Bernd Holstiege

Über die Schwierigkeiten der Integration psychischer Aspekte in die medizinische und Trainingsbetreuung von Sportlern

Seine Psyche - die Gesamtheit seines Innenlebens mit den äußeren Ausdrucksformen, auch Geist oder Seele genannt - erhebt den Menschen über alle Lebewesen und schafft erst seine kreativen Schöpfungsmöglichkeiten.

Jedoch, laut biblischer Schöpfungsgeschichte schöpft sich der menschliche Geist seinen eigenen Fluch, indem er den an sich normalen Vorgang des Apfelessens - vom Baum der Erkenntnis mit der Bedeutung der Gottgleichheit - zur Erbsünde und Schuld für die gesamte Menschheit erklärt. Natürlich war das Weib die Schuldige, die sich vom bösen Geist verführen läßt. Das entspricht den meisten kulturellen Realitäten, wo die Mutter in der Entwicklung des psychisch völlig ungeprägten Neugeborenen die Hauptbezugsperson darstellt und mit ihren Denk- und Verhaltensweisen den am meisten prägenden Einfluß im Guten wie im Schlechten ausübt - ob sie will oder nicht. Ein weiteres Beispiel: Der an sich normale Vorgang der Selbstbefriedigung, der laut Sexualwissenschaftlern zur normalen psychosexuellen Entwicklung gehört und der von den meisten Jugendlichen betrieben wird, wird in der konservativen katholischen Erziehung zur Todsünde erklärt, die im Todesfall ohne Erlösung in der Beichte zur Verdammnis in der Hölle führt. Laut irdischen Drohungen führt sie zu Rückenmarksschwund und Haarspitzenspalterei. Je nach Sichtweise könnte man diese Drohungen als Hilfe zur Errettung von der Hölle oder als Verbrechen an der Unschuld des Kindes auffassen. Das Beispiel zeigt, daß diese Drohung auf einen schon halb gereiften Menschen trifft, der je nach Glaubenskontext, Reifestand oder Suggestibilität die Möglichkeit hat, in diesem Denken zu verhaften oder über einen derartigen Unsinn zu lachen. Da die menschliche Psyche neben positiv konstruktiven genauso destruktive Möglichkeiten hat, stellt sie gleichzeitig Trauma und Fluch des Menschen dar.

An der Phylogenese der Menschheit und Ontogenese des Einzelnen wird deutlich, daß Psyche nicht ein auf den Einzeinen isoliertes Geschehen sondern eine Intersubjektivität darstellt. Meine verbal und nonverbal in Gestik und Mimik mitgeteilten Gedanken beeinflussen die Gedanken des anderen, sind Teil seiner Gedanken. Glauben und Überzeugungen gehen von einem Menschen in den anderen über. Dabei werden Realität und Phantasie oft nicht auseinander gehalten. Eine für Realität gehaltene Phantasie wird durch die Handlungsweise in Realität umgesetzt - eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Die Prophezeiung des Orakels von Delphi in der Ödipussage hätte ohne die Prophezeiung wohl kaum zu Vatermord und Inzest mit allen schrecklichen Folgen geführt. Die Verwechselung von Realität und Phantasie, Widersprüche und Groteskerien, Unterstellungen und Verzerrungen, Projektionen und Introjektionen, die geglaubt, worüber sich gewundert oder gelacht wird, stellen einen glitschigen Boden dar und bedrohen die Souveränität und moralische Integrität des Einzeinen oder ganzer Gruppen. Infolge dieses komplexen Geschehens ist der Wunsch nach Eindeutigkeiten, Simplifizierung und Festhalten an konkret faßbaren Parametern gut verständlich.

Kurt Biedenkopf sieht in der zunehmenden Komplexität der Gesellschaft und der mangelnden Durchschaubarkeit für wenig Gebildete eine der Hauptursachen des zunehmenden Rechtsradikalismus. Schuld-, Scham-, Schande - Denken und vor allem das Lachen des Dritten, der nicht diesem Denken verhaftet ist, scheinen mir Hauptgründe der Tabuisierung der Psyche zu sein. So sagte Rummenigge auf die Frage eines Journalisten, ob er immer schon 1 Woche vorher wisse, wann sein Knie ihm einen Streich spiele, ,,ich bin doch kein psychologischer (Krüppel) Kasper.“

Mediziner simplifizieren das Krankheitsgeschehen auf meßbare, physikalische und chemische Daten, obwohl sie es oft anders wissen, etikettieren mit Organdiagnosen - und erhalten von ihren Patienten den entsprechenden Auftrag. Wehe, sie fragen nach Problemen oder gar nach psychischen Störungen. Der Krankenschein liegt im nächsten Quartal der Konkurrenz vor und weder Arzt noch Patient ist geholfen. Zu sehr wird Psyche mit Schwäche, Einbildung und Selbstverschulden in Verbindung gebracht. Ja, Patienten mit erektiver Impotenz sind eher bereit, sich eine Plastikpenisprothese einoperieren zu lassen als sich mit ihren Schwierigkeiten und denen ihrer Partner auseinanderzusetzen. So wichtig ist ihnen wenigstens ihr äußeres Funktionieren - obwohl diese Vorgehensweise in sich wieder den Stachel der Lächerlichkeit und Schwäche birgt. Viele meiner neu angekommenen Patienten erwarten von der Psychotherapie eine Ohne-Daß-Therapie, wie ich es für mich nenne, die wie ein Medikament wirkt, ohne daß sie sich mit den auslösenden Faktoren auseinanderzusetzen brauchen.

Ich persönlich schätze es, zur Veranschaulichung aktueller, realer, zwischenmenschlicher Verhältnisse jahrhundert- und jahrtausendalte Mythen, Märchen, Fabeln und Metaphern heranzuziehen. Heiße, problematische Themen sind in dieser Form eher betrachtbar und zeigen, wie weit der Mensch in seinem Wesen unverändert und sich selbst treu geblieben ist. Für unsere Kultur ist vor allem das Juden- und das Christentum mit der Hauptüberlieferung der Bibel, die griechischen My­then, die germanischen Sagen und die deutschen Märchen von Bedeutung. Bei der Betrachtung der Spiegelbilder und Personifizierungen fallen mir immer neue Gesichtspunkte und Deutungen ein.

In den griechischen Sagen sind mir immer wieder präsent: Ödipus - nach Sigmund Freud der Grundkonflikt des Menschen - das Thema von Vater - Sohn - Rivalität, mit Mord gleichgesetzt, und Inzest. Sisyphos steht als Synonym für die Verurteilung durch die Götter zu ewig erfolgloser Mühe. Unter Verurteilung durch die Götter verstehe ich, daß aus der Familientradition verinnerlichte Denk- und Verhaltensweisen in fixierter Form immer wiederholt werden - anstatt den Stein nach oben zu bringen oder einfach unten liegen zu lassen und dann die Freiheit zu besitzen, sich anderen Zielen zuzuwenden.   Zum Beispiel: Ein Sohn bemüht sich um die Anerkennung seines Vaters, die er nie  bekommen hat. Er wird sie nicht bekommen, weil er sich weiter bemüht, und so die Konstanz der Beziehung gewährleistet bzw. die Abhängigkeit bestehen bleibt. Macht er sich selbständig und erkennt sich selber an, so wird er die Anerkennung seines Vaters eher bekommen.

Im Triathlon - Jahrbuch 1989 brachte ich die Ikarossage, Höhenflug und die Angst vor dem Absturz, mit Leistungsversagen, Verletzungsanfälligkeit und Übertraining in Verbindung. Mir fiel die Bezeichnung Ikarossyndrom ein. Vielleicht hätte ich an den Anfang dieses Beitrages das Rätsel der Sphinx setzen sollen. Die Lösung oder Nichtlösung des Rätsels ist in jedem Fall mit dem Tod bedroht. Die griechischen Mythen triefen vor Inzest, auch heute noch nach Meinung von Insidern ein weitgehend tabuisiertes Thema. Und was tabuisiert ist, ist unaussprechlich und wird in seiner negativen Bedeutung immens erhöht, als Teufel beschworen oder an die Wand gemalt.

Die Germanen sind in ihren Sagen besser dran. Sie haben den Helden Siegfried, der unverwundbar ist bis auf eine kleine Stelle. Trotzdem ist die Suche nach dem heiligen Gral nötig. Im biblischen Alten Testament ist die Bruderrivalität in der Geschichte von ,,Kain und Abel‘ ausgedrückt. Das Kainmal gilt als Synonym für Schuld als Stigmatisierung. Bei Abraham und Isaak opfert der Vater seinen eigenen Sohn auf. Dieses Thema ist vor allem in Kriegen aktuelle Realität, die die Väter angezettelt haben und in denen die Söhne umkommen. Eine andere Sichtweise wäre die der ödipalen Rivalität. Die Väter beneiden ihre Söhne um ihre Jugend, Attraktivität und Zukunftsperspektiven oder um ihren besseren Platz bei der Mutter. Die unbeabsichtigte Tötung des leiblichen, nicht Ziehvaters wird zum Vatermord hochstilisiert. Vorausgegangen war die beabsichtigte Ermordung des Sohnes - zur Vermeidung oder Erfüllung des Orakels.

Die Vermeidung und gleichzeitige Erfüllung von Auseinandersetzung und Streit spielt z.B. bei Phobien eine tragende Rolle, weil Streit hochstilisiert als besonders schlimm gefürchtet und mit Trennung und Verlust in Verbindung gebracht wird. Um des lieben Friedens willen wird der Ärger darüber, daß er  nicht heraus gelassen darf, daß der eigene Standpunkt nicht gehört wird, unterdrückt und quillt an allen Ecken und Kanten in versteckter Form hervor. Aus dieser bis zum Überdruß vergifteten Athmosphäre möchte jeder entfliehen. Jedoch gilt die Familienparole ,,Standhalten, nicht Flucht“, so daß die Krankheit noch die beste Kompromißlösung darstellt.

In dieser von Blut, Mord, Inzest und ewiger Mühsal vergifteten Athmosphäre wartet die Menschheit sicherlich auf die Erlösung. Die hat das Neue Testament anzubieten, z.B. die heilige Familie, gereinigt von allem Bösen, die Jungfräulichkeit der Mutter, der Sohn Gottes, daneben halb beachtet im Hintergrund der Vater. Alle opfern wesentliche Teile ihrer Selbstverwirklichung auf, ihre Sexualität, Teile ihrer Mutter- und Vaterschaft, der Sohn sein Leben - zur Errettung der Menschheit. Gabriel Garcia Marquez schreibt von der Jungfräulichkeit in der bürgerlichen Ehe. Der Gegensatz "Nonne und Hure" ist als Metapher wohlbekannt In der Jungfräulichkeit der Partnerin, auch vom Manne gefordert, der Lustunterdrückung und dem Askeseideal sehe ich einen der Hauptgründe des Prostitutionswesens und seine gesellschaftliche Funktion.

Das Thema der Erlösung spielt auch in vielen deutschen Märchen eine tragende Rolle. Dornröschen, die Jungfrau in einer Burg hinter dicken Mauern und einer Dornenhecke, die auf den Prinz wartet, der jedoch nur alle hundert Jahre Zutritt hat. Aschenputtel, die ewig benachteiligte, arbeitsame graue Maus, die auf den Erlöser wartet, in Rumpelstilzchen kommt die Verspottung zum Ausdruck. Das Thema der Erlösung von Mühsal und Schmach des Lebens ist immer wieder das, daß sie von oben und von außen kommt, so daß ich selbst nichts dazu tun kann.

Das Neue Testament könnte als Erlösung und Bereinigung der Mythen der grauen Vorzeit angesehen werden - jedoch um welchen Preis. Ebenso könnte der technische, auch der medizinisch - technische Fortschritt, vor allem die Hygiene der Moderne, als die Erlösung vom mittelalterlichen Sumpf, Hexenwahn und Seuchen angesehen werden. Der Preis ist, daß die Umwelt gerade als Folge des technischen Fortschrittes in Schmutz zu versinken droht, Von den deutschen Fabeln fallen mir besonders ,,Hase und Igel“ und ,,Der Fuchs mit den Trauben“ ein, sicher auch im Sportgeschehen wichtige Metaphern.

Eine weitere Überlieferung als Erklärung psychosomatischer Zusammenhänge, der Volksmund, wird in der modernen Medizin wenig berücksichtigt. Sätze und Begriffe wie: ,,Es schlägt mir auf den Magen, Galle oder Niere. Es bereitet mir Kopfschmerzen. Die Galle läuft über., grün und gelb ärgern. Nackenschläge, schweren, leichten oder freudigen Herzens, bleibt mir die Luft weg. Es geht mir an die Nieren. Angstschisser.“ Eine Sammlung von Volksmundausdrücken könnte ein Buch füllen. An dem Begriff des ,,Schleimscheißers‘ ist in einem Wort die medizinische Diagnose, nämlich Colitis mucosa, der organische Befund, nämlich Schleimdurchfälle, die Persönlichkeitsstruktur und die sich daraus ergebenden zwischenmenschlichen Beziehungen, von Antipathie und erfolglosem, scheißfreundlichen Bemühen geprägt, prägnant. Gerade dieses Krankheitsbild zeigt auch, wie schwierig es für den Arzt sein wird, die ursächlichen Zusammenhänge an den Patienten heranzutragen, und daß er sich mit vordergründigen Therapien begnügen muß. Die Schwierigkeiten, die der Patient aufgrund seiner Persönlichkeit hat, für die er zum schönen Teil nichts kann und die in einem bestimmten Milieu geprägt wurden, zeigen, inwieweit Krankheit ein zwischenmenschliches Geschehen ist und mit den Erwartungen, Reaktionen und Persönlichkeiten der Umgebung zu tun hat. Was bereitet mir Kopfschmerzen, nämlich die Beziehung zu meinem Nächsten, ob er mich achtet oder ich ihn und - wenn nicht - trotzdem an ihn gebunden bin. Der Arzt gerät in des Teufels Küche. Eine reine, naturwissenschaftliche Medizin ist für Arzt und Patient die beste Lösung. Dabei gibt es wenigstens Zahlen und Fakten.

Zumal der Arzt mit vielen Patienten kurz hintereinander konfrontiert wird und total überfordert wäre, für jeden eine Lösung zu erarbeiten - in Zusammenhängen, von denen er zwar aufgrund seiner eigenen Menschlichkeit etwas versteht, in die er aber nicht eingeweiht und für die ihm in seiner Ausbildung der Blick verstellt wurde. Der Patient hat jedoch während seiner Erkrankung genügend Zeit, für sich an Lösungen zu arbeiten. Vielfach wird sich zwar über die naturwissenschaftliche Medizin beklagt, insbesondere daß Arzte sich nicht genügend Zeit nehmen. Und sollte er sich die Zeit nehmen, das Geschwätz an den Ursachen vorbei sich anzuhören, ist er heillos überfordert. Das können die Patienten untereinander besser im Wartezimmer. Aber im Normalfall erhält der Arzt gar nicht den Auftrag. Und wenn die Erkrankung sich von selbst bessert, die zwischenmenschlichen Verhältnisse sich entspannt haben, dann helfen sogar unwirksame Arzneien. Zu diesem Zeitpunkt wird oft der Naturheilkundige, Astrologe, Wahrsager oder Homöopath aufgesucht, und der ist dann der Größte.

Wenn ein als Folge knallharten Übertrainings verletzter Sportler den Arzt aufsucht, knallhart, weil er vielleicht meint, nicht genügend Zeit zu haben - und wenn er das meint, dann hat er sie auch nicht, weil sein Denken in seinem Leben andere Prioritäten setzt  und in seine wenige Zeit überintensive Trainingseinheiten packt aufgrund seines Denkens ,,nur Härte führt zum Ziel“ und aufgrund seiner überhöhten Leistungsziele, so will er die Überreizung behoben sehen, um doch noch seine Ziele zu erreichen, und nicht mit seiner Denkweise, seinen irrationalen Vorstellungen oder dem eventuellen Zwang, mit dem sportlichen Erfolg andere persönliche Defizite in Beruf oder Ehe zu kompensieren, konfrontiert werden. Er will nicht über den ewigen Streit mit dem Partner oder mit den Eltern über den Sinn oder Unsinn dieses Zieles reden, sich nicht mit der Meinung auseinandersetzen, daß das gesundheitsschädlich sei - und es ist gesundheitsschädlich, so wie er es betreibt - und zu Arthrosen und Herzerweiterungen führe. Gleichzeitig gehen die Meinungen und Befürchtungen der anderen in ihn über und lassen ihn ebenfalls die Sinnfrage stellen, die er wiederum durch erhöhte Anstrengungen beiseite zu schieben sucht. Er will beweisen, daß er recht hat und die anderen unrecht. Schon gar nicht will er mit seinen überhöhten Selbstanforderungen konfrontiert werden, die ihn auch in seinen Augen auf anderen Gebieten als Versager erscheinen lassen. Möglicherweise ist er Leistungssportler auf allen Gebieten, ein Hans Dampf in allen Gassen, der sein Image pflegen muß, im Beruf, im Bett, als Witzereißer am Stammtisch. Er will endlich Erfolg vorweisen, wie der Phönix aus der Asche, dem Gerede des anderen das Gegenteil beweisen - und nicht schon wieder als Versager dastehen. Immer schwingt die Angst vor dem erneuten Versagen mit und wirkt sich durch die Verspannungen und Verkrampfungen vermehrt orthopädisch belastend aus. Unbewußt hat er schon lange keine Lust mehr, gibt den anderen im Grunde recht und will endlich seine Ruhe haben.

Im Regelfall wird der Arzt mit dieser Beziehungsfalle konfrontiert. Bewußt soll er dem Athlet die körperlichen Hindernisse aus dem Wege räumen, unbewußt kommt diesem seine Verletzung gerade recht. Er kann sich mit seinen Partnern einigen, sich anderen, schon lange vernachlässigten Zielen vermehrt zuwenden und seine und die Krankheitsängste der Umgebung beruhigen. Sollte er wieder gesund werden, geht der Teufelskreis von neuem los. In diesem Ambivalenzkonflikt, in dem zwei gegensätzliche, nicht miteinander vereinbare Bedürfnisse sich gegenüber stehen, handelt der Arzt auf jeden Fall gleichzeitig richtig und falsch. Je nachdem, welche Tendenz beim Athleten überwiegt und ob er die richtige trifft, ist er der richtige Arzt oder der falsche, Er hat also einen begrenzten Hilfsauftrag und begrenzte Hilfsmöglichkeiten. Daß somit Leistungsversagen und Verletzungen zur Selbst- und Lebensorganisation dieses Sportlers und seines Gruppenkontextes gehören, könnte sich der Arzt vor Augen führen - zur eigenen Selbstorganisation, um sich vor Enttäuschungen und Mißerfolgserlebnissen zu bewahren, die dann vielleicht durch Erfolge im Triathlon kompensiert werden müssen.

Es gibt Risikopatienten, deren Erkrankungsrisiko aufgrund ihrer Denk- und Verhaltensweisen hoch ist und zu häufigen Arztkontakten führt. Andere Sportler steuern sich selber, suchen nie Arzte auf, Verletzungen aufgrund von Trainingsüberreizungen werden mit aktiven und passiven Regenerationsphasen kuriert, und Mißerfolgserlebnisse werden mit Verzicht auf Erfolg oder späterem Erfolg beantwortet. Es gibt viele verhinderte Sportler, die aufgrund ihres Leistungszwanges erst gar nicht antreten.

Noch komplizierter liegen die Verhältnisse, wenn in engen, oft verstrickten Beziehungen der eine mit Erfolgen für die Defizite des anderen aufzukommen hat, etwa Kinder für ihre Eltern ( Eislauf­mütter ) oder Partner für den Partner, Betreute für erfolgshungrige Trainer mit überhöhten Leistungszielen. Für außenstehende Kenner der Szene mögen die Verhältnisse klar sein, dem Arzt in der Sprechstunde werden die Hintergründe selten aufgedeckt. Er muß sich mit vordergründiger Hilfe bescheiden. Derartige tödliche Kreisläufe mögen sich bei Birgit Dressel abgespielt haben. Auch Trainer, die nach dem Eliteauswahlverfahren, nur die Besten kommen durch“ vorgehen, können Leistungsversagen und Verletzungen züchten oder vergraulen ihre Betreuten - die gesündere Auswahl.

Feldstudien haben gezeigt, daß Sportler in offenen Konfliktsituationen wie Todesfälle, Erkrankun­gen im Umfeld oder Partnerverlust hei Beibehaltung des gewohnten Trainingsstils vermehrt verletzungsanfällig sind. Umsichtige Trainer halten deshalb bei Bekanntwerden solcher Konfliktsituationen ihre Betreuten zu vorsichtigerem Training an. Die vorher aufgezeichneten Konfliktfälle bezeichne ich als verdeckte Konflikte im Gegensatz zu den eben angeführten offenen Konflikten.

Einfacher liegen die Verhältnisse, wenn ehemalige Leistungsschwimmer oder Radfahrer auf Triathlon umsteigen. Die Übertragung ihres Trainingsstils führt beim Laufen häufig zu Überlastungen der Orthopädie. Sie sind Ratschlägen eher zugänglich. müssen allerdings durch den langen Tunnel der allmählichen Orthopädieanpassung, um die gewohnten Erfolge zu erzielen. Überhöhte Selbstansprüche, Ansprüche der schnellen Umsetzbarkeit oder Kompensation für Leistungsdefizite in den vorherigen Disziplinen können zu Schwierigkeiten führen.

Ich persönlich verstehe mich primär als Mediziner, der sich Gedanken über Krankheitsursachen macht, nicht als Märchenerzähler, Philosoph, Psychologe, Soziologe oder Anthropologe, obwohl diese Bereiche alle mit hineinspielen Ich habe versucht, durch Beispiele aus verschiedenen Richtungen und Perspektiven- teils humoristisch pointiert mit sehr ernstem Hintergrund - zu belegen, wie sehr sich der menschliche Geist, seine Psyche aus eigener Kraft nicht nur das Gute, sondern auch das Böse schafft, nicht nur in seiner Geschichte, sondern auch jetzt und in jedem Augenblick. Aus den Folgen des Bösen, nämlich der Stigmatisierung von Entwertung, Schuld, Schmach, Schande und Gelächter -wohl das Schlimmste - ergibt sich ein derartiges zwischenmenschliches Wechsel- und Versteckspiel mit Krankheits- und Todesfolgen, daß der Mensch sich selbst das größte Rätsel darstellt und möglichst wenig davon wissen will. Er hat such recht, schließlich sind es nicht seine ureigensten, sondern von der Kultur auferlegte Konflikte. Als Folge sucht er nach Vereinfachungen, Eindeutigkeiten, wo es keine gibt, Reinheit, Harmonie und Erlösung. Ein. Lösungsversuch und Erlösungsversuch stellt das zwanghafte Erfolgsdenken und die Idolbildung im Sportgeschehen dar, am meisten natürlich dort, wo die schwierigsten psychosozialen Verhältnisse bestehen.

Sie können das natürlich ganz anders sehen.