwas anderen Hintergrund. Eine Patientin, die unter Bulimie litt, bekam unkontrollierte Fressanfälle, bis zufällig heraus kam, dass jeweils die Mutter vorher angerufen hatte. Dies hatte sie verdrängt. Die Mutter hatte nur einmal kurz schwer geatmet, und die Patientin schmiß wutentbrannt den Telefonhörer auf, da ihr die ganzen Schuldvorwürfe der Mutter für deren schweres Leben in den Sinn kamen. Hinterher agierte sie ihre Wut und Schuldgefühle in den Freß- und Kotzattakken aus. Später wusste ich nach bulimischen Anfällen eher als die Patientin, dass wieder Kontakt zur Mutter oder ähnliche Übertragungsobjekten bestanden hatte.

Ich hatte mehrer Fälle, wo die Loslösungsschuld durch Überlassen des eigenen Kindes an die Großmutter kompensiert wurde. Dann hatte die eigene Mutter wieder eine Aufgabe. In leichtern Fällen spielt sich dies oft ab, natürlich auch aus anderen Gründen, wenn die Mutter arbeiten geht und die Großmutter sich um das Kind kümmert. Dies kann zu vielfältigen Konflikten führen. Einmal hört das Kind mehr auf die Großmutter, diese hat größeren Einfluß und sieht in sich weniger Erziehungsaufgabe, kann den Enkel mehr „verwöhnen“ und sich beliebt machen. Die Mutter muß um ihren Einfluß auf das Kind kämpfen, ihre Erziehung und ihre Aggressionen entlädt sie auf dem Kind, schon deswegen, weil sie oft noch um die Liebe und Anerkennung ihrer Mutter kämpft, ansonsten hätte sie keine Loslösungsschuld. Das entwertete Kind muß um die Liebe seiner Mutter kämpfen, meist durch Anpassung, zumal es noch die verschobenen Aggressionen auf die Großmutter abkriegt, und Liebe und Geborgenheit bei der Großmutter suchen – ein Teufelskreislauf ohne Ende. Die oben und unten beschriebene Patientin mit Darmkrebs führte einen solchen tragischen Kampf.

Wer diesen Zusammenhang durchschaut, daß hinter Mißachtung häufig Hochachtung und die Selbstmißachtung des Entwertenden steckt, kann sich geehrt fühlen, sobald er schlecht gemacht wird. Die Mißachtung dient also dazu, die innere Beziehung zu sich selbst und Stabilität wieder herzustellen bzw. zu erhalten, stört aber die äußere Beziehung. Man könnte auch von Projektion der eigenen Missachtung sprechen. Ähnlich ist es bei Beschuldigungen. Wenn der Beschuldigte die Schuld schuldbewußt annimmt, ist der andere zufrieden, kann verzeihen und die äußere Beziehung ist wieder hergestellt, aber der Schuldige steht mit sich selbst im Clinch. Nimmt der Beschuldigte die Schuld nicht an, ist er mit sich zwar im Reinen, hat seine innere Stabilität und Harmonie gewahrt, aber der Konflikt geht weiter, und die äußere Beziehung ist weiterhin gestört. Manche machen zwar äußerlich ein Schuldbekenntnis, geben dem andern recht, gestehen dies aber innerlich nicht ein oder zeigen dies noch in einem Lippenbekenntnis und gegensätzlichen äußeren Ausdruck, wodurch der Konflikt durch die auffällige Diskrepanz oft noch verstärkt wird. Das Schuldbekenntnis spielt in Religionen als Sünde eine große Rolle. Es gewährleistet die geistige Macht und Definitionshoheit der Geistlichen. Andererseits wird sich etwa eine Beichtvater im Sündenkontext völlig überflüssig fühlen, wenn eine Sünde wie etwa die Onanie nicht mehr als eine solche angesehen wird.

So schön es sein mag, sich im Neid anderer zu sonnen. Die Mißgunst muß gefürchtet werden. Folglich versuchen sich Aufgewertete und Reiche vor der Mißgunst anderer durch Abschotten zu schützen. Noch ungünstiger sind Abgewertete dran, die ihr Selbstbild durch Aufwertung wie äußeren Erfolg zu verstecken und kompensieren suchen. Neben der eigenen Selbstdestruktion müssen sie noch die Entlarvung und die Mißgunst und Destruktion anderer fürchten, etwa wenn über Neureiche schlecht geredet wird. Aus einer anderen Blickrichtung betrachtet könnte man den Neid als etwas konstruktives sehen, als Anregung zum Wunsch, etwas zu erwerben und besitzen, was man meint, nicht zuhaben. Sollte nicht die Möglichkeit des Erwerbs bestehen, besteht die Neigung zur Destruktion des anderen, um den inneren Ausgleich zu schaffen, was ich als Mißgunst ansehe. Eine oben erwähnte Patientin, die an Darmkrebs gestorben ist, fiel mir in der Gruppentherapie besonders durch ihre wundervollen Urlaube auf, wo jeder einschließlich dem Therapeuten nur vor Neid erblassen konnte. Sie versuchte ihr Unglück durch den Neid des Umfeldes zu kompensieren.

Bei Rache und Vergeltung sehe ich neben dem Triebgewinn "Rache ist süß" die vorangegangene narzißtische Entwertung. Der Partner in der unteren Position, ihm ist ein narzisstisch kränkendes Leid wiederfahren, ist entwertet und muß zum Ausgleich versuchen, dem anderen den eigenen vorausgegangenen Schmerz und Schaden zuzufügen und wieder in die höhere aufgewertete Position zu kommen. Das ist sein Triumph. Bei der Schadenfreude hat der Eine die Freude, den Triebgewinn der Freude, wie das Wort schon sagt, und der Andere den Schaden, also eine Asymmetrie oder ein oben und unten mit Ent- und Aufwertung. Die Schadenfreude setzt „hnlich wie bei der Rache den eigenen Schaden voraus und gleicht diesen durch die Freude am Schaden des anderen wieder aus. Wie in der Physik kommunizierende Röhren um Ausgleich bestrebt sind, finden bei asymmetrischen Beziehungen unendliche Ausgleichsbewegungen in Form von Kämpfen statt. Rache und Schadenfreude sind wegen der unendlichen Spirale des Kampfes um die obere und untere Position und die damit verbundenen Schäden vielfach so verpönt, während sie in anderen in unseren Augen weniger zivilisierten Kulturen höchstes Ziel darstellen. Jedoch finden sie auch in höheren Kulturen auf der unteren, nicht offenen, oft unbewußten Ebene, also im Bauch oder Gefühl statt. Beim Ziele der Gleichheit vermischen sich in meinen Augen konstruktive und destruktive Züge. Wird beispielsweise bei der Schadenfreude nicht der dahinterstehende Schaden gesehen und infolgedessen die Freude durchaus zugestanden, wird sie als leidverursachend und destruktiv angesehen. Ähnlich wird Neid gefürchtet, wenn nicht die konstruktiven Elemente und Möglichkeiten gesehen werden.

 

Weitere Abwehrmechanismen sind abgrenzbar und werden anderweitig beschrieben, die ich jetzt jedoch nicht erwähnen möchte, weil sie in meinem derzeitigen Erkenntnisschema keine so große Rolle spielen. Der interpersonelle Aspekt ist bei den Mechanismen der Projektion und vor allem der Projektiven Identifizierung und Verschiebung ersichtlich.

Als Abwehrmechanismus erscheint mir eine zwischenmenschliche Dialog- bzw. Kommunikationsform bedeutungsvoll. Ich nenne sie Digitaler Dialog nach einem Begriff aus den Kommunikationswissenschaften. Im Gegensatz zum Analogen Dialog, wo der Mensch sich so gibt und kommuniziert, wie er ist und ihm zumute ist, weil er nichts schlimmes zu befürchten hat, muß zur Vermeidung der Bedrohung der Selbstentwertung ein bestimmtes bild hervorgerufen oder vermieden werden. Neulich las ich, die Amerikaner unterscheiden nicht zwischen Person und Image. Auch bei uns ist das bei vielen nicht anders. Danach entspricht das äußere bild der ganzen Person, ist das Innere gleich dem Äußeren. Nur das Sichtbare ist existent. Schein ist Sein. Die Unterschiede der Menschen in ihren Bewertungen und Bedeutungen werden verleugnet und nicht wahrgenommen. Selbst, Subjekt und Objekt wird nicht unterschieden. Es wird davon ausgegangen und geglaubt, daß alle Menschen dasselbe glauben, das Äußere mit der ganzen Person identifiziert und in gleicher Weise reagiert. Ohne sich dessen bewußt zu sein, ist die eigene Person der Nabel der Welt und zwar nicht nur für sich selbst, sondern für die Umgebung und die anderen Menschen gleich mit - etwas wahrhaft Göttliches. Durch die Projektion der eigenen bilder werden die anderen vereinnahmt. Insofern ist der Digitale Dialog eine Form der pauschalisierenden Spaltung. Dazu gehört die Gleichsetzung von Phantasie und Realität oder Denken gleich Glauben. Der Digitale Dialog findet nur in bedrohlichen Bereichen statt. Ansonsten kann durchaus differenziert kommuniziert werden.

Um gut dazustehen und das eigene schlechte bild im Angesicht des anderen zu vermeiden, ist also das Wichtigste, das Image zu wahren. Andere Bezeichnungen können sein, der Ruf, der gute Eindruck, das Gesicht. Der Gesichtsverlust ist in manchen Kulturen t”dlich. Und daá dies bei uns nicht viel anders ist, m”chte ich aufzeigen. Inhalte des Rufes können sein die Stärke, Souveranität, Erfolg, Achtung, Potenz, Überlegenheit, aber genauso gut Schwäche, Hilfsbedürftigkeit, Sensibilität, Verletzbarkeit, ja sogar Krankheit. Die Schwächedarstellung dient dazu, die Stärke und Hilfe anderer zu erlangen. Die größte Angst ist, entdeckt, entlarvt und bloßgestellt zu werden. Die Wahrung des Images und das äußere Verhalten dienen dem Schutz der eigenen Person. Der eigene Lebensweg kann zu einem lebenslangen narzißtischen Überlebenskampf in den Augen des Umfeldes, die die eigenen Augen sind, führen, solange nicht die bilder korrigiert oder auf ein gutes Image verzichtet werden kann. Und wie weit der Digitale Dialog verbreitet ist, sagt die Bemerkung über die Amerikaner aus.

       - Dazu möchte ich einige Fallvignetten erwähnen. In Therapiegruppen erlebte ich vor allem bei Frauen die Klage "Ich versteh` das nicht. Ich bin so ängstlich und unsicher und alle sagen mit, wie sicher und souverän ich bin. Ich fühle mich vollkommen verkannt." Auf meine Frage, was denn wäre, wenn man ihnen ihre Unsicherheit ansehen würde, kam regelmäßig "um Gottes willen, welche Schande, man würde sie für verrückt erklären, alle würden lachen, das würde ausgenutzt". Sie hatten bisher keinerlei oder nur eine geringe Wahrnehmung, daß sie ihr Wunsch- und Idealbild zur Vermeidung einer tiefen Bedrohung zum Außenbild gemacht hatten. Der Selbstbezug von Innen- und Außenbild war völlig verloren gegangen. Ich selbst konnte ihnen ihre Unsicherheit in keiner Weise ansehen, wußte aber, daß dies gerade ihr Problem war, alles zu tun, um die Selbstentblößung zu bannen. Ihre Ängste waren auch insofern begründet, dass Außenstehende sich freuen, wenn sie einen Starken bei einer Schwäche erwischen. Ihr Lachen wird von den vermeintlich Starken als Auslachen, Bloßstellung und Ausnutzen interpretiert.

Eine Dolmetscherin lebte in der fortwährenden Angst und im Streß, sie könne sich verhaspeln, anzufangen zu stottern, erröten und Schweißausbrüche bekommen, obwohl ihr das noch nie passiert war. Diese Blöße könne sie sich unmöglich leisten, sie wäre völlig unten durch. Das kleinste Lächeln oder Grinsen in den Augen anderer hätte sie natürlich in ihren Ängsten bestätigt. Erst als sie sich vergegenwärtigte, daß sie ihre eigenen bilder und Kriterien in den Augen anderer sah und diese noch lange nicht in derselben Härte sie verurteilen müßten, konnte sie entspannter ihrem Beruf nachgehen.

Eine Phobikerin konnte nie Besuch in ihre Wohnung lassen, Würde dort jemand ihr Chaos und ihre Unordnung sehen, wäre das nicht nur eine Entwertung, sondern in ihren Augen eine Entwertung hoch zehn. Vor allem Erfolgreiche fürchten das Hohngelächter weniger erfolgreicher, wenn mal Mißerfolge publik werden und müssen diese vertuschen.

In der Familie einer Patientin, Bulimikerin, bedeutete es eine unaussprechliche Schande, daß die Mutter sich als Sekretärin einen Richter des Bundesgerichtshofs "geangelt" hatte, in ihren Augen ungerechtfertigt in eine höhere Schicht geheiratet zu haben. Die Mutter und sie trugen schwer an ihrer Bürde. Bis auf wenige Eingeweihte wußte niemand Bescheid. Daß ihr erster Mann "nur" Laborant gewesen sei, verschwieg die Mutter über Jahre ihrem 2. Ehemann und sprach von Ingenieur. Da die Mutter selber gerne Anwältin geworden wäre, übertrug sie diesen Wunsch auf ihre Tochter, die von ihrer Mutter über alle Maßen in ihren Fähigkeiten hoch gelobt wurde. Ihre Mutter zu enttäuschen, trug stark zu Studienschwierigkeiten bei, wo sie zwischen Größenbildern und Versagensängsten hin und her schwankte. Zu ihren Minderwertigkeitskomplexen trug der Makel bei, die Tochter nur einer Sekretärin zu sein. In dem Zusatz "nur" steckt eine verbreitete Entwertung.

Ähnliche Entwertungen können sich abspielen, wenn Frauen, natürlich auch Männer, diese in ihrem Selbstbild oft umso mehr, in vermeintlich höhere Schichten einheiraten wie Sekretärinnen ihre Chefs oder Krankenschwestern oder Arzthelferinnen Ärzte. Ähnliche Konflikte habe ich wiederholt erlebt, wenn etwa Arbeiterkinder zu Akademiker aufsteigen. Zu ihren Studienschwierigkeiten tragen weniger ein Intelligenzmangel, sondern mehr eine Selbstzuschreibung bei, ungerechtfertigt den eigenen Wurzeln untreu zu werden oder in einem anderen Milieu mit anderen Gesetzen und Regeln nicht zurecht zu kommen und wie Ikaros abzustürzen. Ich spreche gerne von einem Ikarossyndrom.

Ich habe deshalb die Begriffe Digitaler und Analoger Dialog gewählt, weil mir an ihnen die Unterscheidung zwischen einem zielgerichteten Leben zur Vermeidung der narzißtischen Entwertungen und einem Lebensweg - einfach so wie er ist und wie man ist - besonders griffig und anschaulich erscheint. In der Digitalen Kommunikation wird der Lebensweg zu einem einzigen tragischem Streß, und es gibt nur ein Ziel, nämlich die Aufrechterhaltung des narzistischen guten bildes, in den Augen anderer des guten Rufes. Die übrigen Facetten des Lebens und die Differenzierung zwischen den Menschen gehen verloren. Durch den Verlust der Verschiedenartigkeit der Menschen und Andersartigkeit der Welt wird das Leben eintönig und langweilig. Medizinisch besteht eine außerordentliche Krankheitsanfälligkeit, und die Persönlichkeit ist ein Krankheitsrisiko. Auch wird besonders deutlich, inwieweit das gegenwärtige Leben nach den verinnerlichten bildern, Maßtäben und Kriterien, die in der Vergangenheit erworben, gegenwärtig fortleben, auf eine Vermeidung eines bedrohlichen Zukunftsentwurfes ausgerichtet ist. Die Zukunft spielt dabei die ausschlaggebende Rolle.

Es ist natürlich furchtbar anstrengend, immer eine bestimmte Rolle spielen und Angst haben zu müssen, daß etwas rauskommt oder man in Fettnäpfchen tritt, die noch dazu in manchen Kreisen und Familien durch ausgesprochene und unausgesprochene Normen überall aufgestellt sind. Die Folge kann das sogenannte Burn-out-Syndrom sein. Durch die fortwährende Anstrengung, aufzupassen, ja keine Fehler begehen, die inneren Angstspannungen und den Verlust eines interessanten und offenen, bereichernden  Lebens ist man ausgebrannt. Wer immer auf seinen Ruf bedacht ist, kann natürlich Klatsch, Tratsch und Intrigen schlecht vertragen, muß diese immerwährend fürchten und zu seinem Schutz verurteilen.

Die eigene Selbstentwertung und die Bedrohung, daß diese erkannt und bloßgestellt, offen wird, kommt ja irgendwie in den Menschen und in sein Selbstbild hinein, und zwar nicht nur als bild, sondern als innere Überzeugung und Glauben der Umwelt und in die Umwelt projiziert,. Ich erkläre mir dies überwiegend durch den Glauben und die Entwertungen der kindlichen Umwelt. Dann ist der Versuch, das äußere bild zu wahren, ein nachträglicher Korrekturversuch. Die spätere Umwelt soll die frühere Umwelt korrigieren. Es kann etwa der Satz gelten "wenn alle glauben, wie gut ich bin, dann muß es ja stimmen."  Nur wird selbst nicht daran geglaubt und die alten Überzeugungen leben fort.

Die Falle und Tragik ist, daß gerade durch die Bemühungen und das Handeln die Entwertung bestätigt wird. Ansonsten wäre es, das ganze Theater ja gar nicht nötig. Der Verhinderungsversuch bestätigt also die alten inneren Überzeugungen - ein ewiger Kreislauf. Der Täter ist sein eigenes Opfer zugleich. Meist ist es so, daß die geringsten Bestätigungen durch die Umwelt, und werden sie auch als solche nur mißverstanden, als Bestätigung und Verstärkung der alten bilder gesehen werden. Weiterhin muß als unsichtbare, sicherlich auch erlebte Bedrohung, die Lächerlichkeit gefürchtet werden. Schließlich ist es lächerlich, so naiv, kindlich und undifferenziert zu sein, daß alle Menschen dasselbe glauben und zu glauben zu wissen, was in den Köpfen anderer an Verurteilungen vorgeht. Daß die eigene Person ist in den Köpfen anderer gefürchtet wird, diese die Feinde sind, ist ein projektives Erleben. Ähnlich wie bei der Projektiven Identifizierung, im Gegensatz zur einfachen Projektion, ist das Subjekt eng mit dem Objekt verbunden und kommt nicht zu sich selbst. Durch den Verlust der eigenen Person ist insofern der Digitale Dialog tödlich. Dieser Tatbestand und die Lächerlichkeit ist etwa in der Geschichte des Don Quichotte, der Windmühlenflügel als reale Feinde bekämpft, festgehalten. Deswegen ist dieser Begriff im Volksmund so weit verbreitet. Verstärkend kommt hinzu, je tiefer die Verurteilungen sind, desto großartigere göttliche bilder müssen zur Kompensation dargestellt werden. Die Angst und Spannung, als Hochstapler entlarvt zu werden, erhöht sich.

 

Oft wird gemeint, privat sein zu können wie man ist, im Beruf aber eine bestimmte Rolle erfüllen zu müssen. Dies halte ich für ein Beispiel der Verschiebung, denn gerade zu Hause in der Familie, in den engsten und verstricktesten Beziehungen, wird oft am härtesten um Schuld, Scham und Lächerlichkeit gekämpft. Das Ziel der Verschiebung ist, die Familie als Ort der Geborgenheit und Intimität, sein trautes Heim und den Familienmythos zu erhalten. Meist werden die Überlastungen und Krankheitsursachen bei der Arbeit, weniger zu Hause, gesucht und gefunden. Zum anderen besteht in der Nähe naturgemäß der geringste Abstand, sodaß die bewußte Wahrnehmung an einem distanzierteren Ort wie am Arbeitsplatz eher stattfinden kann. Die unbewußte Allgegenwärtigkeit auch im Privaten und in der Familie wird wenig gesehen.

Eine ähnliche häufige Verschiebung findet von der Mutter zum Vater statt. Ist die Mutter die nächste Bezugsperson wie meist in unserer Kultur, vor allem durch Geburt und Erstversorgung, besteht die intimste Nähe und der geringste Abstand, sodaß in der Wahrnehmung von Mutterkonflikten und von der Mutter ausgehenden Kindkonflikten die intensivsten Wahrnehmungsstörungen "blinden Flecke" bestehen. Vielfach wird geglaubt, daß die blinden Flecke in der Mutter selbst nicht so ausgeprägt sind. Als erwachsene Person müßte ihr voll bewußt sein, was sie ihrem Kind antue. Verstärkend kommt hinzu, daß Eltern oft genug von sich überzeugt behaupten, bewusst und gezielt zu handeln. Dies übernimmt das Kind. Bei ihr wird eine eigene abgegrenzte Identität angenommen wird, von der ausgehend, sie eher Konflikte wahrnehmen kann. Dies halte ich insofern für eine Illusion, da viele Mütter aus völlig unbewussten Motiven und nach Automatismen und Selbstverständlichkeiten handeln. Falls sie ihre Schuldgefühle als Selbstentwertung wahrnehmen würden, würden sie glauben, am Schicksal des Kindes schuld zu sein. Dies projizieren sie wiederum auf die Kinder, die dann schuld sind. Zusätzlich haben Kinder sich mit den verinnerlichten Erfahrungen identifiziert und bald den Erfahrungsvorsprung der Mütter/Eltern eingeholt, sodaß blinde Flecke ebenso von den Kindern zu den Müttern wie von den Müttern zu den Kindern bestehen. Insofern führen die Nähe und die Konflikttiefe zu den tiefstgehenden Abwehrmechanismen. Da die Väter meist in den ersten Jahren nicht so stark beteiligt sind, besteht zu ihnen mehr Abstand und an ihnen können eher Konflikte wahrgenommen werden. Dann wird ihnen die Schuld, im Sinne der Verschiebung auch noch die mütterlichen Anteile, zugeschoben.

Dazu eine Fallvignette: Bei meinem Besuch bei einer mir bekannten und von ihrem Partner als ängstlich beschriebenen Psychotherapeutin sagte sie, sie wolle mir Männer überweisen, mit denen sie absolut nicht könne. Ich äußerte noch etwas von Verschiebung von Mutterkonflikten auf Männer und Väter, da rief wie zu meiner Bestätigung zufällig ihre Mutter an und ließ sich von ihrer Tochter in ihren Ängsten beruhigen.

 

Folgen der Abwehrmechanismen

 

In Teilaspekten habe ich vieles schon erwähnt, etwa beim Digitalen Dialog, in Fallvignetten oder der Projektiven Identifizierung.

Zuallererst ist die tragische Folge der Abwehrmechanismen zur Vermeidung der Bedrohung und der Sicherheitssuche eine vermehrte Unsicherheit. Bei der Projektion müssen die Bösen dort draußen gefürchtet und bekämpft werden. Solange die Selbstentwertung besteht, ist das Leben eine immerwährender Kampf. Ähnlich werden bei der Spaltung, der wohl deutlichsten Schaffung klarer Verhältnisse, dem Digitalen Dialog, am verhängnisvollsten bei der projektiven Identifizierung Verstrickungen, irreale Verhältnisse, Illusionen geschaffen, die der Realität des Lebens in keiner Weise entsprechen und mannigfaltige Ängste hervorrufen. Es werden geradezu Asymmetrien und Konflikte geschaffen mit allen ihren Folgen. Für den Digitalen Dialog trifft oft die Geschichte des Don Quichotte zu. Neben den Mühen des Kampfes müssen auch, ähnlich bei der Spaltung, noch die Lächerlichkeit und seine Naivität in den Augen anderer fürchten. Die Abwehrmechanismen wären nicht erfolgt, wenn die Bedrohung nicht der inneren Realität entsprochen hätte. Und diese wird durch die Handlungsumsetzung oft genug äußere Realität.

Wird zur Vermeidung des Bösen Druck und Zwang ausgeübt, muß sich das Opfer dagegen wehren, etwa wie jemand, der in ein Gefängnis gesetzt wird, ausbrechen muß und zum Ausbrechen geradezu provoziert wird. Anders ausgedrückt, wie nach dem physikalischem Gesetz "Druck erzeugt Gegendruck" wird in der menschlichen Psyche Gegendruck erzeugt, wie überhaupt vieles im Menschen analog zu physikalischen Gesetzen abläuft. Insofern hat die biologische Medizin symbolisch ihre Berechtigung.  Der Gegendruck muß nicht nur zwischenmenschlich in einem Kampf einer gegen den anderen, sondern kann auch innerpsychisch, d.h. innerhalb einer Person ablaufen, sodaß sich jemand gegen seine eigenen Zwänge wehrt. Der Täter ist also sein eigenes Opfer. Etwa sind Messies m. E. Opfer ihres eigenen Sauberkeit- und Ordnungszwanges. Bei dem innerpsychischen Zwang handelt es sich um den verinnerlichten früheren äußeren zwischenmenschlichen Zwang. Formen des Gegendruckes sind Verweigerung, Sabotage, Boykott, Unterlaufen und vor allem Trotz. Im innerpsychischen Bereich besteht also eine Selbstsabotage oder ein Selbstboykott, die infolge der widersprüchlichen Tendenzen zu einer Lähmung führen können.

So kann jemand, der von außen unter Erfolgsdruck gesetzt wird wie bei Prüfungen, oder von innen sich selbst unter Leistungsdruck setzt, den eigenen Erfolg sabotieren. Überhaupt kann man sämtliche zwischenmenschliche Beziehungen als Prüfungen auffassen, wo überprüft wird, wie man zum andern steht und dieser zu einem selbst. Insofern gelten die Gesetze der Prüfungen. Der Leistungsdruck von außen führt also zum Boykott eigener Ziele, zum Selbstboykott, so als wären die eigenen Ziele Fremdziele. Aus einer anderen Warte betrachtet kommt es zu einer Verwirrung von Eigen- und Fremdzielen. Eltern, die ihre Kinder zu sehr etwa in der Schule unter Leistungsdruck setzen, erreichen oft das Gegenteil, nämlich den Mißerfolg oder das Versagen. Hinter dem Versagen steht also oft eine Verweigerung des Leistungsanspruchs, zusätzlich dass die Kinder vor lauter Angst keinen klaren Kopf haben und ihre Leistungsfähigkeit nicht umsetzen können. Da die Eltern dies oft spüren, sehen und bekämpfen sie in dem Boykott und Trotz, das in ihren Augen kindliche Böse, verstärkt und erreichen das Gegenteil. Sie sind die Guten, die ihr Kind auf den richtigen Weg führen, nur das Beste für ihr Kind wollen, eine ursprünglich gute Absicht. Meist geht es aber nicht nur um den Erfolg des Kindes, sondern durch das Kind um den Erfolg der Eltern, gute, erfolgreiche Eltern zu sein. Oft genug muß das Kind noch dazu den vermeintlichen Misserfolg der Eltern sozusagen als Delegierter ausgleichen wie etwa bei den sogenannten Eislaufmüttern. Durch den vermehrten Druck, den erreichten Boykott und die Erziehung zum Trotz werden ihre Bemühungen zu einer unendlichen sich steigernden Spirale des Mißerfolges, wobei sie meist die Ursache im Kind festmachen und dieses beschuldigen, etwa der Undankbarkeit und selbst schuld am Mißerfolg zu sein. Sisyphus läßt grüßen.

Die hinter dem Druck stehende, oft versteckte Angst der Eltern wird vom Kind sich zu eigen gemacht, verinnerlicht und zu seiner eigenen Angst. Dadurch wird zusätzlich eine Angst vor dem Mißerfolg erzeugt, und der Prüfling kann nicht mehr in Ruhe seine individuelle Leistung erbringen. Als Folge der Angst, gesteigert bis zur Panik, kann der Prüfling leicht eine Paniküberflutung, einen sogenannten Blackout, eine Leere im Kopf bekommen. Der Mißerfolg kann also eine Folge von Sabotage und Angst sein, meist einer Vermischung von beidem. Oft kommt bei Prüfungen noch hinzu, daß es nicht nur um die Überprüfung eines Wissenstoffes, Ausbildungsfortschritte und -abschlüsse geht mit dem Zugang von bestimmten Karrierewegen, sondern wesentlich globaler und existentieller um den Wert und Unwert der gesamten Person, und nicht nur um die eigene Person, sondern auch noch um die Eltern. Die Prüfung wird existentiell hochstilisiert. Dadurch ist das Ausmaß der Prüfungsängste umso verständlicher. Dieser Wert wird zusätzlich oft ausschließlich von den Augen anderer abhängig gemacht und wenig von den eigenen Augen und Zielen. Bei Prüfungen geht es also oft nicht um die Prüfung von Wissensinhalten, sondern viel umfassender um die Überprüfung aktueller und verinnerlichter Wertmaßstäbe und zwischenmenschlicher Beziehungen. Bei gleichem Wissensstand sagen die Prüfungsresultate also mehr über die Form der Selbstachtung, den Angstpegel, den Grad der Selbstsabotage, die Art der verinnerlichten Objektbeziehungen und die gegenwärtigen aktuellen Beziehungen aus. Deshalb gibt es sogenannte Prüfungstypen und Prüfungsversager.

Dazu möchte ich das Beispiel eines  Patienten schildern, der über hunderte Kilometer mit der Mutter, ihren und seinen eigenen Ängsten eng verbunden war: Ein Sozialpädagoge fiel aus Prüfungsängsten im Staatsexamen durch oder ging krankgeschrieben erst gar nicht hin. Aus Sorge und Angst um ihren Sohn, vor allem weil schon vieles schief gegangen war, bekam die Mutter gleichzeitig lebensbedrohlich erscheinende Durchblutungsstörungen im Kopf und wurde mit Verdacht auf einen Schlaganfall ins Krankenhaus eingewiesen. Es ging bei der Prüfung des Sohnes nicht nur um das eigene Bestehen der Prüfung, Erfolg oder Misserfolg und den persönlichen Lebensweg des Sohnes, sondern vielmehr um das Überleben der Mutter, auf dem Hintergrund ihres narzißtischen Überlebens. Sie, die soviel Hoffnungen in ihren Sohn gelegt und vielfach enttäuscht war, wäre durch sein Versagen existentiell erschüttert. Die Examensprüfung war damit völlig überfrachtet. Die Wiederholungsprüfung konnte er ohne größere Ängste bestehen, weil die Mutter sich schon vorher in eine Kurklinik einweisen ließ und er sie gut versorgt sah. Den Hintergrund der Mutterbeziehung bildete, daß der Sohn von allen Frauen der Familie, der Oma, der Mutter und unverheirateten Tante zu einem Erlöser hochstilisiert war. Ihm wurden von Geburt an sämtliche guten Eigenschaften und Tugenden zugeschrieben, die am Opa und Vater vermißt wurden. Diese waren als Versager, um die narzißtische Wunde der Frauen, selber Versager zu sein, zu decken, geheiratet worden und hatten die Versagenserwartungen erfüllt. Ihnen wurde von Geburt an der Sohn als Vorbild vorgehalten. Daß sie nicht gut auf ihn zu sprechen waren und ihn demütigten, soviel sie konnten, versteht sich von selbst. Dem Sohn wurde zugeschrieben, er raucht nicht, trinkt nicht, ist zuvorkommend, hilfsbereit und höflich, nutzt Frauen nicht als Sexualobjekte aus und will nicht von ihnen nur das Eine. Er rauchte wie ein Schlot, soff wie ein Loch (das ist allerdings meine Ausdrucksweise), Höflichkeit war für ihn die höchste Maxime. Er trat zuvorkommend und äußerst höflich auf und ließ Frauen in Ruhe. Er war nämlich homosexuell, für den Vater die größte Schande, an dem er sich dadurch rächen konnte. Die Mutter genoß es hochambivalent, weil er sie nicht mit anderen Frauen betrog, trauerte aber um die entgangenen Enkelkinder. Seine Minderwertigkeit kompensierte er mit Größenphantasien, wenn er sich in Eifersuchtsdramen mit seinem Freund in der Szenenkneipe herumschlug und die Freunde achtungsvoll vom Kampf der Giganten sprachen. Alle diese Zusammenhänge konnten im Verlauf der Therapie eruiert werden. -

 

Beim Trotz besteht ein Widerspruch von Wünschen, Bedürfnissen und Zielen, zum einem von dem, der seine Ziele durchsetzen will, zum anderen vom anderen, der sich dagegen wehrt. Er setzt eine Unvereinbarkeit, eine Form der Spaltung, voraus und nicht eine Lösung für beide, etwa eine Kompromißlösung. Der Trotzige hat zwar einen eigenen Willen, aber es handelt es sich insofern um einen kindlichen Mechanismus, da der Trotzige, zumindest als Kind, Kleinkind oder als Kind im Erwachsenen sich noch kein eigenes Recht auf seine Ziele gibt. Insofern macht er sich in seinem bild seiner Rechte von dem Fordernden abhängig. Das Thema wird nicht von ihm selbst, sondern vom anderen bestimmt. In seiner Überzeugung bzw. in der Tiefe seines Herzens gibt der Trotzige dem Anderen recht. Indem er an die bilder des Erwachsenen glaubt, sie also übernimmt, wehrt er sich im Trotz gegen seinen eigenen Glauben. Es wehrt sich also gegen sich selbst. Der Trotz ist also ein Zwischenstadium der Persönlichkeitsreifung zwischen der totalen Identifizierung mit dem anderen, dem vermeintlich Erwachsenen, und dem Recht auf ein eigenes Leben, die eigene Person und eigene Ziele und Wünsche. Dadurch daß gleichzeitig ein eigenes Ziel besteht, dies aber von der eigenen Person nicht anerkannt wird, kommt es zu einer Art inneren Lähmung. Ein früheres Stadium wäre das totale Aufgehen in dem anderen ohne eigene Ziele, Rechte und Werte, so wie es vom Fordernden verlangt wird. Ich spreche deswegen vom vermeintlich Erwachsenen, weil dieser ebenfalls den anderen, das Kind nicht als eigene Person anerkennt, ihm Rechte verleiht, sondern die totale Anpassung und Unterwerfung beansprucht. Er ist also im Grunde noch nicht über dies Reifungsstadium hinaus, sondern stellt die Kehrseite des Trotzes dar. Der Trotz spielt sich deswegen am deutlichsten in einer Entwicklungsphase ab, wo zwar ein eigener Wille besteht, diesem aber noch nicht ein eigener Wert und ein eigenes Recht zuerkannt wird. Das n„chste Reifungsstadium wäre etwa folgendermaßen ausgedrückt, "hier bist du und da bin ich, du hast dies Recht und ich habe jenes, wir haben verschieden Ziele und wir müssen eine gemeinsame Lösung finden, in der wir beide als Personen gewahrt bleiben". Der Trotz spielt sich dort ab, wo existentielle Bedrohungen körperlicher Art, etwa Verhungern oder bedrohlich Fehlernährung des Kindes, körperliche Krankheits- oder Unfallgefahr, oder im Wert eines Menschen, etwa Blamage, Schuld, Schande oder Verachtung, gesehen werden. Erst durch die Bedrohung kommt es zu einer Unvereinbarkeit verschiedener Ziele.

Der Trotz hat weitere unheilvolle Folgen. Gleichzeitig handelt das Kind nicht nach eigenem Thema, sondern nach von außen bestimmten oder verinnerlichten Themen, ist also fremdbestimmt und nicht selbstbestimmt bzw. autonom. Zusätzlich kommt es während seines Trotzes, also in der Zeitspanne des Trotzverhaltens, nicht zu sich selbst, seinen Zielen, da er ja mit dem Trotz oder Verweigern beschäftigt ist. Besonders deutlich wird dies bei einem schmollenden Kind, das während des Schmollens in seiner Trotzecke in seinen Kommunikations- und evtl. Spielinteressen gelähmt ist. Dem erwachsen erscheinenden Fordernden geht es während der Auseinandersetzung im Trotz nicht viel besser. Er ist an der Erfüllung seines Zieles gebunden, weil große Gefahren befürchtet werden, und kann sich währendessen nicht anderen Zielen zuwenden. Trotz wird auch unter Erwachsenen erzeugt, wenn der Ziel- und Wertsetzende dem anderen keinen Freiraum zu eigenen Zielen und Bewertungen überläßt, dieser diese also übernehmen muß. - Dazu schildert eine Patientin, je mehr sie sich unter Druck setzt, eine bestimmte Rolle zu erfüllen und zu funktionieren, desto weniger klappe es. Wenn sie einfach so ist, wie sie ist, dann klappe es meist recht gut. -

Erkennt der Heranwachsendes oder der Erwachsene bei sich weiterhin keine eigenen Ziele und Rechte an und/oder macht er sich von der Anerkennung anderer abhängig, ist er dazu verdammt, weiterhin im Zwischenreifungsstadiums des Trotzes zu verharren. Immerhin hat dies den Vorteil, er weiß, wo er dran ist, er hat die Klarheit, das will er nicht, sondern das Gegenteil. Er hat nicht die Unklarheit und Unsicherheit, nicht zu wissen, was er will, die wiederum eine Bedrohung darstellt. Wegen dieser Unsicherheit ist der Wunsch nach Klarheit, zu wissen, was man will, nur allzu verständlich. Oft genug fordern  Eltern von ihren Kindern Zielstrebigkeit "du mußt wissen, was du willst", häufig schon von Kleinkindern. Diese sollen schon wissen, was sie wollen, bevor sie das Leben überhaupt kennen und ihre Ziele definieren können. Ausprobieren und Wechselhaftigkeit wie Interessens- und Geschmackswandel sind dabei ausgeschlossen. Die Zielstrebigkeit ihres Kindes brauchen die Eltern für ihre eigene innere Ökonomie. Damit ist ein Kind naturgemäß völlig überfordert.

- Dazu ein Beispiel: Ich erzählte einer Bekannten von diesem Sachverhalt und der möglichen Überforderung des Kindes. Sie schilderte mir, daß ihre kleine Tochter gestern zum Essen Pommes frites, heute Pfannekuchen gewünscht hätte. Sie selbst hätte gereizt, verwirrt  und überdrüssig geantwortet "gestern Pommes frites, heute Pfannekuchen, du sollst endlich mal wissen, was du willst!". Daraufhin hätte die Tochter überlegen gesagt "gestern Pommes, heute Pfannekuchen!". Sie war punktuell reifer als ihre Mutter. -

Neben der Wechselhaftigkeit und dem Interessenswandel, mal heute dies und mal morgen jenes zu wünschen, im zeitlichen Ablauf, im Nacheinander bzw. der Diachronie, wird eine grundlegende Eigenschaft des Menschen in der Gleichzeitigkeit, der Synchronie, im Jetzt ignoriert, nämlich die Ambivalenz. Im Grunde sind alle Ziele und Entscheidungen ambivalent, müssen es sein, denn bei jedem Wunsch muß auf andere Wünsche verzichtet werden bzw. diese gehen verloren. Nach dem bild der Waage kommt es nur darauf an, welches Gewicht schwerer wiegt. Dies ist oft schwer zu entscheiden, in vielen Fällen gleichgewichtig, sodaß eine Entscheidung oft ziemlich egal und beliebig ist. Bei der Berufswahl, Partnerwahl, dem Kindeswunsch gehen ein anderer Beruf, Partner oder Freiheiten ohne Kind verloren und dessen attraktive Seiten. Wie oben erwähnt werden Entscheidungen zu existentiellen Fragen hochstilisiert und fallen besonders schwer, führen am Entscheidungspunkt oft zu einer Paniklähmung. Sie werden zu einer Existenzfrage, richtig oder falsch. Es gilt nur das Eine oder das Andere, entweder der eine Partner oder nur der Kinderwunsch oder nur die Ablehnung. Da die Realität der Ambivalenzen geleugnet wird, besteht ein illusionäres Weltbild. Sollten Entscheidungen getroffen sein, kann sich die Ambivalenz auch nachträglich auswirken in Form von quälenden Selbstzweifeln "war das oder das richtig", so wie ich es von Depressiven besonders kenne, die sich vorher und nachher mit Zweifeln plagen, und Dinge nicht einfach als zusammengehörig betrachten können. Die Selbstzweifel sind also eine Folge des absoluten Weltbildes und der Spaltung. Hinter ihnen steckt ein totalitäres Weltbild.

Die Anerkennung von Ambivalenzen und deren Tolerierung (Ambivalenztoleranz), von verschiedenen Seiten und Aspekten und deren Zusammengehörigkeit nennt man Integration. Die Spaltung und deren Folge der Verwirrung wird auch Desintegration genannt. In der griechischen Mythologie werden Entscheidungen dem Herkules, noch heute ein Symbol der Kraft und Stärke, dem als äußeres Erscheinungsbild etwa Bodybuilder nachstreben, zugeordnet "Herkules am Scheidewege".

- Zum bilde des Kraftprotzen eine kleine Erinnerung: Als Student suchte ich zur Fahrtkostenreduzierung Mitfahrer von Berlin nach Frankfurt. Von einer der vielen Mitfahrerzentralen wurde mir jemand benannt. Als ich den Mitfahrer, einen Bodybuilder, abholte, wußte ich gleich "der tut niemanden `was zuleide, so lieb und gutmütig wie er wirkt". Er hatte schon Tage zuvor Fahrtzeitpunkt und Ziel benannt und gleich für 3 Leute bezahlt. Der MFZ und mir war das recht. In meinen Augen und in seiner Naivität hatte er großes Glück, daß ich zufällig daherkam und ihn mitnahm. Trotz der vielen Gewichte und Hanteln hätte mir das Bezahlen für 2 Leute gereicht. -

In meinen Augen verlaufen in der Ambivalenz Entscheidungen wie bei einer Waage. Die schwerere Seite überwiegt. In vielen Situationen wiegen oft beide Seiten gleich schwer. Erst mal abzuwarten und still zustehen, bis sich neue Gesichtspunkte finden, und nicht vorschnell einen der Wege zu gehen, also Nichthandeln, wobei dies auch eine Form des Handelns und der Entscheidung ist, verfällt als Unentschlossenheit, Wankelmütigkeit und Zögern bei vielen tiefster Entwertung.

Ich habe viele kennen gelernt, die sich von ihren Eltern abhängig machen, fordern und trotzig dagegen anrennen, daß diese endlich anerkennen, daß sie ein Recht auf diese oder jene Ziele, global gesehen etwa auf einen eigenen Lebensweg haben. In dem Maße wie sie sich abhängig machen, werden sie nicht anerkannt. Würden sie anerkannt, würden sie sich loslösen und ihren eigenen Lebensweg gehen. Die Nichtanerkennung und das trotzige dagegen Anrennen kennzeichnen die Abhängigkeit und Beziehungskonstellation. Dies kann eine unaufhörliche Konstellation bleiben. Die Eltern, Partner blieben ohne diese Form der Beziehung ohne Partner, die Einsamkeit als Bedrohung fürchtend.

Beziehungskonstellationen in Familien und Partnerschaften, wo einer im absoluten Sinne die Ziele des anderen und der anderen bestimmt, die Sabotage provoziert und der oder diese die Ziele unterlaufen, oft mit wechselnden Rollen, werden z.B. bei psychosomatischen Erkrankungen beschrieben. Selvini-Palazoli hatte deswegen in Familien, wo eine Indexpatientin, etwa an einer Magersucht, erkrankte, als Therapiemodus verschrieben "an geraden Tagen hat der Eine zu bestimmen und die anderen sich anzupassen, und an ungeraden Tagen der Andere". Ich vermute, sie beabsichtigte, das System der absoluten Bestimmung und des Boykotts zu unterlaufen, den Familienmitgliedern deutlich zu machen und somit das System ad absurdum zu führen. Die Erkrankung tritt an der Schwelle auf, wo dies labile Gleichgewicht gefährdet ist, etwa die Bedrohung besteht, daß die Tochter sich altersentsprechend aus dem Familienverband loslösen könnte. Sie einigt wiederum die Familie. Alle sind beschäftigt, die Tochter vor dem Verhungern zu erretten, die diese mit allen Mitteln hervorzurufen sucht. Eine Heilung würde die Konstellation gefährden. Tochter und Eltern stünden ohne systemgerechten Bezugspartner da.

Verliert der Trotzige jedoch seinen Partner oder seine Eltern, steht er da, ohne zu wissen, was er will, ohne eigene Ziele, sozusagen mit leeren Händen. Er hat nur gelernt, fremde, auferlegte Ziele zu sabotieren, aber nie gelernt, eigene Ziele zu entwickeln. Das kann sich abspielen, wenn sich jemand von seinen Eltern losgesagt hat, weil er die dauernde Bevormundung leid ist, oder diese gestorben sind. In den meisten Fällen wird er sich neue Partner suchen, wo sich das Trotzdrama und die gegenseitige Abhängigkeit erneut abspielt, denn dann weiß er wenigstens, wo er dran ist.

Eine wahrscheinlich reifere Form des Trotzes der Trotz- und Angstbewältigung, wobei wohl spätere Erkenntnisse und reifere Formen miteinfließen, ist die Neigung, das Gegenteil zu beweisen, die Entwertung ins Gegenteil zu verkehren und der Contraphobie. Der Trotzige muß das Gegenteil beweisen, den Prophezeiungen zu begegnen, etwa ein Versager zu sein und zum Mißerfolg verdammt zu sein, und sucht die besonders angstmachenden Situationen auf. Er will die Druckausübenden, Negativpropheten und Angstmacher zu seiner und wohl auch ihrer Beruhigung vom Gegenteil überzeugen. Wenn er nicht den Angstmachern glauben würde, hätte er es gar nicht nötig, das Gegenteil zu beweisen. Die Contraphobie dient also zur Fremd- und Selbstberuhigung und -beunruhigung zugleich, soda sie ein widersprüchlicher und komplizierter Bewältigungsversuch der Bedrohung ist. Dabei kann es zu einem rechthaberischen Kampf kommen. Jedoch schwingt einerseits die Angst vor dem Versagen mit, andererseits besteht der Druck und Zwang, es zu schaffen. Er kämpft unter vermehrtem und doppelten Druck für den Erfolg oder das Gute, unter dem er leicht vermehrt versagen muß. Manche sind im Gegensatz zu den zum Mißerfolg Verurteilten zum Erfolg verurteilt, aber die Angst vor dem Versagen schwingt immer mit und versetzt sie unter unaufhörliche Spannung und Streß.

- Dazu eine Fallvignette: Ein Studienreferendar hatte als einziger Sohn sehr alte Eltern. Diese lebten in der ewigen Angst, sie könnten sterben, bevor ihr Sohn selbständig sei und dann käme er nicht mehr im Leben zurecht. Zu ihrer Angstbewältigung und Beruhigung mußte er frühzeitig selbständig sein und als Beweis schulische Erfolge vorweisen. Unter immerwährender von den Eltern übernommener Versagensangst und viel innerem Aufwand schaffte er auch dies, erbrachte hervorragende Leistungen. Er hätte gerne mal Verständnis für seine inneren Nöte und Qualen und als Folge Lernstörungen bekommen, die er sich infolge seiner Ängste nicht zugestehen konnte, aber vonseiten der Eltern und im Freundeskreis hieß es immer nur "was hast du denn, sieh' doch, du hast immer Erfolg! Was machst du dich denn so verrückt!" In seinen Ängsten konnte er sich nicht den geringsten Mißerfolg leisten, bestand alle Prüfungen mit Eins - und hätte doch gar zu gerne mal versagt. -

Formen, wie Druck ausgeübt wird, sind unmittelbarer Zwang und Druck, moralische Verurteilung, Schläge, Bestrafungen durch Liebes- oder tagelange Gesprächsverweigerung, sodaß die Angst vor der Strafe Unterwerfung und Gehorsam erfordert. Oft wird der Druck mit beherrschender Stimme und Augen erzeugt "sofort, ohne überlegen, ohne Widerrede". Dies erzeugt noch stärkeren Trotz. Nicht umsonst malen Schizophrene in ihren bildern das alles beherrschende Auge, das die Augen der früheren Bezugspersonen, hauptsächlich meist der Mutter und ihrer inneren bilder darstellt. Es kommt zu einem Kampf zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Wenn die Ansprüche oft wiederholt werden und im voraus bekannt sind, spricht man von Vorauseilendem Gehorsam.

Ein erfolgreiches Mittel außer der Bestrafung ist Angsterzeugung mit Drohungen und Prophezeiungen zukünftiger bedrohlicher Folgen wie etwa, wenn nicht dies oder jenes Verhalten gezeigt wird, „was sollen die Leute schlimmes von dir denken, "dann will keiner mehr etwas mit dir zu tun haben", die Prophezeiung, das etwas gefährliches passieren würde, z.B. in der Gosse zu landen. Wiederholt habe ich von Patienten gehört, daß die Eltern mit dem Erziehungsheim oder dem Internat drohten. Dazu wird vermittelt, daß das Heim, das Internat, es kann auch die Lehre oder der Müllkutscher sein, etwas bedrohliches sind und die Kinder diese bilder übernehmen.  - Nach meiner Erfahrung kann manches Heim oder Internat besser bezüglich einer Reifung sein als manche Familie. So hatte ich einen Patienten, dessen vorher schweres Asthma geheilt war, als er 10 j„hrig auf eine Internat geschickt wurde, weil die Mutter angeblich nicht mit ihm fertig wurde. Nach meinem Eindruck spielt eine große Rolle, wenn etwa Erwachsene in der Gosse landen, obdachlos werden, deren Eltern oder nächste Bezugspersonen gestorben sind oder sich getrennt haben, und die nie gelernt haben, einen eigenen Lebensweg zu gehen. -

Gehorsam bis zur Unterwerfung und Selbstaufgabe stellen massive narzistische Traumatisierungen, Kränkungen und Verletzungen dar. Diese wiederum erfordern narzißtischen Ausgleich. Eine Form kann der Trotz sein. Er kann zur Aufrechterhaltung des Selbstbildes dienen. Wiederum kann der Verweigenrde den Forderer bis ins Mark treffen, gerade das nicht zu tun, was gefordert wird. Der vermeintliche Sieg wird in eine Niederlage verwandelt. Die eigene narzißtische Bedrohung wird in die Bedrohung des anderen umgedreht. So kann der Sohn bei einem Pünktlichkeit fordernden Vater immer 5 min pünktlich zu spät kommen und diesen zur Weißglut bringen und alle Strafen grinsend über sich ergehen lassen. Dann ergeht es dem Fordernden nicht besser als ihm. Seine Stärke verwandelt sich in Ohnmacht. Oder er vollzieht die Unterwerfung mit einem grinsenden Lächeln, das gleichzeitig Überlegenheit signalisiert. Er zahlt es ihm also heim, eine Form der Rache. Kinder und Erwachsene, die für sich keine unmittelbaren Wege oder darin keine Unterstützung finden, gehen andere Wege, indem sie sich etwa eine Ersatz- und Traumwelt schaffen und sich darin zurückziehen, in der sie die Größten, Stärksten und Erfolgreichsten sind. Dann können sich manche Eltern auf den Kopf stellen, je mehr sie einwirken, desto mehr entgleiten die Kinder in die Traumwelt. Ihre Verzweiflung und Sorgen treffen sie ins Mark.

Meiner Erkenntnis nach können Söhne ihre Väter bis zur Weißglut ärgern - oder umgekehrt -, wenn sie eine heimliche Unterstützung der Mutter erfahren. Nicht nur der Sohn rächt sich an seinem Vater für die Unterdrückung, sondern auch die Mutter durch ihren Sohn für ebenfalls erfahrene Demütigungen. Es findet eine heimliche Solidarisierung statt gegen den Vater, der beide umso heftiger zu erniedrigen versucht. Sind sich beide Eltern einig, hat das Kind keine Chance, sie gegeneinander auszuspielen oder den einen als Partner zu gewinnen, wird es umso mehr sich absperren und in eine Ersatzwelt flüchten. Einigkeit der Eltern und Umgebung kann ein Kind also umso mehr in die Defensive drängen, während es bei Koalitionen mit einem Elternteil zumindest nicht alleine steht.

Ich habe gerade einen erfolgreichen Manager in Behandlung, der als Folge, seiner Ängste, in der Gosse zu landen, wie ihm vom Vater immer prophezeit wurde, unter Bluthochdruck leidet. Seine Spannungen wirkten sich auf den Blutdruck aus. In der Überfülle  und Blutfülle seiner Spannungen und Aktivitäten geht er regelmäáig monatlich zum ärztlich verordneten Aderlaß, für mich eine symbolische Handlung, für viele Organmediziner wohl Unsinn. Er träumte, mehrere Termine gleichzeitig absolvieren müssen, obwohl, wie er meinte, realistisch Termine ja nur nacheinander zu erledigen seien. Als wir schrittweise seinen sozialen Abstieg durchspielten, war er wird regelrecht erleichtert, als er in der Gosse landete. Jetzt, als das Schlimmste passiert war,  konnte ihm nichts mehr passieren, und er war seiner Unsicherheiten und Ängste enthoben.

-           Ähnlich erfolgreich schloß eine Patientin alle Prüfungen ab, mußte jedoch danach tagelang erbrechen in der Vorstellung "was wird denn jetzt schon wieder von mir erwartet!". Das fände sie wohl zum Kotzen. In ihrem ganzen Leben bis heute war sie von ihrer Mutter mit Ansprüchen getrieben und entwertet worden, deren eigenen nichterfüllten beruflichen Ansprüche sie stellvertretend zu erfüllen hatte. Die Mutter konnte als Folge ihrer Idealansprüche nie stolz auf das von ihr Erreichte sein und beanspruchte die Erfüllung von ihrer Tochter, um wenigstens als erfolgreiche Mutter auf diese stolz, wenn schon nicht auf sich selbst, sein zu können. Für spielten durch, dass ihr Versagen für sie geradezu einer Befreiung sei. Aber davor hatte sie viel zu viel Angst.

Ich habe mehrere Patienten, die ihren inneren Entwertungen begegnen, indem sie immer als die Guten, Treuen, Moralischen, Fleißigen, Pflichtbewußten - als Reaktionsbildung und Form des Digitalen Dialogs - auftreten, sodaß ich es in der Gegenübertragung zum Kotzen finde und zu Schuldgefühlen neige, wenn mir nicht ähnlich gut und moralisch zumute ist. Ähnlich wie mir ergeht es ihren Partnern, die sich ständig dagegen wehren müssen, die Bösen zu sein, ein Kampf ohne Ende. Manche wurden schon in der Kindheit auserkoren, Pfarrer, Pastor zu werden und haben sich mit dieser Rolle dermaßen identifiziert, daß sie schon ein pastorales Auftreten zeigen. Ein derartiger Patient hat eine Frau geheiratet, die ebenso wie er ein moralisches Auftreten zeigt. Sie übersteigern sich gegenseitig im Gutsein einerseits. Andererseits frohlockt er jedesmal und zeigt dies durch ein hämisches Grinsen, wenn er sie bei einem Fehler erwischt hat, und sie muß ihm seine Fehler um die Ohren hauen. Dabei spielt sicherlich eine Identifizierung mit den gut auftretenden, sich sorgenvoll kümmernden Eltern eine zusätzliche Rolle.

Beim contraphobischen Verhalten werden besonders angstmachende Situationen aufgesucht wie bei manchen gefährlichen Sportarten, etwa Extrembergsteigern oder Autorennfahrern. Der Psychologe Aufmuth hat einen Aufsatz über die frühkindliche Verunsicherung und Mutterbeziehung von Extrembergsteigern geschrieben. Im contraphobischen Verhalten wird eine Art Thrill bzw. Angstlust gesucht. Ich verstehe den Thrill als Reaktion auf einen rigiden, langweiligen und lähmenden Hintergrund, sodaß sie nicht länger in der Lage sind, es zu Hause auszuhalten, und bald die Abenteuer, Freiheit der Extremberge suchen. Ähnlich sehe ich den Thrill bei einer rigiden Sexualmoral im evtl. sogar süchtigen Aufsuchen von Puffs, Bars, schlüpfrigen (Transvestiten)Shows, über haupt dem Rotlichtmilieu.

Bei Süchten wie Drogen- und Spielsucht spielt dieser Aspekt eine große Rolle, daß jemand gerade das tut, wovor er besonders Angst hat, und so die Bewältigung und Ungefährlichkeit von Drogen zu beweisen sucht. Abenteuer- und Drogensucht üben deswegen für viele Ängstliche eine große Faszination aus. Meinen Eindruck nach entsteht die Drogensucht oft zuerst in den Köpfen der Eltern, indem diese ihre Kinder vor den Gefahren warnen, bevor die Kinder überhaupt daran denken, und dadurch die Drogen erst interessant machen. Zur Reaktionsbildung der Umwandlung ins Gegenteil mag auch gehören, die Ängste ins äußere Gegenteil umzuwandeln, etwa ein besonders sicheres, souveränes oder herablassendes Verhalten an den Tag zu legen.

 

Weitere Folgen der Verleugnung und des Glaubens, daß wie etwa im Digitalen Dialog nur das Sichtbare vorhanden ist, ist der Glaube an das Unsichtbare. Dieser wiederum, da das Unsichtbare infolge der Verleugnung nicht greifbar ist, erhält eine magische Dimension und überhöhte Bedeutung. Diese magischen Dimensionen finden in Religionen wie etwa dem Gottesglauben, Gott ist ja nicht sichtbar, aber auch im Alltag wie in Kartenlegen, Esoterik und Astrologie statt. Überall sind ausschließlich die Eingeweihten, für die das Unsichtbare faszinierend ist, die Träger des magischen Wissens. Den Siegeszug des Unsichtbaren, der Esoterik und Religionen sehe ich als Reaktionsbildung auf den Siegeszug der Aufklärung und der Naturwissenschaften.

Weiterhin besteht die Tendenz das Unsichtbare in Form von Symbolen sichtbar und greifbar zu machen. Dann sind die Götter sichtbare Heroen und Idole. Unter diesem Gesichtswinkel kann man auch die verschobenen und sichtbaren Ersatz- und Kontrollhandlungen wie bei der Zwangsneurose ansehen, wo die unbewußten, unsichtbaren, da verdrängten, Hintergründe und Ursachen symbolisch sichtbar gemacht und in Zwängen kontrolliert werden.

Ähnliches könnte man bei einem der Symbolik entsprechenden angsterzeugenden Raum wie bei der Phobie sehen. Die Platzangst in engen Räumen und unter Menschen entspricht etwa der Enge und mangelnden Freiheitsraumes des eigenen Weltbildes und der darauf aufgebauten Umweltbeziehungen, die Höhenangst den überwertigen eigenen Ambitionen und der Furcht vor dem Absturz, die Sozialangst den eigenen bildern im Angesicht des Umfeldes, ähnlich wie die Straßenangst. Wenn ich die verschiedenen Formen von Phobien und Ängsten durch phantasiere, denke ich bei der Spinnenangst an die Angst, eingesponnen, eingewickelt und dann aufgefressen zu werden, ursprünglich etwa von der Mutter, übertragen auf nahe Bezugspersonen, oder bei der Schlangenphobie etwa an die Symbolik des Phallus und an die Wehrlosigkeit beim  Eindringen in die eigene Person, nicht nur im Sexualakt, sondern als Person, ursprünglich geschehene Dinge, die jetzt wiederum infolge mangelnder Grenzen berechtigt gefürchtet werden. Ähnliches sehe ich bei der Insektenangst.

Meist besteht ein Nebeneinander von Verdrängung, Verleugnung und Überhöhung. Entweder sind bedrohliche Inhalte nicht mehr vorhanden oder tauchen an anderer Stelle an anderen Inhalten als völlig überhöhte Bedrohungen als Phantom oder Teufel an der Wand auf, die in keiner Weise bei anderer nüchterner Betrachtung den Tatsachen gerecht wird. Man könnte auch von einer Phantomisierung sprechen. - Dazu das Beispiel von Schloßgespenstern: Frühere oft verleugnete Untaten wie Morde von Schloßbewohnern tauchen als Erzählungen oder real gefürchtete Bedrohungen in späteren Gespenstern wieder auf. - Dann kann eine Verwirrung entstehen, was nun tatsächlich bedrohlich ist. Die Einen sehen gar nichts Bedrohliches oder verleugnen dieses, andere fürchten die schlimmsten Gefahren und geraten in Panik. Dieser Sachverhalt wird vor allem bei Krankheits- oder chemischen und atomaren Umweltbedrohungen besonders deutlich. Während die einen gar keine Gefahren sehen, meist etwa die chemischen Verschmutzer und deren Handlanger, die Politiker, und abwiegeln, wiederum ihren materiellen Verlust bedrohlich sehen, malen die anderen den Teufel an die Wand, wo möglicherweise gar nichts ist. Für die Verleugnungs- ebenso wie für die Phanomisierungstendenz finden sich wissenschaftliche Begründungen und Vertreter. In diesem Zusammenhang finden als Abwehrmechanismus oft Verschiebungen statt etwa bei der Allergie, wobei allergisierende verdrängte zwischenmenschliche Beziehungen, gleichzeitig auch tatsächlich im Sinne eines psychosomatischen Geschehens eine körperliche Sensibilisierung erfolgt - ein aus psychosozialen Gründen sensibilisierter Körper reagiert auch tatsächlich empfindlich auf äußere Allergene -, ursächlich auf Umweltgifte und etwa Pollen zurückgeführt werden.

Als Krankheitsbilder fallen mir zuallererst Phobien ein, Ängste in bestimmten Situationen und vor bestimmten Inhalten. Bei der Herzphobie etwa wird die Ambivalenz des Nähe- und des Trennungswunsches aufgrund der Angst vor Vereinnahmung und der Angst vor dem Verlust des Bezugspartners, beide als gleichzeitige Wünsche und Ängste unvereinbar, also aufgespalten, zusätzlich die Angst vor der narzißtischen Entwertung, etwa so infantil abhängig zu sein, nicht wahrgenommen und taucht als Angst vor dem Herzinfarkt, also die Angst vor der körperlichen Vernichtung als häufigster und typischer Angstinhalt wieder auf, während der Herzinfarktkranke typischerweise seine reale Bedrohung verleugnet.

Bei der Agoraphobie, der Straßenangst, werden Trennungs- und erotische Fremdgehimpulse, da diese etwa als Prostitutionswünsche entwertet werden, nicht wahrgenommen und tauchen als Panikattakken wieder auf, häufig als Schwindelzustände und Angst vor dem ohnmächtigen Umfallen. In der Familie einer Patientin wurde die Krebserkrankung der Tante verleugnet und taucht bei ihr wie ein Phantom als Krebsangst auf. Bei ihr liegt der Glaube zugrunde, daß alle Familienmitglieder dasselbe Schicksal erleiden, wofür sie viele Beispiele bringen kann. Folglich muß sie Krebsangst haben. -

 

      Folgen der Idealisierung und Aufspaltung sind Umkehrungen ins Gegenteil, etwa der Allmacht in die Ohnmacht. Im Angesicht des Größen-, Allmachts- oder Perfektionsbildes können schon kleine Unzulänglichkeiten und Fehler vernichtend als Ohnmacht erscheinen, etwa völlig das Gesicht zu verlieren, sodaß die Idealisierung die Entwertung und Ohnmacht verstärkt. Ohnmacht und Hilflosigkeit sind im absoluten und göttlichen Weltbild existentielle Bedrohugen. Deswegen besteht die Neigung auf dem Hintergrund der Ohnmacht sich in der Religion mit Gott zu verbinden, am besten man ist selbst ein Gott. Und wer sich ohnmächtig fühlt, hat die Neigung, sich nach dieser inneren Realität zu verhalten. Indem er sich sagt "...hat sowieso keinen Zweck, Sinn, ... bringt nichts" , ist er ohnmächtig ausgeleifert. Hinter sogenannten Minderwertigkeitskomplexen und -gefühlen stehen derartige Größenbilder, ansonsten ist ja nichts minderwertiges zu sehen, sondern der Mensch ist wie er ist. Hinter der Angst vor Fehlern steckt das Bestreben, alles gut und richtig zu machen, ein nicht erfüllbarer Totalitätsanspruch. Dabei sind die Unterschiede der Beurteilungen verschiedener Personen nivelliert. Was etwa ein Fehler ist, darüber können ganz verschiedene Bewertungen bestehen. Ich sage etwa Patienten, um interpersonelle Grenzen zu schaffen "wenn Sie sich einen Fehler zuschreiben oder bei sich sehen, dann sind Sie das, Sie machen den Fehler. Wenn Ihnen jemand anderes an Ihnen Fehler sieht, dann ist der das, und er macht die Fehler". Jedoch sind der Fehler und die Angst so fest eingeschrieben, dass etwa derartige Darstellungen herzlich wenig nützen.

 

Bei der Spaltung entweder - oder, gut oder böse usw. ist die Folge ein Unvereinbarkeits- und Ausschließlichkeitsglauben. Die verschiedenen Seiten oder Aspekt sind unvereinbar. - Mir selbst wurde die Unvereinbarkeit als Jugendlichere an Religionen deutlich. Ich führte mir eines Tages vor Augen, daß viele Religionen überzeugt sind, die eine und einzige Wahrheit für sich gepachtet zu haben. Ich sagte mir, mehrere einzige Wahrheiten nebeneinander kann es jedoch nicht geben. Insofern kann etwas an der einzigen Wahrheit nicht stimmen. Unter dieser Erkenntnis hat meine Religiosität damals sehr gelitten. - Treten die verschiedenen Wahrheiten in der absoluten Überzeugung in Erscheinung, wird Verwirrung, Chaos bis zur Zerrissenheit erzeugt. Wie oben erwähnt, ist die Verwirrung, das Chaos und die Zerrissenheit wiederum ein besonders gefürchteter Bedrohungsinhalt, der wiederum durch Spaltung, um die ersehnte Sicherheit, Ordnung, Klarheit und Eindeutigkeit zu erlangen, abgewehrt wird. So entsteht ein tragischer Kreislauf von Spaltungen und Chaos, und in jeder Unsicherheit wird das Chaos gefürchtet.

Ebenso ist es bei der Schuld. Sind an einem Prozeß, der schief geht, mehrere beteiligt, wird die Schuld an einem fest gemacht. Mehrere nebeneinander können in der Spaltung ja nicht schuld sein. Auch die Negativprophezeiungen, Schwarzmalerei etwa bei Phobikern und Angstneurotikern können Folge der Spaltung sein. Die guten Möglichkeiten können durch den tiefen Graben der Spaltung nicht gesehen werden. In der Schule, im Beruf etwa wird nur die Konkurrenz und der Machtkampf und nicht die Kameradschaftlichkeit und Hilfsbereitschaft gesehen und bejammert, oder andererseits illusionär nur die Kameradschaft und Brüderlichkeit, nicht die verschiedenen Interessenslagen und sich daraus ergebenden Auseinandersetzungen. Nur das Eine wird gesehen und nicht mögliche Vorteile und positive Folgen. Eine Zerstrittenheit und Rechthaberei ist ebenso eine Folge. Nicht jeder für sich hat recht, in seinen Augen und in seiner Sichtweise, sondern nur einer kann recht haben. So wird eine subjektive Sichtweise zu einer objektiven, und man kann sich endlos streiten, wer in seiner Subjektivität objektiv recht hat, eine Machtkampf um Sieg und Niederlage.

Eine Folge der Gleichsetzung von Phantasie und Realität oder Denken und Glauben ist, daß bei der Handlungsumsetzung des Glaubens ein Phantasie - und Denktabu besteht. Die Gedankenfreiheit geht partiell oder völlig verloren, weil die Gedanken Handlungen bedeuten würden. In einem derartigen Klima des Denkverbots entstand das Lied "die Gedanken sind frei...". Über die tabuisierten Gedanken kann natürlich nicht mehr gesprochen werden. Eine Sprachlosigkeit ist die Folge. Auch können bedrohliche Handlungsinhalte nicht mehr gewagt werden zu denken. - Ich denke dabei an einen Patienten, der nach außen saturiert, selbstzufrieden, belustigt distanziert wirkte, aber über sein Inneres klagte, in dem er sich voller Schmerzen, freudlos erlebte, so daß er für sich keinerlei positive Sinn im Leben mehr sah und meinte, er könne sich gleich umbringen. Dann sei für ihn nichts mehr verloren. Seine Schuldgefühle würden ihn sämtlicher Genußfähigkeit berauben. An sich müßte es ihm gut gehen, aber seine Erfolge - Drogenfreiheit nach langer Sucht, Arbeitsfähigkeit und abgeschlossenes Studium - wären für ihn rein gar nichts wert. Auf meine Frage, was wäre, wenn man ihm sein Inneres äußerlich ansehe, antwortete er, "um Gottes willen, daran wage er nicht zu denken..., die Ausnutzung, Blamage, Lächerlichkeit!" Im Sinne des Digitalen Dialogs hatte er sein Inneres ins äußere Gegenteil verkehrt. Gleichzeitig gelang es ihm, seinen inneren Neid auf das vermeintliche Wohlergehen anderer in deren Neid auf sein Wohlergehen umzuwandeln. - Ähnliche Beispiele habe ich in anderen Zusammenhängen erwähnt.

Vor allem im erotischen und Intimbereich ist die Gedankenfreiheit tabuisiert. Im Sinne einer trotzigen Gegenhaltung und -reaktion werden geradezu die tabuisierten Inhalte durchbrochen und bevorzugt angesprochen. Dies führt zu zweideutigen Witzen, Anekdoten und einer ordinären Sprache über sexuell stimulierende Körperteile "Pfotze, Titten, Schwanz, Arsch" und einer Fäkalsprache. Gleichwohl deutet diese Sprache auf die Tabus hin und vielfach wird gerade wegen dieser Ordinärsprache besonders anständig, sauber und moralisch gelebt. Im zwischenmenschlichen Kontext besteht oft eine Spaltung, indem die Einen ordinär reden und die Anderen darüber die Nase rümpfen und sich über diese Ausdrucksweise empören. Diese Vulgärsprache ist im Volksmund soweit verbreitet, dass viele sagen, wenn sie sich hintergangen fühlen, sie seien verarscht worden. Ein zum Priester erzogener Patient, der sich kaum Frauen annähern kann, verlustiert sich in der Betrachtung von Muschies, wie er sagt, und photographiert vorzugsweise Frauenkörper in provozierenden Stellungen, worüber er grinsend erzählt. Als junger Arzt arbeitete ich an einem von Nonnen geführten Haus und kam zufällig hinzu, als sich mehrere Nonnen die dreckigsten Witze erzählten, und erzählten ungeniert weiter.

Die geringe Dialogfähigkeit, der mangelnde intra- und interpersonelle Austausch bzw. die Sprachlosigkeit halte ich ebenfalls für eine Folge der Spaltung. Ein Austausch von Gedanken, Wünschen, Befindlichkeiten und von tabuisiertem Handeln ist kaum oder nicht möglich. Wie meist bestehen Ambivalenzen. Werden diese erfaßt, kann ja nicht nur das Eine benannt werden, sondern es wäre verschiedenes und widersprüchliches zu benennen. Dies ist unvereinbar und würde Verwirrung und Zerrissenheit schaffen. Die Sprachlosigkeit dient also zur Aufrechterhaltung der inneren Klarheit und Eindeutigkeit in der eigenen Welt. So kann jemand sprachlos werden, wenn jemand ganz anderes redet und handelt, als es der eigenen inneren Welt entspricht. "Wie jemand so etwas nur sagen und tun kann." Sie ist die Folge der Verleugnung verschiedener Welten, in denen verschiedene Menschen leben. Dies ist oft auch eine Verleugnung und Nichtwahrnehmung der eigenen Verschiedenartigkeit und eigenen unterschiedlichen Welten. Je nachdem, was für die eigene Person im Vordergrund steht, das die eigenen Befindlichkeit prägt, und wonach geredet und gehandelt wird, besteht Verständnis für andere oder nicht und kann darüber gesprochen werden.

Die Sprachlosigkeit betrifft vor allem nahe, intime Beziehungen, wo der geringste Abstand besteht, zu besonders nahen Personen wie etwa die eigene Mutter oder dem Lebenspartner und in besonders intimen Situationen wie die Sexualität, im Bett. Dort ist es besonders schwer, die eigenen unterschiedlichen Seiten und Wünsche ins Gespräch zu bringen. Manchmal ist es leichter, hinterher, in Abstand sich auszutauschen, etwa wann und unter welchen Umständen, bei welchem Anblick, im Hellen oder Dunklen, in welcher Stellung die Lust oder Unlust am größten oder geringsten ist. Eine Folge der Sprachlosigkeit, des Schweigens und des fehlenden menschlichen ausgetauschten Miteinanders ist etwa, daß nach einer Umfrage die Hälfte der deutschen Ehefrauen sämtliche Sexualität aufgegeben hat. So kann es passieren, daß jemand in der Eisenbahn von einem Mitreisenden die ganze intime Lebensgeschichte erzählt bekommt, die er seinen Nächsten nie anvertrauen könnte. Das Mitteilungsbedürfnis trägt einen Sieg davon, aber nur, weil er sicher ist, den Fahrgast nie mehr zu sehen und bloßgestellt zu werden.

Eine Folge der Abwehrmechanismen der Vermeidung der Bedrohungen, der Verwirrung und des Chaos ist das Streben nach Normalität und Funktionalität. Man könnte auch von einem Abwehrmechanismus sprechen, wie überhaupt die Mechanismen und deren Ziele von den Folgen schwer zu trennen sind. Daß alles klappt, funktioniert, vor allem normal ist, ist oberstes Gebot. Das Wort "normal" und "anormal" ist allgegenwärtiger Alltagssprachgebrauch. - Dazu eine Fallvignette: Ich sagte einem Phobiker, daß es bei Phobikern üblich sei, wenn bei ihnen etwas für sie nicht verständliches passiere, wie plötzlich in Tränen auszubrechen oder unerklärlichen Ängsten ausgesetzt zu sein, sich nicht nach sich selbst zu fragen, was bei ihnen selbst los sei, sondern, ob das normal oder angemessen sei. Er antwortete "das ist doch überall so". – Er sah seine Maßstäbe und bilder in der gesamten Welt. Die Maßstäbe werden von Normen und Regeln bezogen ohne Rücksicht auf die eigene Person und Befindlichkeit, einer Anpassung, die ich wegen des partiellen Verlustes der eigenen Person Überanpassung nennen möchte. So sind sie erzogen, haben sie es verinnerlicht und danach leben sie. Dazu ein Spruch eines Vaters "Lust, Lust gibt es nicht, du hast zu funktionieren!" Der Überangepaßte hat keine Ecken und Kanten, die seine individuelle Persönlichkeit ausmachen würden. Oft spielt sich die Überanpassung nach Idealmaßstäben, die die Diskrepanz zwischen Real- und Idealselbst erhöhen. Viele Patienten schildern mir, daß sie letztlich eine Heile Welt im Kopf haben und dann sei die tatsächliche Welt umso schrecklicher, eine Aufspaltung in gut und böse, wobei sie nur nach dem Guten streben und in der Welt das Böse sehen..

Ein Funktionierender und Normaler nach den Gesetzen etwa der Arbeitswelt bekommt von außen viele Gratifikationen. Mit ihm hat man keine Schwierigkeiten. Er wird dadurch geradezu verführt, ohne Selbstberücksichtigung sich sozusagen an andere und fremde Gesetze wie der Normalität zu verkaufen. Da dabei die eigene Person und Identität verloren geht, entsteht ein inneres Defizit, ein inneres Vakuum oder eine leere Stelle. Betreffs der eigenen Person ist er partiell oder sogar weitgehend tot. Dies führt zu einem inneren Leiden bei einem äußerlich prächtig funktionierenden Menschen. Ich spreche von Normopathie. Solche Menschen können in verschiedener Weise reagieren, indem sie sich etwa Selbstverletzungen beibringen, um sich zu spüren, auf den Körper projizierte tote Teile herausoperieren lassen oder zu einem für sie bedeutsamen Zeitpunkt etwa an Krebs oder Herzinfarkt zu erkranken. Unter diesem Gesichtswinkel könnte man sämtliche Symptomatik als Selbstverletzung oder Masochismus sehen. Selbstmord ist ebenfalls eine konsequente Folge des vorherigen partiellen inneren Todes. In ihrer Konsequenz werden sie sogar von manchen standfest und konsequent denkenden Menschen bewundert. - Dazu ein Beispiel: Ein an einem normalerweise nicht sehr bösartigem Krebs erkrankter Tennisspieler verleugnete seine Erkrankung und spielte trotz Verschlimmerung und auftretender Metastasen weiter Turniere bis zum Umfallen. Ärztlichen Ratschlägen gegenüber, sich innerlich mit seiner Erkrankung auseinander zu setzen, war er unzugänglich. Eine Ärztin wies auf langjährige Überlebenschancen auch bei bösartigeren Krebsformen hin. Von männlichen Ärzten erntete er höchste Bewunderung aufgrund seiner mannhaften Konsequenz. -

 

Insofern ist leicht zu verstehen, daß bei Menschen, die gemäß ihrem inneren, tieferen Glauben alle Mechanismen zur Abwehr der Bedrohungen einsetzen, leicht Hilfs- und Hoffnunglosigkeit entsteht. Sie bemühen sich, die Bedrohungen zu verhindern, wollen das Gute und Beste, versuchen Ordnung zu schaffen, und ernten Verweigerung, Trotz, Illusionen, Verwirrung und Chaos - ein Ciculus vitiosus oder Teufelskreis. Derartige tragische Kreisläufe im Fluß des Lebens spielen sich häufig und am gravierendsten in Eltern- Kind- und Partnerbeziehungen ab. Eltern wollen nur das Beste mit und für ihre Kinder, sie versuchen sie auf ein besseres Leben hin zu erziehen und erreichen das Gegenteil. Nach dem griechischen Mythos trifft für sie die Sisyphossage zu. Die Verurteilung der Götter ist ihre innere Realität, die sie von früheren Göttern, ihren Eltern, als Erbschaft mitbekommen haben. Ihre Anstrengungen gleicht dem erfolglosen Felsenschleppen des Sisyphos. Ihre Auffassung des Lebens ist die der Schwere und Bürde des Lebens, eines irdischen Jammertales nach dem christlichen Mythos, ähnlich dem Heiligen Christophorus, der statt des kleinen Jesuskindes die Bürde der Welt trägt und unter ihr zusammenzubrechen droht. Bei diesen die Bedrohung zu verhindernder Lebensprogrammierung und der Herrschaft der Mechanismen und Automatismen werde ich an SARTRE`s Buch "Im Räderwerk" erinnert.

 

Als Beispiel möchte ich die vielen Menschen anführen, die in ihrer Kindheit durch Erziehung und das Verhalten ihrer Vorbilder erlernt haben, sich ausschließlich an anderen zu orientieren. Es ihnen recht zu machen, alle Erwartungen zu erfüllen, überall gut dazustehen, sind ihre höchsten Lebensziele. In ihren Augen opfern sie sich ganz für die anderen auf. Diese Aufopferung entspricht ihren Vorstellungen bzw. ihrer inneren Realität der Erwartungen anderer, Subjekt im Objekt, muß jedoch in keiner Weise den Wünschen anderer entsprechen. Sie meinen, das richtige zu tun nach ihren Realitäten der anderen und tun für die anderen nach den Wünschen das Falsche. An sich selbst gehen sie völlig vorbei. Sie kommen für sich selbst zu kurz und auch für die andern. Für ihre Bemühungen verlangen sie Dankbarkeit und Rückvergütung und erhalten oft das Gegenteil.  Die unterdrückten Aggressionen müssen sie zur Erhaltung der Harmonie gegen sich selbst wenden. Sie schlagen sich im Körper oder der Seele nieder. Schon das Wort Depression ist von deprimere abgeleitet „nieder- unterdrückt oder –geschlagen“. Der Magengeschwürskranke frißt sich lieber selbst ein Loch in die eigene Magenwand vor Wut. Das macht er sich ähnlich wie der Depressive nicht bewusst, das geschieht einfach mit ihm.- Dazu schilderte ein Phobiker, er habe nur gelernt, seine Antennen nach außen zu richten. Ein Innen gäbe es für ihn gar nicht. - Ein jeder kennt z.B. die Situation, wenn ein Gastgeber fortwährend über den Tisch schaut, um die potentiellen Wünsche seiner Gäste zu befriedigen und als guter Gastgeber dazustehen. Manche Gäste fühlen sich dadurch belästigt. Ihnen wäre es lieber, sie kümmerten sich selber um ihre Wünsche, fühlen sich unnötig genötigt, für sich selbst mehr als erwünscht zu sich zu nehmen, bekommen schlechte Gefühle, daß der Gastgeber kaum zu einem eigenen Genuß kommt, und erleben sich selber und diesen als Belästigung. -

Weiterhin, wer dauernd fr andere da ist, erwartet wie selbstverständlich im Sinne der Gleichheit und Gerechtigkeit, daß andere auch für ihn da sind. Dadurch erwirbt er sozusagen Rechte am anderen, der zugleich in einen rechtlosen Zustand gerät. Dabei bestimmt er die Ziele, wodurch sich andere manipuliert fühlen mögen und gerade deswegen die Rückerfüllung zur Erhaltung ihrer Selbständigkeit vermeiden und verweigern und sabotieren müssen. Der Aufopfernde mag gerade durch sein Verhalten das Gegenteil erreichen. Wenn er seine Enttäuschung und seinen Zorn zum Ausdruck, mag es heißen "für falsches soll ich dir richtiges zurückgeben?", sodaß er seinen Zorn herunterschlucken muß. Dauerhaft hineingefressener Zorn und Wut kann etwa zu einem Magengeschwür führen. Überhaupt spielen bei Krankheitssymptomen meiner Ansicht nach frustrierte vermeintliche Rechte an anderen eine wichtige Rolle.

Oft spielt sich dieser Zusammenhang zwischen Eltern und Kindern ab. Ein Mutter opfert sich für ihr Kind in ihrem Sinne für Richtiges, im Sinne und nach den Wünschen des Kindes für Falsches auf und beansprucht Gleiches zurück. Dadurch kommt das Kind in die Situation, ohne etwas in seinem Sinne Richtiges bekommen zu haben, zurückzahlen und sich aufopfern zu müssen. Trotz und Boykott werden geradezu provoziert, und die mehrfach erwähnten Zyklen nehmen ihren Verlauf. Zuguterletzt mag ein derartiger Altruist, der sich ein Leben lang für andere aufgeopfert hat, in der Therapie hören, er respektiere nicht andere Personen in ihren eigenen Zielen und Wünschen. Seine Empörung ist vorprogrammiert - falls er nicht inzwischen die Unterscheidung zwischen den Personen gelernt hat.  

      Dabei komme ich zur Gefühlssituation von Menschen, die innerlich nicht differenzieren können. Falls vermeintliche Rechte nicht erfüllt werden, tritt Empörung ein. Werden diese dauerhaft nicht erfüllt, tritt Verbitterung ein. Bei Resignation und Hoffnungslosigkeit wird an den Zielen und Rechten festgehalten, während bei der Trauer losgelassen werden kann. Deswegen ist in Psyhotherapien der Trauerprozeß, Loslassen und Verzicht, therapeutisches Ziel. Christen sagen etwa in dieser Situation "der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen, gepriesen sei der Herr". Trauer kann jedoch nur zugelassen, wenn für den Verzicht andere Gewinne möglich und erlebt sind. Der Trauerprozeß macht frei zu neuen Zielen, während in der Hoffnungslosigkeit die Welt nicht mehr offen, also geschlossen ist. Der Fluß und Wandel des Lebens steht still. Werden neue Realitäten anerkannt, treten Gefühle wie Erstaunen und Verwunderung auf. Es kann weiter gehen. Oft wird Erstaunen, wenn nicht die Flexibilität der Akzeptanz der neuen Realität besteht, abgewehrt „kann nicht sein!“. Für die neue Realität besteht kein Vorbild.

Werden Wut, Enttäuschung, Verbitterung nach außen abgeführt, werden sie meist vom Gegenüber bekämpft, falls dieses keine eigenen bilder zum Verständnis besitzt,  und zur Erhaltung der äußeren Harmonie und guten Beziehung unterdrückt. Im Sinne der Verinnerlichung steckt die Unterdrückung auf der Suche nach Harmonie oft schon in den Personen. Gerade wegen der Harmonie wurde sich ja nach den anderen ausgerichtet. Bei einer äußeren Harmonie unter Mißachtung der Subjekte spreche ich von Schein- oder Pseudoharmonie. Nach innen gekehrte Bitterkeit, Verbitterung, Resignation und Hoffnungslosigkeit können eine enorme, implosive, autodestruktive Wirkung entfalten und zu Krankheiten führen.

           Sollte es mal für jemanden, der nur die frustrierende Opferhaltung und Bürde in seinem Leben kennt, etwas im Leben leichter gehen, entspricht dies nicht seiner inneren Realität. Sie können es kaum glauben und werden bald die gewohnte Schwere einführen. Ertappen sie andere Menschen, daß diese es sich leichter, unproblematischer machen, werden sie diesen vorhalten "du machst es dir zu einfach!, das geht doch nicht" oder sogar das Verbot aussprechen "man darf es sich nicht so einfach machen!". In ihrer langdauernden chronischen Hilfs- und Hoffnungslosigkeit sind sie prädestiniert zu chronischen, schweren Krankheiten.

Von Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern habe ich mehrfach gehört, wenn ich Ideen hatte, wie sie doch noch etwas aus ihren für mich erkennbaren Fähigkeiten machen könnten "das ist alles nicht so einfach" und damit waren alle Möglichkeiten mit einem Schlag vom Tisch gefegt. Doch noch Ressourcen zu besitzen, entspricht einfach nicht ihrem Weltbild. - Dazu ein Beispiel: Eine Depressive, in deren Familie mehrere Mitglieder an Krebs gestorben waren, erfand wie in einem Katz- und Mausspiel in dem Maße, wie mir Lösungsmöglichkeiten einfielen, Sackgassen, weswegen dies und jenes nicht möglich sei. Für mich war ihre Sackgassenkreativität schon fast bewundernswert. Andererseits spürte ich in der Gegenübertragung ihren früheren Ärger, wie ihr als Kind alle Ziele ihr verbaut wurden.

Da im Spaltungsweltbild das Leben auf die Verhinderung von Katastrophen ausgerichtet ist, entstehen als Folge enge, rigide Verhältnisse. Das Leben erfolgt nach Programmen etwa der Normalität. Es wird von (Abwehr)Mechanismen, die unbewußt automatisch ablaufen, also Automatismen, beherrscht und wird fade, öde und langweilig. Sich doch noch Genuß und Freiheit im Leben zu verschaffen, dazu kann die Übertretung der Normen und Regeln dienen. Dort liegt der Reiz des Lebens. Die verbotenen Früchte schmeckten schon immer am besten.  "Anständige" Ehemänner suchen besondere Befriedigung im Halbwelt- und Rotlichtmilieu. Dort können sie das machen, wofür ihre Frauen sich und ihnen zu schade und anständig bleiben. Nicht nur Frauen wollen in vielen Kulturen anständig und sauber sein, sondern auch ihre Männer wollen sie so. Als Folge treibt der Sextourismus seine Blüten. Ich hörte einmal, es gibt niemand strengeres, der auf Moral und Anstand im Haus achtet, als eine ehemalige Nutte. Die Neigung zu Doppelmoral "außen hui und innen pfui" ist oft der einzige Weg, sich Freiheit zu verschaffen. Puristen wiederum stellen sogar diese noch an den Pranger. Weitere Wege des Genusses sind Klatsch, Tratsch und Intrigen. Jemand, der allerdings seine Entwertung und Bloßstellung fürchtet, wird diesen Freiheitsraum verurteilen, zumindest wenn es ihn selbst betrifft, über andere jedoch oft kräftig mittratschen, eine Form der Doppelmoral.

Ein weitere Folge und Abwehmechanismus ist, wenn man selbst schon nichts machen kann, die im vorherigen Abschnitt angedeuteten Wege nicht möglich sind und man zur Hilfs- und Hoffnungslosigkeit verdammt ist, die von außen kommende Erlösung. Am leichtesten ist sie in den Mythen erkennbar, etwa im christlichen Mythos des Erlösers vom Leid der Menschheit, oder in Märchen wie Aschenputtel, Dornröschen u.a.

Der Trotz spielt in vielen Beziehungen eine tragende und für beide Seiten tragische Rolle, etwa in einer Mutter-Tochter-Beziehung. Häufig erlebe ich, ein Mutter meint, für ihre Tochter alles gute getan zu haben und als Dank einen "Arschtritt" zu bekommen. Dies gilt im allgemeinen überall, wo sich jemand verascht fühlt. Dies kann die Mutter krank und depressiv machen. Für all ihr Gutes beansprucht sie Gegenleistungen, zumindest Dankbarkeit. Ich spreche von Anspruch, da diese erfüllt werden müssen. An die Erfüllung ist die Mutter meist gebunden und kann nicht darauf verzichten, da zentrales in ihrem Selbstbild, meist ihre Selbstliebe und -achtung davon abhängt, von ihrer Tochter Gegenleistungen als Ausdruck der Anerkennung, Dankbarkeit und  Liebe zu erhalten - den Unterschied zwischen Erwartung und Anspruch sehe ich darin, daß auf Erwartungen verzichtet werden kann, aber Ansprüche erfüllt werden müssen. Im Anspruch besteht eine Koppelung von Erwartung und Erfüllung - Normalerweise steckt bei ihr eine massive Selbstentwertung dahinter. Die Mutter versucht durch ihre Tochter Aufwertung zu erlangen. Durch die Vorleistungen der Mutter sieht sich die Tochter arg bevormundet und in die Enge getrieben und muß zur Selbstbestimmung und Freiheitssuche dagegen setzen, meist mit dem Gegenteil, sodaß die Mutter zwangsläufig für ihre Bemühungen das Gegenteil erntet.

 

      Hinzu kommt, daá die Mutter das Gute nach ihren Vorstellungen, in ihrem Sinne getan hat, etwa Bevormundungen zum Essen, anständigen Verhalten, Fleiß usw., wenn dies der Tochter nicht entsprach. Dies entspricht oft nicht den Interessen, der Position und dem Sinn der Tochter.  Das heißt für die Tochter, für falsches soll sie richtiges zurückgeben. Oder anders gesehen, sie ist bevormundet, eingeengt worden, hat gegeben, statt zu kriegen und soll dafür die Mutter belohnen. Die Undankbarkeit bedeutet eine massive Entwertung der Mutter und sie wird mit Vorwürfen, Aggressionen reagieren, in ihren Augen zurecht. Da die Trotzige zum Teil die Augen des anderen übernommen hat, der Mutter recht gibt und dadurch nicht widersprechen kann, werden oft ihre eigenen Vorwürfe und Aggressionen niedergeschlagen und gegen die eigene Person gewendet und zu Selbstvorwürfen und niedergeschlagenen Aggressionen (deprimere = niederschlagen, Depression = Niedergeschlagenheit), also Depressionen. Falls die Tochter auf ihrem in den Augen der Mutter undankbaren Standpunkt beharrt, manche brechen sogar sämtliche Kontakte ab, geht der Mutter ein wesentliches Lebensziel verloren, für all ihre Bemühungen, Lohn zu erhalten. In ihrer Hilflosigkeit kann sie hoffnungslos  werden. Der gleiche Beziehungszusammenhang kann sich auch zwischen Sohn und Mutter und Vater und Tochter/Sohn abspielen.

      Ebenfalls kann die Mutter doch noch um die Liebe ihrer Tochter ringen, muß ihre Vorwürfe niederschlagen, um nicht ihre Tochter böse auf sich zu machen, und reagiert ebenfalls depressiv. Dann kann die Tochter sich schuldig an der Depression der Mutter fühlen, wird dadurch verstärkt depressiv. Falls die Mutter sich fürsorglich um ihre depressive Tochter kümmern kann, hat sie eine neue sinnvolle Aufgabe gewonnen, die sie stabilisiert. Der Tochter kann es gut tun, daß es ihrer Mutter besser geht. Sie bekommt mütterliche Zuwendung, darf jedoch nicht ihren depressiven Zustand verlassen. Dann wäre das Gleichgewicht der Mutter gefährdet, sie verlöre die Fürsorge, und das ganze Spiel finge von vorne an. So kann sich ein relativ stabiles Gleichgewicht einstellen, in dem die Eine gesund ist, die andere krank, sich darin aber gar nicht so unwohl fühlt, was sie jedoch unter keinen Umständen nach außen zeigen darf, etwa gegenüber behandelnden Ärzten.

 

Bei Kränkungen und Verletzungen müssen Selbstentwertungen zugrunde liegen, ansonsten würde es gar nicht soviel ausmachen, wenn andere entwerten. Die Kränkung, eine Selbstverletzung, ist also eine Selbstentwertung im Angesicht anderer (siehe Blendung des Ödipus, Selbstverletzung, um nicht die Schande in den Augen anderer zu sehen).

Als Hintergrund der depressiven Entgleisung einer jungen Frau nach der Trennung von ihrem Freund wurden die Selbstvorwürfe der Mutter und der tragische Kreislauf deutlich, ihre Tochter falsch erzogen zu Haben. Da die Mutter dies glaubt, glaubt die Tochter ebenfalls, an ihr sei etwas falsch, obwohl sie vordergründig an der Erziehung der Mutter nichts auszusetzen hat. Sie glaubt, sie sei nicht gut genug für Männer, würde nach mehrfachem Scheitern niemanden mehr finden. Die Prophezeiung steigert ihre Depression. Die Stigmatisierung ihrer Mutter wird zu eigenen Selbstvorwürfen und steigern die ihrer Mutter, ein symbiotischer Kreislauf. In diesem Fall führte dies dazu, daß sie sich in ihrer Not nicht an ihre Mutter wenden durfte, um deren Selbstvorwürfe nicht noch zu steigern und infolge der symbiotischen Verknüpfung, diese einsam mit sich selbst ausmachen mußte. Da die Partnerbeziehungen scheiterten, war sie auf Kontakte mit ihrer Mutter angewiesen, ohne die Gründe angeben und sich artikulieren zu können. Daraufhin wußte die Mutter nicht, was falsch sei, und konnte nicht Stellung beziehen, was ihre Ängste vor dem Unbekannten steigerte.

 

Der Haß einer depressiven Patientin über das ewige Jammern ihrer Mutter, ihre Krankheiten, Rücksichtsnahme, Hilflosigkeit und Bedürftigkeit wurde zum Selbsthaß in dem Augenblick, als sie ähnliche Eigenschaften, ihre Identifikation, an sich wahrnahm. Mit ihrer Hilflosigkeit, ihren Krankheiten anderen auf den Geist zu gehen, dann nicht mehr gemocht zu werden, ähnlich wie sie die Mutter nicht mochte, war schlimmer als die Krankheit selbst. Verständnis und Akzeptanz für sich selber, weil sie es schließlich nicht anders kennen gelernt hatte, war für sie so schnell im Angesicht der Parallele zur Mutter nicht möglich. Dann ist Verleugnung oft noch vorläufig der beste Weg. Durch die Verleugnung muß sie sämtliche Befindlichkeiten unterdrücken, was die Krankheit noch steigern kann. Außerdem hat sämtliches Unterdrücktes die Neigung hochzukommen, sich zu Wort zu melden, um besser verarbeitet zu werden, daher der Wiederholungszwang.

 

Mit Normen und Ritualen können persönliche Bedürfnisse und Kränkungen umgangen werden. Sie bieten Schutz. Beispiele sind etwa Festivitäten wie Geburtstage und Weihnachten, an denen die Familie zusammen kommt. Wenn etwa die Tanten, die das Kind auf den Tod nicht ausstehen kann, es umarmen und abküssen, kann es die unangenehmeren und bedrohlicheren Vorwürfe, sich unartig und unhöflich zu benehmen, durch Gehorsam umgehen und die belohnenden Geschenke entgegen nehmen. Das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden, kann weniger schwer wiegen als die Vorhaltungen, Strafen und Geschenke. Den Tanten bleibt die Kränkung erspart, nicht geliebt zu werden, und sie schenken bereitwillig weiter. Den Eltern bleibt erspart, ein ungehorsames Kind herangezogen zu haben, was als Schatten auf sie zurückfällt, zumindest unter der Voraussetzung dieser Beleuchtung. Allerdings wiegt schwer als Nachteil, daß durch die Bestätigung der Rituale diese unwidersprochen fortgesetzt werden können, die Kränkung der Unterwerfung unter die Ziele anderer, die Selbstaufgabe, Trotz und als Folge dessen Unterdrückung geradezu provozieren. Dies kann je nach dem Schweregrad der Abneigung zu innerer Zerrissenheit infolge der Unvereinbarkeit von Selbstaufgabe und -selbstbehauptung führen. Die Aggression kann sich bei einem Kind u .a. in völliger Abschottung, in späteren Trotzzuständen oder in Aggressionen gegenüber Geschwistern äußern.

 

Die wohlmeinende Behütung und Überbehütung eines Kindes ist meist die reinste Angstmache. Durch die Beschützung werden die Bedrohungen als Teufel "die bösen Kinder..., der Leistungsdruck in der Schule..., die Verkehrsgefährdungen..." an die Wand gemalt, an die die Eltern glauben und das Kind ebenfalls. Die Eltern delegieren ihr schwarzes Weltbild an die Kinder. Bei einem Angstneurotiker kam hinzu, daß die vorher überbehütende Mutter ihr ängstliches Kind anschließend aus dem Haus heraus trieb "du mußt endlich unter die Leute, sonst...!" Sie nahm die Folgern ihrer Überbehütung wahr und wollte sie korrigieren. Sie bereitete ihm noch zusätzliche Angst vor den Gefahren des Zuhauses. Dies war später die Ursache, daß er sich kaum noch aus dem Bett, wo er Wärme und Zuflucht suchte, heraustraute und andererseits den verinnerlichten Druck boykottierte, also erst recht zu Hause blieb und nicht mehr der gefürchteten Arbeit nachgehen konnte.

Bei schwer Depressiven habe ich wiederholt erlebt, daß die Mütter den schützenden Mantel wie die Alma Mater um ihre Kinder breiteten als Schutz vor den Ängsten, die sie selbst ihren Kindern bereitet hatten. Dann fühlte sich das erwachsene Kind geborgen und die Mutter als Stabile, Schützende, heroisch gute Mutter ebenfalls. Die Geborgenheit bei dem Angstverursacher ist naturgemäß eine sehr fragile Geborgenheit und Angst machend. Ein vergleichbarer Sachverhalt kann darin gesehen, wenn die Mutter ihrem bösen Kind seine Untaten verzeiht und vergibt. Für beide ist der Vorteil, sie gewinnt die Nähe ihres Kindes zurück und dies die N„he der Mutter. Ähnlich, die Nähe in mütterlichen Glaubensgemeinschaften, verhält es sich in Religionen, wenn Sünden etwa in der Beichte vergeben werden. Das böse Kind und der Sünder sind jedoch stigmatisiert, und die Mutter und der Beichtvater die göttlichen Vergeber. Sie müssen fürchten, daß ihnen nicht vergeben wird, was oft genug geschieht, etwa in der Todsünde, die Hölle ohne Vergebung, und geraten in totale Abhängigkeit. Andererseits gerät ein Beichtvater in Abhängigkeit, ist abhängig von der Schuld- und Sündenakzeptanz, fühlt sich und wird überflüssig, wenn der Sünder etwa autonom erklärt, daß überhaupt keine Sünde vorliegt, etwa bei der Onanie in der katholischen Kirche. Insofern können sich Eltern überflüssig, unwichtig fühlen bei der Autonomie eines Kindes, geraten in Abhängigkeit von der Abhängigkeit eines Kindes. Solche Teilaspekte können etwa bei einer Involutionsdepression einer Mutter bei einem sich loslösenden Kind eine tragende Rolle spielen.

 

In der absoluten Wahrheit sind andere Teilaspekte und Widersprüche, die dieser nicht entsprechen, Lügen und Heuchelei.

 

Nicht das, was man tut, ist das Wichtigste, sondern das, was man meint, tun zu müssen, die Pflicht. Dann kann schwere Arbeit leicht fallen und Nichtstun zur Schwerstarbeit werden, weil man ja nicht seinen Arbeitspflichten nachkommt und sich in den Augen der Arbeitenden ein schönes Leben macht, etwa bei Arbeitslosen.

 

Der Mißbrauch an Jungen ist deshalb wesentlich stärker tabuisiert, weil Mädchen eher den Feind insofern kennen, weil sie davon ausgehen können, daß die Väter im gesellschaftlichen Kontext eher ihre Untaten kennen als Mütter. Bei Müttern ist eher davon auszugehen, daß sie den Mißbrauch als solchen nicht erkennen, sondern in bestem Wissen und mit bestem Gewissen handeln, immer nur das Beste wollten, nicht wußten, was sie taten, und insofern nicht angreifbar sind. Beim körperlichen Mißbrauch wird von der Kenntnis ausgegangen, beim mütterlichen Mißbrauch von der Unkenntnis.

Zauberformel der Aggressionsunterdrückung in der Familie "um des lieben Friedens willen...".