DIE TRAGIK DER WISSENDEN
UNVEREINBARKEITSDENKEN,
SPALTUNG, ALLTÄGLICHKEIT
EINLEITUNG
So wie nahezu jeder Mensch, insbesondere Philosophen, Theologen, Anthropologen, Psychologen, Psychoanalytiker und Ärzte, versuche ich, mir zwischenmenschliche Verhältnisse verständlich zu machen, die Welt nach greifbaren Regeln, Abläufen und Mechanismen zu durchdringen und für mein alltägliches Leben und meine psychotherapeutische und ärztliche Arbeit verwertbar zu machen. Dabei greifen aus meiner Sicht die verschiedenen Wissenschaftsbereiche ineinander über. Bei zwischenmenschlichen Konflikten und Krankheitsfolgen können Logik (Philosophie) und Theologie zu Psychologie und Medizin werden, haben sogar physikalische und chemische Folgen und werden somit zu Inhalten physikalischer und chemischer Wissenschaften. Sozusagen als Extrakt aus meiner klinischen Tätigkeit schreibe ich nach meinem derzeitigen Stand dem Unvereinbarkeitsdenken als Folge von aufspaltenden Denkprozessen bzw. der Spaltung eine zentrale Stelle in zwischenmenschlichen Konflikten und bei Krankheitsfolgen zu.
Inwieweit im
Spaltungsdenken Vorstellungen und Subjektivität zu Objektivität, Glauben,
Überzeugung und Wissen mit tragischen Folgen werden und mit der Durchsetzung
von Spaltungsprozessen im Alltagsleben unserer Kultur, möchte ich mich im
folgenden auseinandersetzen. Viele menschliche Phänomene betrachte ich in
dieser Arbeit unter dem Spaltungsgesichtswinkel, die sicherlich auch anders
erklärt werden können - und werden.
Spaltung
oder Dichotomie verstehe ich im Gegensatz zu Begriffen wie Integration, Komplexität,
Differenzierung und Ambivalenz. Integriertes und komplexes Verstehen hat für
mich Achtung und Gewinnung der Selbst- und Fremdachtung zur Folge. Darin sehe
ich die zentrale Bedeutung der Arbeit der Psychotherapeuten und -analytiker am
komplexen Verständnisprozeß der Gründe, Hintergründe und am nichterlebten
Erlebnis- und Verhaltensprozeß. Durch
die seelischen Spaltungsprozesse ist Verständnis vom Selbst und Zusammenhängen
der Welt außerordentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich bzw. nur nach
einem aufspaltenden, unvereinbaren Weltbild möglich. In diesem werden immer
Anteile und Zwischenglieder nicht wahrgenommen, so daß der Mensch sich selbst zu
einem einzigen Rätsel wird ( wie beim Rätsel der Sphinx in der Ödipussage
).
Einige mir so erscheinende
Grundlagen und Folgen, die ich so in der Literatur nicht deutlich artikuliert
vorgefunden habe, möchte ich kurz vorweg nehmen.
1. Die Gleichsetzung im Sinne einer Umgekehrten
Spaltung.
2. Die Berücksichtigung der Zeitdimension der Diachronizität neben der Synchronizität.
3. Die Verwirrung und Zerrissenheit als Folge der
Spaltung.
4. Die zentrale Bedeutung des zwischenmenschlichen Vergleichs,
der Gleichheit, der Unterschiede mit der Folge des Gerechtigkeitsdenkens bzw.
des Rechts.
5. Digitale Kommunikation als Folge der Spaltung. Dialog = Monolog.
6. Der Vorrang der ( Spaltungs-) Mechanismen vor der
Libido.
7. Konflikterhöhung durch Verleugnung und Spaltung. Der
Mechanismus der Abwehr verschärft die Konflikte.
In einem ersten Entwurf dieses
Aufsatzes hatte ich anstelle von Spaltung den Begriff Polarisierung gewählt, da die Spaltungsprozesse in der
Psychoanalyse für Abwehrprozesse des Individuums vorbesetzt sind, die einer
bestimmten Entwicklungsphase, nämlich an der Individuationsgrenze, entstammen.
Nach dieser Sichtweise wäre der Begriff Spaltung auf die frühkindliche
Ontogenese des Individuums bezogen. Ich meine umfassendere Mechanismen unter
Einbeziehung von zwischenmenschlichen Prozessen, beziehe phylogenetische
Aspekte ein, also in der Tradition und Generationsfolge, und bin der Meinung,
daß Spaltungsprozesse im Denken jederzeit während des gesamten menschlichen
Lebensverlaufes etabliert werden können. Den letzten Punkt führe ich darauf
zurück, daß meiner Ansicht nach in tieferen Bewußtseinsschichten im Denken bei
jedem Menschen Spaltungsmechanismen
vorhanden sind, die durch andere ersetzt werden können. Allerdings wird der
Begriff Spaltung auch bisher häufig für Gruppenprozesse angewandt. Den Begriff
Polarisierung ließ ich fallen, da bei der Polarität die Pole zusammengehören
und ein gemeinsames Ganzes bilden, während bei der Spaltung Charakteristikum
ist, daß im Denken die Pole nicht zusammengehören, beispielsweise das Gute
nicht zum Bösen gehört, sondern unabhängig und völlig getrennt gesehen wird und
im Denken unvereinbar ist. Da für den Erwachsenen im Grunde
ein Denkfehler zugrunde liegt, ist die Spaltung ein irreales
Vorstellungsprodukt, das wenig den realen Begebenheiten Rechnung trägt. Als
Folge muß immerwährend die Realität gefürchtet werden.
Dem Begriff der Spaltung nahe
stehend erscheint mir der Begriff der Dissoziation.
Nehme ich diesen Begriff im nicht üblichen Gegensatz zur Assoziation, bei der
verschiedene Einfälle, Seiten und Aspekte assoziiert werden und ihre
Existenzberechtigung neben- und nacheinander erhalten, werden diese bei der
Dissoziation geleugnet und somit zerstört. Ich möchte im Folgenden nachweisen,
daß Spaltungsprozesse nicht auf das Individuum begrenzbar sind, sondern
zwischenmenschliche Folgen haben und somit Gruppenprozesse darstellen.
Schließlich lebt der Mensch nicht als Einzelindividuum,
sondern in einem zwischenmenschlichen Kontext, ohne den er sogar nicht
überlebensfähig ist. Meine Begriffe entstammen der Psychoanalyse, entsprechen
aber nicht unbedingt den verschiedenen psychoanalytischen Schulrichtungen, und
der Familien- und Systemtheorie.
Ich möchte mich kurz zu der
Unterscheidung von Begriffen wie Gedanken, Phantasien, Vorstellungen,
Sichtweisen, Wahrnehmungen, Bildern äußern. Die Phantasie wird im allgemeinen
für etwas flüchtiges gehalten. Der Begriff wird meist
im Gegensatz zur Realität gebraucht. Bilder, ähnlich wie Sichtweisen sind schon
etwas festeres, weniger leicht vergängliches. Bilder werden wahrgenommen und
gesehen, stellen also die Wahrnehmung und Sichtweise dar. In die Bilder und
Sichtweisen fließen die Bewertungen und Bedeutungen ein. Wenn an Bilder als
Realität geglaubt wird, spreche ich von Glauben oder Überzeugung. Für die
Umsetzung von Bildern in Realität bzw. bei der Gleichsetzung von Bildern mit
der Realität erscheint mir der Begriff Realitätskonstruktion oder sogar
Realitätsphantasie überzeugend.
Über Denken, Handeln und Gefühle
Meiner Ansicht nach denkt der Mensch ununterbrochen, Tag
und Nacht, - ähnlich wie sein Herz schlägt, laufen gedankliche bzw. geistige
Prozesse im Kopf ab. Angstgedanken können das Herz beschleunigen, Panik zum
Rasen bringen, Schreck zum kurzfristigen, manchmal sogar zu dauerhaften
Stillstand (Herzschlag) führen - reflektiert oder nicht reflektierbar, bewußt
und unbewußt. Das Denken ist sein unentrinnbares menschliches Schicksal. Das
bedeutet Chance und Fluch zugleich, jeweils ob er konstruktiv oder destruktiv,
also zu seinem oder fremden Schaden denkt. Die nächtlichen bzw. Nachtgedanken
sind teilweise als Träume erinnerbar oder für einen Beobachter durch Bewegungen
oder Laute erkennbar.
In seiner Entwicklung
durchläuft der Mensch verschiedene Phasen der Strukturierung seiner Denk- und
Wahrnehmungsprozesse. Zumeist wird ein Urzustand des psycho-physischen
Wohlbefindens, auch als ozeanisches Gefühl beschrieben, angenommen. Im
biblischen Mythos wird vom Paradies gesprochen, in Märchen z.B. vom
Schlaraffenland. Dabei gibt es keine Unterschiede in der Wahrnehmung, kein gut
und böse. Dieser Urzustand wird in der menschlichen Entwicklung oft auf die
Lebensphase im Mutterleib bezogen, obwohl es auch dort schon Unterschiede gibt.
Nach den ersten negativen Erfahrungen und in der Phase des unkoordinerten
Denkens tritt die Phase der primären Denk- und Wahrnehmungsprozesse ein.
Primäre Gedanken laufen völlig durcheinander ab, hin und her, gleichzeitig und
nacheinander. Der nächste Schritt der Strukturierung sind die aufgespaltenen Denkstrukturen, die mir der erste, wenn auch
noch primitive Schritt zu einer Ordnung aus den Widersprüchen und Gegensätzen
des primären Denkens heraus zu sein scheinen. Er bedeutet scheinbar Klarheit und
Eindeutigkeit. - Dieser Denkprozeß mag auch für diese frühe Phase des
menschlichen Denkens angemessen sein. Später halte ich ihn für einen
pathologischen Versuch der Ordnungs- bzw. Klarheitssuche. Der 3. und letzte
Schritt nach diesem einfachen Schema ist die Integration der verschieden
Anteile und Seiten, Zwischenstufen, -töne und -schattierungen zu einem gesamten
Selbst- und Weltschema bzw. -konzept. Diese integrative Realitätserfahrung
ist jedoch nur möglich, wenn die negativen Erfahrungen nicht allzu tief und
vernichtend sind. Im Falle der vernichtenden Erfahrungen und Sichtweisen
besteht die Neigung, auf der Spaltungsstufe stehen zu bleiben bzw. auf diese
zurückzufallen.
Beim Rückblick auf einen
großen integrativen Erfahrungsschatz können auch nicht sichtbare Teile wie z.B.
ein nicht sichtbares Unbewußtes oder potentielle Hintergründe bei sich selbst
oder der Umwelt angenommen und wahrgenommen werden. Die Integration sehe ich
als die eigentliche Psychische Geburt an. Sie ist eine Aufgabe für das gesamte
Leben und muß jederzeit neu gelöst werden. Das Denken auf dem Spaltungsniveau
könnte man auch als Gedankenfaulheit oder -bequemlichkeit bezeichnen, da nicht
die Mühe unternommen wird, die verschiedenen Anteile zu integrieren. Ich halte
es jedoch für eine Bedrohungsfolge.
Als gemeinsames
Ziel sämtlicher Strukturierungsprozesse auf unterschiedlichem
Reifungsniveau könnte man die Erhaltung und Wiederherstellung des psycho-physischen Wohlbefindens sehen.
Ebenso wie zum Denken ist der Mensch zum Handeln gezwungen, naturgemäß entsprechend seinem Denken. Somit sind Denken und Handeln gekoppelt, und Denken hat immer ein Stückweit Handeln zur Folge. Durch das Handeln setzt er sein Denken in Realität um. Auch Nichthandeln, als Versuch, seinem Schicksal dem Handeln, zu entgehen, ist auch ein Handeln. Dem primären Denken entspricht das primäre Handeln, wonach völlig durcheinander ohne ein erkennbares Schema gehandelt wird.
Im ersten Ordnungsschritt
dem Spaltungsdenken ist das Handeln schon wesentlich strukturierter, aber noch
nach einem einfachen Schema, das die Gleichsetzung von Denken und Handeln
ermöglicht, da noch nicht verschiedene und widersprüchliche Anteile zu
berücksichtigen sind, die das Handeln erschweren würden.
Beim nächsten Schritt des integrierten Handelns ist ein
Anhalten, Überdenken der verschiedenen Anteile und Möglichkeiten notwendig, um
zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei wird eine Spanne zwischen Denken und
Handeln durchlaufen, dem Hiatus. -
Beispielsweise ist bei der Zwangsneurose diese Spanne im inneren Erleben
nicht vorhanden, sodaß in der Umkehrung der Versuch unternommen wird,
"schmutzige" Gedanken mit Reinigungs- und Kontroll-Handlungen
ungeschehen zu machen. - In der Psychotherapie gilt es, diese Spanne zu fördern
durch Betrachtung (bis zur gewohnheitsmäßigen Einübung) der verschiedenen
Anteile, Wahrnehmungen, zusätzlichen nicht wahrgenommenen Möglichkeiten bei
sich selbst und der Umwelt, mit dem Ziele, diese zu integrieren und somit neue
und umfassendere Denk- und Handlungsentscheidungen zu finden.
Wenn ein Mensch anders handelt
als er denkt, ich-dyston
handelt, so ist davon auszugehen, daß in ihm noch andere Gedanken sind als die
ihm Bewußten, nämlich Gedanken, die sein Handeln dadurch stärker bestimmen,
weil die Spanne des Überdenkens, der Hiatus fehlt. Es kann also neben einer
bewußten Gedankenwelt, der bewußten Identität, eine zweite Gedankenwelt oder
mehrere Gedankenwelten in Bewußtseinsschichten herrschen, denen das Bewußtsein
fremd gegenüber steht. Dem entsprechen Sätze wie etwa "es sind zwei Seelen
(oder Welten) in meiner Brust". Im Bewußtsein dieser Gedanken- und
Glaubenswelt sagte ein Patient zu mir "Ich glaube nicht, daß das Realität
ist, aber tief in meinem Inneren kann ich nicht glauben, daß ich das glauben
kann." Oder ein anderer Patient bezeichnete diese als Scheinwelt, mit der
und nach der er lebe, die mit der Realwelt so verschachtelt sei, daß er
beispielsweise für alles und jeden eine Entschuldigung habe.
Man könnte auch auch von einer
inneren und äußeren Realität sprechen.
Die Gedanken und Vorstellungen
sind von Affekten und Gefühlen begleitet. Angstvorstellungen beinhalten
Angstgefühle, Schamvorstellungen Scham. Die Gesamtheit ist die Befindlichkeit,
und die vorherrschenden Gefühle prägen die Stimmung. Von den Gefühlen geht die
Dynamik und Energie aus. Auf der primären Gedankenebene sind die Gefühle völlig
chaotisch. Auf der Spaltungsebene herrscht Hoch- oder Tiefstimmung, je nachdem
ob alles gut oder total schlecht ist. Die Hochstimmung hat etwas einzigartiges, berauschendes und kann deshalb als
menschliches Ziel gesucht werden. Auf der integrativen Stufe sind die Gefühle
leider nicht so eindeutig. Gleichzeitig und nacheinander bestehen verschiedene,
teils widersprüchliche Gefühle wie Angst, Trauer und Freude, Ärger, Stolz und
Scham, also meist gemischte Gefühle, die das Erwachsenenleben nicht zu einer
reinen Freude werden lassen, aber mehr der Realität des Alltags entsprechen.
Einen solchen Gefühlszustand, als Halbherzigkeit bezeichnet, mag der
Aufspaltende dem Integrativen vorwerfen. Im integrativen Denken, Fühlen und
Handeln besteht durch den höheren Reifezustand insgesamt jedoch eine größere
Beständigkeit und eine positivere Lustbilanz, da im Spaltungsdenken die
Bedrohungsinhalte das Leben vermiesen.
ALLGEMEINE BESCHREIBUNG DER SPALTUNGSMECHANISMEN
Spaltungssmechanismen
(auch Auf- und Abspaltung, ähnlich Dualismus und Dialektik) treten kurz dargestellt in folgenden Formen auf:
Entweder - oder, schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch, alles
oder nichts, unten oder oben, Gemeinsamkeit oder Unterschiede, Kopf oder Bauch,
Verstand oder Gefühl, Gesundheit oder Krankheit, Nähe oder Ferne, Sicherheit
oder Unsicherheit, innere oder äußere Realität. Inhalte der Spaltungen gibt es
unendlich viele, ob in sachlichen Inhalten, menschlichen Eigenschaften oder
Selbst-, Fremd- und Weltbildern. Charakteristikum ist, daß in diesen Denk- und
Sichtweisen das Eine das Andere ausschließt und somit ein Unvereinbarkeits-
oder Ausschließlichkeitsdenken vorherrscht. Zwischen den Polen besteht eine
unüberbrückbare Kluft. Oft wird auch von Zwiespalt gesprochen. Dies bedeutet
Klarheit und Eindeutigkeit. Zwischenglieder und -schattierungen, Ambivalenzen,
Vor- und Nachteile, mehr oder weniger, für und wider, nebeneinander und nacheinander
fehlen völlig. Die Spaltung findet auf dem Boden der Verleugnung anderer Seiten
statt. Ich sehe sie einerseits als einen aktiven Abwehrvorgang, andererseits
als einen durch frühkindliche Einflüsse verinnerlichten Denk- und
Wahrnehmungsprozeß an.
Zu den Spaltungsmechanismen
rechne ich ebenfalls gegenteilige Mechanismen wie Gleichsetzung, Pauschalisierung,
Homogenität, Verwechslung und Vermischung. Ich nenne es eine Umgekehrte Spaltung. Da die
Unvereinbarkeiten nicht neben- und nacheinander gesehen werden können, werden
sie zu einem Ganzen zusammengeführt. Man könnte auch von einer Art Trick
sprechen, unüberbrückbare Gegensätze doch noch zu überbrücken und Klarheit zu
schaffen. Mehrere Teile oder Aspekte einer Person oder eines Inhaltes können nicht
nebeneinander und nacheinander gesehen werden, und häufig wird ein Teil für das
Ganze gehalten ( Pars pro toto ). Umgekehrt können im Pars-pro-Toto-Denken mehrere Aspekte bzw. Faktoren auf
einen Aspekt reduziert werden. Ebenso können die subjektiven Sichtweisen,
Positionen und Interessen verschiedener Personen nicht nach- und nebeneinander
anerkannt werden und werden somit zu einer allgemeingültigen Objektivität
zusammengeführt (subjektiv gleich objektiv ). Alles
und total sind die vorherrschenden Begriffe. Es werden Absolutheits- und
Totalitätsansprüche erhoben. Aus einem subjektiven Menschen wird sozusagen ein
objektiver Mensch. Subjekt wird zu Objekt, und alle Menschen sind in ihren
Sichtweisen, Positionen und Interessen gleich.
In der Zeitfolge kann das
Nacheinander der unterschiedlichen Augenblicke, Vorstellungen und Gefühle nicht
erlebt werden und wird gleichgesetzt, so daß vorher gleich nachher bzw. nachher gleich vorher ist, jetzt gleich
nie oder immer gilt. Jetzige Inhalte gelten dann für immer und unabänderlich,
und ein Mensch ist unveränderbar. Ebenso gilt "einer gleich alle",
einmal wird zu immer oder nie, dazu ein typischer Satz, wenn jemand etwas böses tut "wenn das jeder machen würde...!". Vor allem in der Alltags- und Umgangssprache
sind derartige Gleichsetzungen weit verbreitet. Dazu gehört die Verwechslung
von Ursache und Folge, von Vorstellung und Realität. Sämtliche
Spaltungsmechanismen sind eng miteinander verbunden und schwer zu trennen.
Als besonderes immer
wiederkehrendes menschliches Problem erscheint mir die Gleichsetzung von
Phantasie bzw. Vorstellung und Realität.
Die verschiedenen Phantasien, Sichtweisen und Vorstellungen können nicht
individuell und nebeneinander gesehen werden und werden zu einer
allgemeingültigen Realität. Vorstellung wird dann zu Wissen, festem Glauben und
Überzeugung.
Wenn jemand nacheinander von sich selbst oder jemand
anderem das Bild hat, er sei "klug", andererseits "dumm",
dies auch noch mit der Realität, zusätzlich das Nacheinander mit der
Gleichzeitigkeit gleichsetzt, so ist für ihn klug und dumm gleichzeitig
unvereinbar. Beider Beurteilung der Charaktereigenschaft gerät er in ein
Durcheinander.
Ein in diesen Mechanismen
denkender und wahrnehmender Mensch gerät völlig in Verwirrung oder bei
tiefergehender Spaltung in Zerrissenheit, wenn die getrennt gehaltenen Teile
zusammenkommen, wenn das für weiß Gehaltene schwarz ist, das Gute schlecht, das
Richtige falsch, das nie für möglich Gehaltene Realität und wenn nicht jetzt,
nie mehr möglich wird. Die Spaltung soll das unreife, primitive oder desintegrierte Selbst vor einem weiteren Zerfall schützen,
wobei gleichzeitig dieser Zerfall die größte Bedrohung darstellt. Die Spaltung
stellt also ein Abwehrmechanismus gegen das Chaos bzw. die Diffusion dar. Durch
die Aufhebung der Grenzen zwischen den Menschen, der aufgehobenen
Subjekt-Objekt-Differenzierung entsteht wiederum eine Diffusion. Für den
Spaltenden würde die Wahrnehmung verschiedener Seiten und Aspekte Diffusion
bedeuten. Sehr bedeutsam erscheint mir dabei, daß er an der Grenze zwischen
primären und integrativem Denkens den Unterschied zwischen diesen beiden Denk-
und Wahrnehmungsstufen nicht wahrnehmen kann, so daß er im integrativen Denken
das primäre Denken und Durcheinander fürchten muß.
Ich möchte an einem anderen weit verbreiteten Beispiel
illustrieren, wie gerade die Suche nach Sicherheit, Klarheit und Eindeutigkeit
Verwirrung stiftet. Wenn ein Mensch Sicherheit sucht, was richtig und falsch
ist, so wird er bei der Wahrnehmung der verschiedensten teils widersprüchlichen
Standpunkte und Sichtweisen ein und desselben Sachverhaltes völlig in
Verwirrung geraten, was nun richtig und falsch ist. Demzufolge besteht die
Neigung, Unsicherheiten in Sicherheit zusammenzuführen und Unsicherheit und
Unwissenheit in Allwissenheit zu verwandeln. Das Leben wird
dann fälschlicherweise zu einem Programm mit klaren Vorstellungen, wie die
Zukunft zu verlaufen hat.
Im
Spaltungsdenken sind naturgemäß sehr schwer Entscheidungen zu treffen. Eine
Entscheidungsunfähigkeit mag die Folge sein, weil alles richtig sein muß, die einzig oder absolut richtige Entscheidung getroffen werden
muß oder gar nichts richtig ist. Vor diesem Anspruch oder der Folge, daß alles
falsch ist, mag eine Paniklähmung bestehen.
Bei der Gleichsetzung von
Vorstellung bzw. Phantasie und Realität wird die Wirklichkeit, so wie sie
erdacht ist ( Wirklichkeitskonstruktion ),
aktiv gestaltet und somit tendenziell durch die Handlungsweise in Realität
umgesetzt (selffulfilling prophecy).
Ein Nichteintreten der erwarteten Realität löst im Falle der Akzeptanz der
neuen Realität Verwunderung, Überraschung oder Erstaunen aus, im Falle der Nichtakzeptanz und tiefgreifenden Spaltung Negierung "kann nicht sein". Dazu möchte
ich einen mir wesentlich erscheinenden Aspekt eines Beispieles aus der
griechischen Mythologie anführen: In der Ödipussage ereigneten sich Vatermord
und Inzest gerade als Folge der Verhinderungsstrategie nach den Prophezeiungen
des Orakels von Delphi. - Die altertümlichen Orakel stellen eine
altgriechische, mythische Form des heutigen Begriffes der Sich-selbst-erfüllenden
Prophezeiung dar. - Ohne diese Vermeidungsmechanismen wäre das tragische Unheil
Vatermord und Inzest voraussichtlich nicht eingetreten.
Von zentraler Bedeutung
erscheint mir die Spaltung der inneren, vor allem wenn sie unbewußt ist, und
äußeren Realität. Dabei wird Unbewußtes und durch dieses die Beeinflussung der
Wahrnehmung der äußeren Realität und demzufolge die Handlungsweise durch die
innere Realität völlig verleugnet (ich-dystones Handeln).
Inwieweit diese Spaltung den vorherrschenden Zeitgeist bestimmt, mag als
Beispiel dienen, daß Sigmund Freud auf Empörung und Ausstoßung stieß, als er
ein Unbewußtes postulierte, public machte und den
Einfluß auf Kultur und Krankheiten beschrieb. In den Zeitgeist der Aufklärung
nach den Fortschritten in den Naturwissenschaften passten
derartige Zusammenhänge nicht herein.
Auch im heutigen Zeitgeist
z.B. in Medizin, Psychologie, Militarismus und Rechtssprechung herrschen
mannigfache Spaltungsmechanismen vor. In der Medizin wird der Einfluß innerer
Realitäten z.B. auf organische Erkrankungen völlig geleugnet. Der Versuch der
Einflußnahme im Strafvollzug auf Delinquente ist meist zur Erfolglosigkeit
verurteilt, da die innere Realität, derzufolge die
Straftäter ihre Handlungen entsprechend ihrem subjektiven Rechtsverständnis
begehen müssen, unberücksichtigt bleibt. Vor allem primäre Zusammenhänge wie
die Eltern-Kind-Beziehung wird von inneren Realitäten
bestimmt. Demzufolge handeln Eltern ihren Kindern gegenüber sozusagen nach
bestem, oft unbewußten Wissen, auch wenn ihre
Handlungen äußerst destruktiv sind. Auch Massenbewegungen und ihre Handlungen,
vor allem in totalitären Regimen, scheinen mir nach
Spaltungsmustern zu funktionieren.
Wie oben bereits kurz angeführt, können in der aufspaltenden Gedankenwelt z.B. dem Schwarz-Weiß-Sehen Zwischenschattierungen, Differenzierungen und schwarze und weiße Anteile im Neben- und Nacheinander nicht gesehen werden. Es wird dabei verleugnet, daß z.B. jedes Ding oder jeder Mensch viele Seiten, jedes Auge aus vielen Facetten oder eine Medaille aus 2 Seiten besteht, die völlig verschieden aussehen können. Das Beispiel der Medaille erscheint mir insofern einleuchtend und typisch, weil charakteristischerweise jeweils nur eine gesehen werden kann je nach Position und demzufolge Sichtweise. In diesem Denken ist es völlig unmöglich, das Vorhandensein einer 2.Seite sich vorzustellen und anzuerkennen. Der Aufspaltende gerät völlig in Verwirrung und je nach Grad der Spaltung in Zerrissenheit, wenn er die andere Seite anschließend sieht, und diese die gleiche Medaille darstellen soll. Es wäre etwa so, als wenn jemand die Medaille ständig herum drehen würde und behauptete, die jeweils sichtbare Seite stelle die ganze Medaille bzw. Wahrheit dar. Ich wollte anhand der Medaille nur als einfaches Beispiel illustrieren, weil es dort so einfach ist.
Spaltungsmechanismen sind
meiner Ansicht nach so weit verbreitet und im menschlichen Denken so tief
verankert, daß niemand davon frei ist. Sie sind neben integrativen
Denkprozessen bei jedem Menschen mehr oder weniger, meist in unteren Bewußtseinsschichten
vorhanden. Im Konflikt- und Spannungsfall neigt der Mensch dazu, sie zu
mobilisieren bzw. auf diesen entwicklungsgeschichtlich früheren Denkprozeß
zurückzukehren.
Dazu ein Beispiel aus dem psychoanalytischen
Behandlungsprozeß: Psychoanalytiker bzw. Psychotherapeuten, die aufgrund ihrer
Ausbildung und beruflichen Identität die Integration zum Ziele haben, können
nach Kernberg bei der Konfrontation mit narzißtischen und Borderline-Persönlichkeitsstrukturen
in der Behandlungssituation gemeinsam mit ihrem Patienten auf ein
Spaltungsniveau zurückfallen, bzw. es können in ihnen vorhandene
Spaltungsdenkstrukturen mobilisert werden. Dabei
können sie ein inneres Bündnis mit dem Patienten eingehen und die Bedrohung
nach außen verlagern wie z.B. die böse Mutter, den Vater, die Umwelt oder den
Partner oder umgekehrt in der Vorstellung sich mit dem Partner gegen den
Patienten solidarisieren. Weiterhin können sie die bedrohlichen Inhalte
außerhalb der Behandlungssituation lassen und ein unverbindliches Gespräch
führen oder bei der Gleichsetzung von Angstvorstellung und Realität zum
Handlungsdialog neigen, wobei aus unbewußten Motiven gemeinsam gehandelt wird.
Außer im Zustand der völligen
Desintegration ( Psychose ) wird die Spaltung normalerweise also nur im Konfliktfall,
bei der Beschreibung der persönlichen Denk- und Wahrnehmungsweise und nach der
Rekonstruktion der Hintergründe eines Handlungsablaufes offensichtlich.
Infolgedessen kann eine Reaktionsform darin bestehen, im Konfliktfall eine
nichteinbezogene Außenposition einzunehmen und so zu tun, als ob einen die
ganze Sache nichts anginge. Eine weitere Folge kann sein, das Spaltungsdenken
für sich zu behalten, möglichst wenig mitzuteilen, weil es von nichteinbezogene
Außenstehenden als unreif, naiv oder infantil belächelt wird und zu Kränkungen
und weiterer Desintegration führt. Andererseits ist durch den Rückzug und die
fehlende Mitteilung und Auseinandersetzungsmöglichkeit eine Korrektur schwerer
möglich.
Dem Spaltungsdenken kann man
als Gegenpol, wobei meist Zwischenstufen vorhanden sind, das integrierte Denken bzw. ein komplexes Weltbild gegenüber stehen.
Anstatt entweder - oder gilt sowohl als auch. Anstatt schwarz - weiß werden
verschiedene Teilaspekte einer Person oder eines Sachverhaltes, gute und böse
Seiten, Schwächen und Stärken, gleichzeitig und hintereinander gesehen. Im
Handlungsbereich könnte man von Ambivalenztoleranz oder -integration sprechen. Dies trägt der
Tatsache Rechnung, daß jede Entscheidung zwangsläufig ambivalent ist, z.B.
welchen Beruf ich auswähle, eine Partnerschaft eingehe oder mich für ein Kind
entscheide. ( In der griechischen Mythologie steht Herkules am Scheidewege ). Immer ist neben einem potentiellem Gewinn ein
Verlust z.B. von Möglichkeiten und Freiheiten wie in einem anderen Beruf, einem
anderen Partner oder des potentiellen Lebens ohne ein Kind vorhanden.
Da im Spaltungsdenken eine
unerträgliche Spannung und Zerrissenheit entstehen würde und diese nicht ausgehalten werden kann, wird
in ihm versucht, sie durch einseitige und eindeutige Klarheit zu verringern.
Man weiß dann sozusagen, wo man dran ist. Durch die Spaltung finden reale
Verluste der anderen und verschiedenen Seiten statt. Die paradoxe Folge der im
Denken vorhandenen Verluste kann sein, daß das Leben ausschließlich von der
Verlustseite gesehen wird. Darin sehe ich einen wesentlichen Hintergrund von
tiefgreifenden Verlustängsten. So kann hinter häufig auf die frühe Kindheit
bezogene erfahrene Verluste und mangelnde basale
Geborgenheit und Sicherheit ein aufspaltendes Verlustdenken stecken, wobei
jegliche basale Sicherheit verloren geht.
AKTUELLE HINTERGRÜNDE DER SPALTUNGSMECHANISMEN DES INDIVIDUUMS
Ich möchte jetzt nur auf die
aktuellen, derzeitigen Denk- und Erlebnishintergründe eingehen, die ich von
lebensgeschichtlichen Hintergründen unterscheide, auf die ich später eingehen
möchte.
Die Hintergründe für die
aktuelle Verleugnung und Spaltung liegen in einer Vernichtungsvorstellung bzw.
Katastrophensicht, die das körperliche und/oder psychische Überleben betrifft.
Leben und Tod sind gleichzeitig unvereinbar. Das körperliche Überleben betrifft
eine reale und/oder so vorgestellte Todesbedrohung (eine vorgestellte
Todesbedrohung trifft z. B. in der Herz- oder Carcinophobie
zu, wobei die Hintergründe der so wahrgenommenen körperlichen Bedrohung in der
psychischen Bedrohung liegen. Sie werden von der Psyche auf den Körper verschoben.
Dem psychischen Überleben bzw.
psychischem Tod, einer tiefgreifenden Entwertung bzw. Kränkung, liegt die
zugeordnete Bedeutung zugrunde, die Bilder einer vernichtenden Entwertung in
Scham, Schande, Sünde (Todsünde), Schuld, Verachtung, Ekel und, was meiner
Ansicht oft zu wenig beschrieben wird, der Lächerlichkeit und Blamage. Man
könnte von einem Rufmord sprechen - Ein Beispiel ist, sozusagen vor Scham in
den Boden zu versinken, oder für viele Menschen ist es die größte Schande,
"das Gesicht zu verlieren". In der Ödipussage bedeutet die Blendung
des Ödipus laut Patzer den sozialen Selbstmord. Er kann seiner Schande und
Verachtung im Gegenüber nicht mehr ins Auge schauen. - Die Frage des
psychischen Überlebens wie zutiefst empfundene Schande oder Schuld kann zur
Frage des körperlichen Überlebens auch ohne äußere existentielle körperliche
Bedrohung werden, wenn die Bedrohung bei Verleugnung der psychischen Komponente
auf den Körper verschoben wird wie z.B. bei Herzinfarkt und vielen Carcinomen. Dabei spielt nicht, was ein Unbeteiligter ein reale Katastrophe nennen würde, sondern die persönliche
Katastrophe bzw. das Erlebnis und die Bewertung die tragende Rolle. Ein
Beispiel in anderen Kulturen ist der Voodoo-Tod,
wobei jemand in der persönlichen Schande und Verachtung und damit Ausstoßung in
den Augen des Umfeldes den körperlichen Tod sucht.
Die vernichtende Entwertung in den eigenen Augen und in
denen des Gegenübers, der Rufmord, wird häufig als Niederlage erlebt und
beinhaltet die Aufwertung, den Sieg oder Triumph des Gegenübers. Dies führt
hinüber zum Gruppen- und sozialen Geschehen. Es kann sich ein
zwischenmenschlicher Kampf um Sieg und Niederlage ergeben.
Die Katastrophensicht
beinhaltet Ohnmacht und Hilflosigkeit
und dementsprechend Ohnmachtsgefühle. Folglich stehen
hinter Ohnmachtsgefühlen normalerweise
Katastrophensichtweisen, die mit der Realität gleichgesetzt werden, und ein Ohnmachtsverhalten
entsprechend der angenommenen Realität implizieren wie in der Adynamie der Paniksituation. Dann ist die Folge, nämlich
das Ohnmachtsverhalten, die eigentliche Katastrophe,
weil nichts mehr zu machen ist und gemacht wird
Der aktuelle Hintergrund liegt
oft anfangs nicht in der Person selbst, sondern liegt in einer anderen Person,
die ihre eigene Vernichtungssicht verbal oder averbal
in Gestik oder Mimik (wie schreckensgeweiteten Augen oder verächtlicher Mimik)
mitteilt. Die Gedanken des einen werden somit zu den Gedanken des anderen. Es
besteht vorübergehend eine Gedankengemeinsamkeit. Die Unterschiede können in
den Bewertungen und der Beimessung des Realitätsgehaltes liegen. Im Falle der
ungeprüften Übernahme bzw. Identifizierung mit der Sichtweise des anderen wird
diese zur eigenen Katastrophensicht bzw. -realitätssicht. Insofern wird die
Katastrophenvorstellung zu einem Gruppengeschehen. Am ausgeprägtesten
spielen sich diese Identifizierungen naturgemäß in der Eltern-Kind-Beziehung ab,
ja sogar in einer transgenerationellen Perspektive, die Urgroßeltern, die
Großeltern und die Eltern haben schon so gedacht und empfunden. Kulturen
entstehen auf dem gemeinsamen Hintergrund. Eine große Rolle spielen sie
aber bei jedem Menschen während des ganzen Lebens.
Im Falle der Sympathie für
einen anderen Menschen besteht die größere Neigung zur Gedankenübernahme und
-beeinflussung. Infolgedessen wird von Menschen, die leicht die Realitätskonstruktionen
anderer ungeprüft übernehmen, oft ein Wall von Mißtrauen und Antipathie
aufgebaut, um nicht die eigene Identität zu verlieren. Vielfach wird das
Mißtrauen, um die Kontakte nicht zu verlieren, als Reaktionsbildung in
Vertrauensseligkeit umgewandelt. Dabei ist offenbar der Kontakt zum anderen
wichtiger als die eigene Identität. Daraus ergibt sich, daß die zentrale
Aufgabe bei der Wahrnehmung der Sichtweisen anderer die Überprüfung, der
Vergleich mit den eigenen Sichtweisen und die Realitätsüberprüfung darstellt.
Tragische Folgen
Das Tragische dabei ist, daß
die Bilder gerade durch die Verleugnung und Spaltung eine starke Überhöhung
erfahren. In den Polen sind ja die übrigen Teile mit enthalten. Somit ist das
Tabuisierte, Unaussprechliche besonders schlimm. Der Vogel Strauß beschwört
sozusagen die Gefahren, vor denen er den Kopf in den Sand steckt
(Vogel-Strauß-Effekt). Er ist nicht in der Lage, sie auf ihren Realitätsgehalt
zu überprüfen und zu entzaubern. Weiterhin unterliegt er der Illusion, wenn er
nichts sieht, wird er nicht gesehen. Dadurch entstehen Wechselwirkungen und ein
tragischer Zyklus, in dem das Verleugnete durch die Verleugnung selbst
hochgespielt wird und gerade deshalb wiederum verleugnet werden muß. Eine
weitere Tragik ist, daß durch die Spaltung zwar das Selbst vor der gefürchteten
Vernichtung geschützt werden soll, gleichzeitig aber wesentliche vorhandene
Anteile im Selbst-, Fremd- und Weltbild vernichtet werden. Dadurch entstehen
gerade durch die Vermeidung der Vernichtung Verzerrungen und Paradoxien in der
Person, dem Inhalt und der Bedeutung, die gerade das bewirken, wovor geschützt
werden soll. Es kommt also zu massiven Störungen des narzißtischen Selbstbildes
und einer potentiellen Bedrohung des homöostatischen
Gleichgewichtes. So resultiert gerade aus der Verleugnung und Vermeidung der
Desintegration eine potentielle weitere Desintegration.
Falls die befürchtete
Katastrophe eintreten sollte, ist alles verloren, weil die Vorteile nicht
gleichzeitig gesehen werden können. Es müssen alle Anstrengungen unternommen
werden, diese zu verhindern. Oder es tritt eine Lähmung ein wie in der
Paniksituation, eine Kaninchen-Schlange-Situation. Weiterhin haben die
verleugneten Anteile eine starke Tendenz sich zu Wort zu melden, mitberücksichtigt
zu werden und müssen sozusagen als begleitende Schatten gefürchtet werden. Man
könnte daraus eine Psychologie des "Schattens" ableiten.
Ebenso muß umgekehrt
derjenige, der das Leben ausschließlich von der Gewinnseite sieht, immer die
Verlustseite fürchten, und wird dazu neigen, die Gewinnseite zu überhöhen und
als unangreifbar darzustellen - wie manche unverbesserliche Optimisten. In der integrierten Wahrnehmung sind
sämtliche Nachteile und Mißerfolge von Vorteilen begleitet - jedes Ding hat ja
mindestens 2 Seiten und auch Verluste und Nachteile habe
ihre guten Seiten-, so daß Verluste und Mißerfolge nicht so vernichtend sein
brauchen.
ZWISCHENMENSCHLICHE FOLGEN DER SPALTUNG
Da es sich um ein umfassendes
Thema handelt, kann ich nur einige mir wichtig erscheinende und sich für mich
täglich wiederholende Aspekte zur Sprache bringen, so wie sie sich für meinen
therapeutischen, aber auch privaten Alltag ergeben.
Ich halte es für eine
menschliche bzw. zwischenmenschliche regelhafte Folge der Spaltung, daß der
Einzelne bzw. die Gruppe sich im Vergleich
mit dem anderen oder der Vergleichsgruppe, auf die sich bezogen wird, sieht.
Daraus leite ich das Rechtsdenken und -empfinden ab. Der Mensch wird nicht mehr
als Einzelner in seinem Wert oder Unwert, seinen verschiedenen Seiten und
Unterschieden, gesehen, sondern im vergleichenden Bezug zum Umfeld. Den
Vergleich halte ich im Falle des Ungleichgewichts für den wesentlichen
Hintergrund von Konkurrenz und Neid wie unter Geschwistern, Freunden, Partnern
und sozialen Gruppen. Fehlt dieser Vergleich zu einer bestimmten Person oder
Gruppe, kann der Unterschied problemlos anerkannt werden. Äußerlich gesehen
widersprechen sich Vergleich und Spaltung, da ja im Vergleich der Bezug
vorhanden ist und in der Spaltung verleugnet wird. Man könnte es auch so sehen,
in der (oft unbewußten) Katastrophensituation gelingt die scheinbare Aufhebung
dieses Widerspruchs, sozusagen als Gedankentrick oder Denkfehler, und der
zwischenmenschliche Vergleich unterliegt nun dem Spaltungsdenken. Dabei werden
geradezu Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen, die vermehrt
Rivalität und Neid produzieren. Bei der Umgekehrten Spaltung und Gleichsetzung
werden sämtliche Unterschiede nivelliert, um diesen zwischenmenschlichen
Konflikten aus dem Wege zu gehen.
Es gibt keinen
"guten" Menschen, ohne daß es gleichzeitig einen
"schlechten" Menschen gibt. Umgekehrt gibt es keinen schlechten
Menschen ohne einen guten. Nur werden bei der Spaltung diese Zusammenhänge
nicht gesehen. Liegt eine vernichtende Selbstentwertung im Vergleich zum
verglichenen anderen oder der Vergleichsgruppe zugrunde, muß der narzißtische
Ausgleich zu den gleichzeitig Aufgewerteten gesucht werden. Dazu werden diesem
die selbstentwertenden Eigenschaften wie Sünde, Scham, Schuld Verachtung und
Lächerlichkeit zugewiesen (Projektion). Insofern werden die anderen
miteinbezogen, und die Spaltung wird zu einem zwischenmenschlichen und
Gruppengeschehen. Vor allem bei der Sündenbockstrategie spielt dies Geschehen
eine grundlegende Rolle, wobei eine Einzelperson oder eine Gruppe die bösen
Anteile der anderen mit übernimmt und der Bezug nicht gesehen wird. Eine
zusätzliche Folge ist, daß im Falle der gleichzeitigen Selbstentwertung die
Verglichenen infolge des verzerrten Unterschieds überhöht als toll, ideal oder
problemlos wahrgenommen werden, wodurch als Folge vermehrter Neid entstehen
muß. So kann sich ein Wechselgeschehen zwischen Selbstabwertung und -aufwertung
und Fremdaufwertung und -abwertung abspielen.
Zum Ausgleich der Selbstentwertung
und so erlebten negativen Position, wobei die Vorstellung mit der Realität
gleich gesetzt werden kann, und zur Vermeidung negativer Bilderanteile, die
dann fürs Ganze gehalten werden, ist es von grundlegender Bedeutung positive
Bilder im Gegenüber zu erzeugen. Das vordergründige Erscheinungsbild eines
Menschen unter Ausklammerung anderer Seiten wird somit für die ganze Person
gehalten und andere mögliche hintergründige Anteile verleugnet.
Selbstdarstellung dient dann nicht zum Ausdruck der eigenen Person und zum
zwischenmenschlichen Austausch ( analoge
Mitteilung oder Dialog ),
sondern zur Erzeugung bestimmter positiver Bilder im Gegenüber ( digitale Mitteilung oder Dialog ) z.B.
Bilder eines guten Menschen, Perfekten, 100%igen,
Erfolgreichen oder Starken. Die "weiße Weste" bzw. das Image, der
Ruf, der gute Eindruck, das Gesicht oder die Erscheinung in den Augen anderer
sind dann zentral wichtig. Anders ausgedrückt, der andere wird
funktionalisiert. Dabei wird von den eigenen Gedanken und Realitätskonstruktionen
ausgegangen, die nicht denen des Gegenübers entsprechen brauchen. So kann es
passieren, daß um Achtung und einen guten Ruf gekämpft und sich bemüht wird,
ohne daß dies nötig gewesen wäre, weil der andere die negativen Bilder nicht
teilt oder davon ausgeht. Die inneren Bilder werden als äußerer Feind wie bei
Don Quichotte als Windmühlenflügel bekämpft. Dabei kann auf das Gegenüber
eingewirkt und dieses manipuliert und beiderseitige Verwirrung gestiftet
werden.
Allerdings bestehen in einer Familien- oder Dorfkultur
oft gemeinsame Bilder und Relitätskonstruktionen.
Weiterhin kann das so erzeugte Fremdbild wiederum introjiziert und zum eigenen Selbstbild werden, das für die
ganze Person gehalten wird. Wenn das gegenüber mich für stark o.ä. hält, muß es wohl so sein. Der andere hat den einzigen
Zweck der Kompensation der eigenen Selbstentwertung. Durch die Mechanismen der
Projektion und anschließenden Introjektion entsteht eine totale Unsicherheit des
Selbstbildes bzw. der Selbstrealität, ob das Selbst z.B. nun gut oder böse ist.
Gefürchtet werden muß weiterhin, daß der andere hinter die Fassade schaut und
den wahren Kern oder das Selbst entdeckt, und beispielsweise das Potenzsymbol
eines Porsches oder körperlicher Stärke für ein real vorhandenes Impotenzsymbol
hält. Jemand hat es in den Augen anderer nötig.
Die
Abwehrmechanismen der Projektion und
Introjektion gehören also auch zu den
Spaltungsmechanismen. Bei der Projektion wird die eigene Person, häufiger
Anteile der eigenen Person im anderen erlebt und der Zusammenhang geht
verloren, während beim introjektiven Erleben Anteile
der anderen Person im eigenen Selbst gesehen werden. Die Verhältnisse sind
klar, entweder ich oder der andere ist z.B. der Böse.
Schwieriger
und unauflöslich wird es bei der Projektiven
Identifizierung. Neben der Projektion des einen besteht gleichzeitig eine
Identifizierung des anderen mit dem Gegenüber. Die Projektive
Identifizierung spielt sich in engen Beziehungen wie in Eltern-Kind-Beziehungen
oder unabgegrenzten Partnerschaften ab. Eine Mutter, die sich selbst als böse
sieht und dies an das Kind abgibt, will gleichzeitig, daß
der Böse der Gute ist, da das andere Selbst das eigene Selbst darstellt. Das
Selbst muß auf das Gegenüber einwirken, damit dieser der Gute wird, wie er
selbst es sein muß - muß, da vermeintliche Katasthrophen
verhindert werden müssen -, wobei dieser projektiv
gleichzeitig der Böse sein muß, weil der erstere selbst es ansonsten ist. Das
Gegenüber wie das Kind wird sozusagen von innen in seinem Selbstbild regiert.
Das Teuflische ist, daß somit eine unauflösliche Falle vorliegt, und das Gute
oder Richtige nie zu erreichen ist. Durch die gleichzeitige Identifizierung mit
dem Guten und Bösen entsteht eine innere Verwirrung und Zerrissenheit.
Eigentlich spielen
sich gut und böse nacheinander ab, aber die Zeitabfolge, Diachronie wird nicht
erlebt.
Dieser
Mechanismus führt oft zu einem psychosenahen Zusammenhang von eng miteinander
verstrickten Familienmitgliedern, wenn beispielsweise eine selbstentwertende
Mutter ihre Negativanteile an ein Kind los werden und dieses gleichzeitig ihre
Selbstaufwertung, sozusagen als ihr erweitertes Selbst, darstellen muß. Die
Psychosenähe erklärt sich dadurch, daß der existentiell Abhängige in seiner
Wahrnehmung gleichzeitig gut und böse sein muß (Double Bind). In dieser
Situation kann man schon verrückt werden. Nur eine Betrachtung des
Hintergrundes am anderen kann m. E. aus dieser unauflöslichen Falle
herausführen.
Da der
Aufspaltende ausschließlich die Fassade eines Menschen sieht und diese für die
einzige Realität hält, muß er die Lächerlichkeit in anbetracht
eines so naiven und primitiven Weltbildes fürchten. Somit ist dabei paradox, daß
zur Darstellung auch schwacher Anteile Stärke und Selbstsicherheit und zur
Demonstration der Stärke die Schwäche gehört, nämlich sozusagen zu schwach zu
sein, um sich Schwächen leisten zu können. Die Paradoxien gehören zum
Spaltungsdenken.
Genauso
können negative Inhalte, Schwäche und Not mitgeteilt werden, um im anderen
bestimmte Reaktionen wie Hilfsbereitschaft oder Bilder der Schuld, begleitet
von Schuldgefühlen, hervorzurufen. Oder jemand teilt mit "ich bin so
schwach und kann mich nicht wehren, also hast du rücksichtsvoll mit mir zu
sein" und dominiert mit seiner Schwäche den anderen, der sich zwar stark
fühlen mag, aber der real Schwächere ist. Dazu erzählte mir eine Depressive in
einem Versprecher „...seitdem ich meine Familie mit meiner Depression regiere...“.
Im aufspaltenden Weltbild herrscht also eine Digitale Kommunikation vor.
Vielleicht ist zur Demonstration der Projektion ein guter Vergleich die Geste
des Fingerzeigens. Wird die Hand des vorgestreckten Zeigefingers umgedreht,
zeigen 3 ansonsten nicht sichtbare Finger zurück.
Da es nicht
von Interesse ist, die verschiedenen Seiten des anderen kennen zu lernen bzw.
sich selbst mit den verschiedenen Seiten dem anderen bekannt zu machen, um so
neues kennen zu lernen und sich und ihn zu bereichern, handelt es sich
eigentlich nicht um einen Dialog, sondern eher einen Monolog. In den
monologisierenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist das Leben verarmt und
vieles geht verloren. Zuhören wird zu einer Strapaze, und es besteht für andere
die Neigung, einen solchen Menschen zu meiden. Eigentlich hätte er Mitleid
verdient, kann es aber nicht annehmen, weil es ja seine Schwäche bloßstellen
würde. Außerdem macht er sich durch den dauernden Kampf um Sieg und Niederlage,
möglichst der Niederlage des anderen, dermaßen unbeliebt und unsympathisch, daß
kaum Mitleid aufgebracht werden kann, höchstens bei Betrachtung der
hintergründigen Zusammenhänge.
Umgekehrt
kann jemand die Niederlagen geradezu auf sich ziehen z.B. als Sündenbock, indem
er sich immer wieder in diese Situation begibt, und so zur Aufwertung der
Umgebung beitragen. Meist ist er in einem Kontext aufgewachsen, wo seine
Entwertung für die übrigen, von denen er existentiell abhängig ist,
lebensnotwendig ist. Er stellt sich sozusagen als Opfer zur Verfügung, weil ihm
unbewußt die Stärke des Gegenübers wichtiger ist als seine eigene Schwäche.
So erzählte
mir ein ehemals Drogenabhängiger, seine unveränderbare Tragik sei, jeder würde
ihm seine Schwäche ansehen und sich dadurch aufbauen. Ihm war jedoch eher das
Gegenteil anzusehen, er lächelte fortwährend genüßlich, und viele bekamen eher in seiner Nähe
Minderwertigkeitskomplexe und Neidgefühle. Er nahm nicht wahr, wie erfolgreich
es ihm gelungen war, sein inneres Selbstbild ins Gegenteil umzukehren. Ein Erytrophobiker zeigte durch seine häufige Gesichtsröte in
Scham und Schuld seine Unterlegenheit an, sodaß sich jeder in seiner
Anwesenheit stark fühlen mußte. Als Folge hatte er sich weitgehend zurück
gezogen. Ein Gruppenpatient, in meinen Augen ein Borderline-Fall,
brachte sich in Gruppen oft so ein, daß alle auf ihm herum hackten. Als
Begründung führte er an – um Stärke zu trainieren.
Das macht
verständlich, warum das Leben des aufspaltend Denkenden im Grunde so langweilig
ist. Mir ergeht es sogar bei der Beleuchtung der Spaltung von verschiedenen
Seiten ein stückweit so. Es fehlt die Tiefe bei all den Vermeidungsmechanismen.
Schließlich habe ich es mir in dieser Arbeit zur Aufgabe gemacht, die
Mechanismen mit ihren Folgen und weniger die Inhalte darzustellen. Mir wird es
zum Teil langweilig, und ich denke, ob nicht auch das Lesen und die Darstellung
der Mechanismen eine Zumutung darstellt. Und die Würze mit Spots oder Vignetten
von Falldarstellungen habe ich nur wenig eingeführt.
Bei der
Spaltung, genausogut Gleichsetzung von Vorstellung und Gefühl werden entweder
nur die Vorstellungen, häufig dann als Verstand oder Vernunft bezeichnet,
sichtbar ohne die begleitenden Gefühlsanteile. Oder es wird von Gefühl oder
Befindlichkeit gesprochen, gleichgesetzt mit der Vorstellung, ohne die
zugrundeliegenden Vorstellungen. So kann es aufspaltend Vernunftsmenschen
und Gefühlsmenschen geben. Der Vernunftspart wird oft
Männern, der Gefühlspart Frauen zugeschrieben. Es herrscht dann ein
entsprechendes Rollenverhalten, wobei jeder entsprechend seiner
Realitätskonstruktionen so lebt, wie er meint zu sein. Dann können zwei innere
Welten neben- und übereinander herrschen, wobei jeweils die eine über die
andere herrscht. Im Konfliktfall ist die
unbewußte Welt, da sie nicht integrierbar ist, die Herrschende. So können
Gefühlsmenschen äußerst berechnend sein, und Verstandesmenschen von unbewußten ichdystonen Gefühlen beherrscht werden. Oder Männer
herrschen über Frauen bzw. umgekehrt. Bei der Trennung von Kopf und Bauch,
wobei die Gefühle, wie ich öfter höre, dem Bauch zugeschrieben werden,
beherrscht der "Bauch" die Person. So kann ein schmerzender Bauch
nicht nur die ganze Person in ihrer gegenwärtigen subjektiven Befindlichkeit,
sondern auch das ganze Umfeld beherrschen. Im Sinne des Digitalen Dialogs kann
der Bauch, ähnlich wie das Herz und andere Körperorgane - meist unbewußt - zur
Beeinflussung des Umfeldes eingesetzt werden, da alle sich mit dem Bauch, Herz
oder Rücken beschäftigen und evtl. den Kranken schonen müssen. Man spricht auch
von sekundärem Krankheitsgewinn.
Infolge der
Abspaltung der Bedrohung und des Bösen muß dieses immerwährend gefürchtet
werden. Da der Gefahr nicht näher ins Auge gesehen werden kann, wird sie als
etwas Unbekanntes, Unsicheres gefürchtet, das immer auftauchen kann und
allgegenwärtig gefürchtet wird. Überall wird der Teufel an die Wand gemalt. Es
besteht eine Schwarzmalerei (Kassandra- oder Unkenrufe). Von den verschiedenen
Möglichkeiten werden die negativsten ausgewählt, die mit der zukünftigen Realität
gleichgesetzt werden wie bei der Angstneurose und der Phobie. Wenn die
Bedrohung eingetroffen ist, befreit sie von der quälenden Ungewißheit, stellt
im paradoxen Sinne die Sicherheit und ersehnte Eindeutigkeit dar, so daß sie oft
durch die Handlungsweise herbeigeführt wird. Dadurch läßt sich gut die Angst
vor Neuem, Fremden und vor Veränderungen erklären. Es fehlt ein Vertrauen in die Umwelt
und die Zukunft.
Ein
weiterer Aspekt dabei ist, daß häufig die unerträglichen Anteile des Alten,
also bestehenden Zustandes zur Erhaltung des Guten auf das Neue projiziert
werden. Somit wird das Alte im Neuen gefürchtet und die Ängste potenziert.
Unsicherheiten und offene Situationen mit ungewissem Ausgang sind folglich kaum
erträglich.
Die
Gegenform der Entwertung, der Bedrohung oder des Bösen stellt die Idealisierung dar. Dabei werden die
negativen Anteile nicht nur verleugnet, sondern tragen zur Überhöhung des Guten
bei, einer Art unbewußten Trick, das Böse ins Gegenteil zu verwandeln und als
Böses zu entzaubern und Gutes zu verzaubern.
Im
aufspaltenden Zustand neigt der Mensch dazu, verschiedene Aspekte einer Person
auf 2 oder mehrere Personen zu verteilen. Die eigenen unbewußt als böse wahrgenommenen Anteile werden bewußt in der anderen Person wahrgenommen
(Projektion). Das Ziel ist, sich selber als gut wahrzunehmen (wie im biblischen
Bild des Pharisäers). Der andere dient als böser Teil des Selbst, als
Selbstobjekt. Man könnte auch von einem Behälter sprechen, der Teile der
eigenen Person aufnimmt. Umgekehrt werden die bösen Aspekte der anderen Person
in der eigenen Person wahrgenommen (Introjektion),
mit dem Ziel, das gute Objekt zu erhalten. Hinzu kommt oft noch der Mechanismus
"pars pro toto", sodaß mit Teilaspekten die ganze Person identifiziert
wird. In der Eltern-Kindbeziehung wird aufgrund der hierarchischen Beziehung -
hierarchisch, da die Eltern im Besitz der Definitionen, Selbst- und Fremdbilder
sind, während die Kinder diese noch nicht besitzen - meistens auf die Kinder
projiziert (Sündenbock) und von den Kindern introjiziert,
um beispielsweise die gute Mutter zu erhalten. Schließlich will jede Mutter
eine gute Mutter sein, und jedes Kind eine gute Mutter haben, so daß die anderen
Anteile an der anderen Person wahrgenommen werden müssen.
Die mit der
Vorstellung bzw. gleichgesetzten Realität verbundenen Gefühle, Kränkung und
Aggression auf den anderen werden bei der Introjektion
als Wut auf die eigene Person erlebt (Autoaggression), eventuell auf den Körper
verschoben oder psychisch im Selbst niedergeschlagen wie bei der Depression.
Typischerweise kommt bei der Depression der Spaltungsmechanismus der Zeit
"jetzt gleich immer" und Pars-pro-toto hinzu,
sodaß eine gegenwärtige depressive Befindlichkeit für immerwährend gehalten
wird, als etwas was sich nie ändern kann und wird und wobei alles schwarz und
sinnentleert ist, und zu Hoffnungslosigkeit und verstärkter Depression führt.
Anders dargestellt, ein zur Katastrophe erklärter Inhalt oder Teilaspekt wird
als allumfassend und für alle Zukunft (evtl. auch auf die Vergangenheit
zurückprojiziert - als schon immer) angesehen. Dieses "Schon-Immer",
wobei die positiven Erfahrungen nicht wahrgenommen werden, kann allerdings
Realitätsaspekten entsprechen, da das Spaltungsdenken schon vorher zu zumindest
latenter Depression geführt hatte.
Ein
typisches, in der abendländischen Kultur weit verbreitetes Beispiel des
Pars-pro-toto-Denkens ist die Realitätsvorstellung "Männer wollen nur das
Eine". Dies führt für die Frau zu einer Kränkung, nur für das Eine
mißbraucht zu werden und nicht mehr als ganze Frau anerkannt zu werden( häufig
wird von Mißbrauch oder Ausnutzung als Sexualobjekt gesprochen ), und zu
Rückzug und einem Libidoverzicht, aber oft nicht nur in der Sexualtät,
sondern als Folge der Beziehungsaufgabe auch in anderen bereichernden
potentiellen Beziehungserfahrungen. Aber nicht nur
die Frauen haben diese Realitätsphantasien verinnerlicht, sondern die Männer
ebenfalls, und verzichten ebenfalls, um nicht die Bösen zu sein. Oder sie wollen
im Sinne einer Trotz- und Rachereaktion erst recht nur das Eine, ebenso wie
manche Frauen, allerdings im Rollenverhalten weniger verbreitet, sozusagen
"wenn du immer behauptest, daß ich der Böse bin und nur das Eine will,
dann sollst du recht haben".
Dazu ein
Beispiel: Ein früherer Gruppenpatient, ein smarter junger Homosexueller,
erlebte im Urlaub, wie sich erotische und sexuelle Beziehungen unter seinen
Bekannten entwickelten und meinte verächtlich "Die Männer wollten immer
nur das Eine, so einer bin ich nicht!". Ich konnte mir gut vorstellen,
wenn Frauen an ihm Interesse zeigten, enttäuschte er sie sozusagen durch sein Verhalten und mit der Aussage "ätsch, ätsch, ich
bin homosexuell". Auf sein vermeintliches und von der Familie verinnerlichtes
Tabu reagierte er mit der Durchbrechung eines noch stärkeren Tabus und übte in
den Augen vieler noch größere "Schweinereien" aus, für die er mit
ständigem Beziehungsabbruch bezahlte. Man könnte darüber spekulieren, ob diese
Realitätskonstruktion mit der Folge des Libidoverzichts und der weiteren noch
stärkeren Durchbrechung von Tabus, gleichzeitig auf Umwegen die Libido um den
Preis der moralischen Disqualifikation und der weiteren
Selbstbestrafungstendenzen wieder zu gewinnen, nicht eine Teilursache der
Homosexualität darstellt. Die Mütter von Homosexuellen sehen im Gegensatz zu
den Männerbeziehungen in den Frauenbeziehungen meist "Schweinereien".
Mit Männern können ihnen ihre Söhne sozusagen nicht untreu werden.
Im
Konfliktfall kann das Pars-pro-toto-Denken zu vermehrter Kränkung und
Streitverschärfung führen. Wenn ein Konfliktpartner wütend wird oder sich
beschwert, kann es passieren, daß der andere grinst oder lacht. Der Erstere
fühlt sich ausgelacht und übersieht andere mögliche Hintergründe des Lachens
wie Kompensation von Unsicherheit und Hilflosigkeit, Umwandlung von
Betroffenheit ins Gegenteil und Distanzsuche durch Identifizierung mit der
Position des Außenstehenden, der das Ganze lächerlich finden würde. Gerade
durch die Betroffenheit und die Furcht vor der Niederlage wird die Aggression
abgespalten, an den Partner delegiert und in einen kurzfristigen Sieg
umgewandelt.
Vor allem bei schwer narzißtisch Gestörten erlebe ich es
häufig, daß sie ihre Ohnmachtsvorstellungen und -gefühle
ins äußere Gegenteil verwandeln und bei für sie ernsten bis tragischen Inhalten
ständig lächeln und grinsen, so als ob das alles sie gar nichts angehe und sie
gar nicht einbezogen wären. Ihre innere Niederlage wandeln sie sozusagen in
einen äußeren Triumph um. Somit kann die Angst vor der Lächerlichkeit abgewehrt
werden, indem sie in Identifikation mit dem anderen selber lächeln und sich
somit nicht der Lächerlichkeit ausgeliefert fühlen. Die Übernahme der Position
des Außenstehenden und Verleugnung der eigenen Einbezogenheit dient zur
Aufrechterhaltung des narzißtischen Gleichgewichts. - In Gruppen habe ich es
häufig erlebt, daß sich jemand darüber beklagte, daß er für besonders
selbstsicher, souverän, oft sogar hochnäsig und arrogant gehalten werde, wo er
doch so unsicher und ängstlich sei. Im Gespräch wurde deutlich, daß es für ihn
die größte Schande bedeutet hätte, wenn die Umgebung die innere Unsicherheit
wahrgenommen hätte. Weiterhin läßt sich fragen, warum sie sich beklagen, so
mißverstanden zu werden, statt stolz und glücklich zu sein. Die Antwort war, es
sei ihnen wichtiger verstanden zu werden. Die Ambivalenz wurde zugunsten der
Vermeidung der Bedrohung entschieden. Andere Antworten bei der Frage, warum sie
ständig grinsten, wo doch die gegenteilige Befindlichkeit bestand z. B.
"solange ich noch lachen kann, kann es nicht so schlimm sein" oder "wenn mir
das jemand anderes erzählen würde, könnte ich nur lachen".
Man könnte
diesen Zusammenhang auch auf dem frühkindlichen Hintergrund sehen, wo Konflikte
übernommen wurden, die ursprünglich nicht die eigenen waren. Es wird
verleugnet, daß durch die Verinnerlichung es jedoch heute die eigenen sind.
Ähnlich könnte man eine aktuelle spontane Delegation von Schuldvorstellungen
und -gefühlen an andere auf dem ursprünglichen frühkindlichen Zustand der
Schuldfreiheit verstehen. Die früheren Bezugspersonen sind ja auch im
Schuldkontext schuld an der gegenwärtigen Schuld. Manche im Schuldkontext
Verhafteten haben in der Umkehrung demzufolge ein Form der Selbstdarstellung
von Unschuld, Naivität und Reinheit.
Neben dem Spaltungsmechanismus in der Zeitdimension,
jetzt = immer, spielt die Verwechslung bzw. Gleichsetzung im Vorher und
Nachher, die Diachronizität
eine Riesenrolle. Vorher ist gleich nachher, nachher gleich vorher. Dabei wird
der zeitliche Ablauf nicht als kontinuierlicher Fluß erlebt. Gekoppelt mit der
Gleichsetzung von Vorstellung und Realität führt er zu brisanten Konflikten.
"Obwohl ich es genau wußte oder gewußt hätte, habe ich ganz anders gehandelt".
Das Nachher des Ergebnisses einer Handlung wird ins Vorher der Vorstellung
eines möglichen Ergebnisses hineingenommen und gleichgesetzt. Dies führt zu
einer Besserwisserei im intrapsychischen wie im interpersonellem Bereich "Du (oder ich hätte) hättest
es wissen müssen" oder "Wir haben es gewußt, Dir schon vorher
gesagt".
Dieser
Mechanismus fiel mir bei einer Patientin mit beginnender Multipler Sklerose
immer wieder auf. Z. B. hielt sie sich nachträglich vor, wider besseres Wissen
ihre Partnerschaft, die schief gegangen war, eingegangen zu sein. Gedanken, daß
Partnerschaften schief gehen können, muß man immer haben, aber gewußt haben
kann sie das nicht. Oft stehen auch Prophezeiungen des Umfeldes dahinter, gegen
die sich trotzig gewehrt wird, und eine eigene Beurteilung bleibt im Trotz
aus. Sie hielt ihre vorherigen Gedanken
für Wissen. Daß es sich um eine Verwechslung von Vorstellung bzw. Phantasie und
Realität handelt, entnehme ich meiner Vorstellung, daß der Mensch in einem
komplexen Geschehen den nach seiner Vorstellung besten Weg wählt, sozusagen
nach bestem Wissen und Gewissen handelt, auch wenn ihm Teilaspekte seiner
Motivation (innere Realität) nicht bewußt sind. Infolgedessen haben Vorwürfe
z.B. von Kindern an die Adresse von Eltern oder umgekehrt wenig Sinn, da die
anderen zurecht behaupten können, nach besten Wissen
und somit Gewissen gehandelt zu haben. Sie haben es in anbetracht
komplexer bewußter und unbewußter Motivationen nicht besser gewußt. Diese
Vorwürfe gehen von der Konstruktion eines perfekten Menschen, ohne verschiedene
widersprüchliche Seiten, aus, den es naturgemäß gar nicht gibt.
Zum Vorher
und Nachher und Jetzt oder Nie rechne ich die Möglichkeit der nachträglichen Wiedergutmachung. Meist
wird unter Wiedergutmachung der Ausgleich einer Schuld anderen gegenüber
verstanden. Hier meine ich die innere gegenüber der eigenen Person zur
Wiederherstellung der inneren Stabilität. Wenn dem Aufspaltenden im Streitfall jetzt diese oder jene Argumente
nicht einfallen, so hat er auch nachher und nie die Möglichkeit diese zu
artikulieren und die verlorene Position wieder gutzumachen - nach dem Motto
"wenn nicht jetzt, dann nie mehr". Der integrativ Denkende hat
durchaus die Möglichkeit, das was ihm jetzt nicht eingefallen ist, später
einzubringen und Zusagen oder Entscheidungen zu revidieren. Er wird sich z.B.
sagen können, daß ihm nicht alles in jedem Augenblick einfallen kann. Oder er
wird sich eine Bedenkpause offen halten. Allein schon die Bedenkpause ruft beim
Aufspaltenden Unmut und Kränkung hervor, weil er selbst auch automatisch in der
Subjekt-Objekt-Gleichsetzung, ohne zu überlegen "ja" gesagt hätte.
Weiterhin kann eine
Wiedergutmachung darin bestehen, wenn z.B. jemand kritisiert wird, diesen oder
jenen Fehler begangen zu haben oder eine schlechte Eigenschaft zu besitzen,
nach dem Schritt der 1. Übernahme, also persönlich getroffen und gekränkt zu
sein, den 2. Schritt zu unternehmen und die Kritik und den Kritiker auf
Hintergründe hin zu beleuchten, die durchaus nicht in der eigenen Person liegen
müssen oder die Handlungen nach eigenem besten Wissen erfolgten. Dann sieht der
Sachverhalt oft ganz anders aus. Die Kritik steht mit Sichtweisen und
Erwartungen des Kritisierenden in Zusammenhang, oft Riesenerwartungen, die
realistischerweise kein Mensch erfüllen kann, oder Ansprüchen, auf die er durch
Vorleistungen ein Anrecht zu haben glaubt und sein Gegenüber festzulegen
versucht. Oft stecken auch Projektionen dahinter, wodurch sich der
Kritisierende von Selbstkritik reinzuwaschen versucht. Eine Betrachtung der
Hintergründe und Zusammenhänge ist zur eigenen Rehabilitation also auf jeden
Fall lohnenswert.
Bei
zeitlich versetzter Spaltung kann man auch von Diachroner Spaltung (Stierlin) sprechen.
Bei ihr wird z.B. ein Mensch zuerst in den Himmel gehoben und bei der ersten
Wahrnehmung negativer Eigenschaften in die Hölle verdammt. Infolgedessen wird
im Spaltungsdenken das Verliebtsein oft so
problematisch. In das Liebesobjekt werden sämtliche idealen und gewünschten Selbst-
und Objektanteile hineinprojiziert, die normalerweise nicht der Realität
entsprechen und erfüllt werden können. Das Ziel ist es, das Stadium höchsten
Glücks zu erreichen. Dann wird es nach der Wahrnehmung nicht idealer Anteile
zum einen anstrengend und quälend, die positive Idealisierung und
Idealbeziehung aufrecht zu erhalten, zum anderen die Entwertung gefürchtet und
gleichzeitig angestrebt, weil sie einer Erlösung gleichkommt. Außerdem wird das
höchste Glück vor allem dann gesucht, wenn viel Unglück vorherrscht, und die
Mechanismen des Unglücks und deren Realitätskonstruktion wird
sich bald wieder durchsetzen. Kein Mensch kann nur gute Eigenschaften haben.
Infolgedessen ist die große Liebe so zerbrechlich. Ein differenzieret und
integrativ wahrnehmender Mensch wird meist etwas auszusetzen habe und deswegen
selten länger total verliebt sein. Aus der meist unbewußten Furcht vor der
diachronen Entwertung können in einem derartig denkenden Zusammenhang
aufgewachsene Menschen gute zugeschriebene Eigenschaften und Lob schwer annehmen
oder versuchen gleich die Inhalte herunterzuspielen
Der
Mechanismus der Gleichsetzung von subjektiv und objektiv führt oft zu schweren
zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen. Verschiedene subjektive Inhalte und
Meinungen sind neben- und nacheinander unvereinbar - wie bei rechthaberischen
Streits. Eine subjektive und für objektiv als Tatsache gehaltene Meinung oder
Wahrnehmung oder ein als ganzes dargestellter Teilaspekt provoziert im Gegenüber zur Selbsterhaltung die Übernahme einer
entgegen gesetzten Position, ebenfalls seine subjektive Position objektiv bzw.
den Teilaspekt als ganzes darzustellen. Etwa in einem familiären oder
religiösen Kontext bestehen zusätzlich viele gemeinsame gleichsetzende Bilder.
Da der Zweite sich in seiner Subjektivität übergangen und der Erste ebenfalls
in seiner subjektiven Objektivität nicht anerkannt fühlt, entsteht ein Kampf,
wer nun objektiv recht hat, um Sieg und Niederlage - obwohl eigentlich jeder
für sich subjektiv recht hätte und beide Teilaspekte nebeneinander Platz
hätten. Das Grinsen im Antlitz des Gegenübers stellt die größte Niederlage dar.
Infolgedessen grinsen und lachen viele sich schwach und unterlegen Wahrnehmende
so viel wie oben erwähnt. Sie sind nach außen immerwährende Sieger und müssen
die Bloßstellung fürchten. Der Schwächere und Unterlegene muß natürlich
zusehen, in die obere Position zu gelangen, wiederum recht zu bekommen, so daß
der nächste Streit vorprogrammiert ist. Die Rechthaber, die Gleichsetzer von
subjektivem und objektivem Recht machen sich so das Leben schwer. Das "Sich-Durchsetzen" auf der Spaltungsebene ist also ein
Pyrrhussieg. Laut christlicher Mythologie wird das Leben zum irdischen
Jammertal.
Diese
Mechanismen spielen bei vielen Störungen im Sinne von Krankheit wie z.B. bei
der Phobie eine tragende Rolle. Im phobischen
Zusammenhang besteht demzufolge eine immense Angst vor immerwährendem Streit
und eine massive Streitunterdrückung und -tabuisierung, wobei sich jeder
unterdrückt und keiner in seiner Position anerkannt fühlt, als Folge dagegen
opponieren muß, die Aggressionen an allen Ecken und Kanten meist in Form von
spitzen Bemerkungen hervorbrechen. Die an und für sich gute Absicht der
Streitvermeidung und Harmoniesuche provoziert also geradezu den Streit. Als
Folge sind alle miteinander zerstritten, das Klima wird unerträglich, was neben
der Nichtachtung die eigentliche Katastrophe darstellt, und jeder möchte
entfliehen. Das ist aber gleichzeitig verboten und wird gefürchtet, da es mit mannigfachen
Ängsten besetzt ist.
Streit ist
aber nicht gleich Streit. Man könnte, polarisierend mit sämtlichen
Zwischenstufen, zwei Streitformen unterscheiden. Einmal die beschriebene Form
innerhalb des Spaltungsdenken, dem absoluten
Rechthaben, die zu immerwährendem Streit und zu Zerwürfnissen führt, zum
anderen die Streitform innerhalb des integrativen Denkens, wobei die jeweiligen
subjektiven Positionen anerkannt werden. In diesem Fall führt Streit eher zur
Klärung, Bereinigung, letztlich zu Harmonie,
entsprechend dem Titel des Buches von Bach/Wyden
"Streiten verbindet". Auch ist die Wahrnehmung und Darstellung der
subjektiven Standpunkte und Befindlichkeit eher interessant und bereichernd,
die Akzeptanz vermittelt Sicherheit und Geborgenheit, läßt über den eigenen
Tellerrand hinweg gucken. Aber im Zustand der Bedrohung ist dies schlecht
möglich.
Entsprechend dem Denk- und Wissensstand der Mitglieder im
Unvereinbarkeitsdenken sind phobische Arrangements
mit einem designiertem Patienten häufig noch die beste
Lösung. Dabei werden die Ängste vor Aggressionen und Streit zugleich mit den
unterdrückten libidinösen Wünschen z.B. auf die Straße verschoben, wie bei der Agoraphobie, wohin meist das Aggressionsobjekt wie der
Ehepartner als Schutz vor den Ängsten und Wünschen die Begleitung darstellen
muß. Dies Arrangement kann gleichzeitig als Schutz, Hilfe, Bestrafung und Rache
an dem anderen durch dessen Einengung und gleichzeitiger
Aggressionsunterdrückung angesehen werden. Eine zerstrittene Beziehung wird
somit in eine äußerlich harmonische Beziehung umgewandelt, wo einer für den
anderen da ist, ihm hilft und schützt.
Die (ob Claustro-, Agora-, Herz-, Carcino- und neuerdings Aids-) Phobie, ähnlich wie andere
Störungen und Krankheiten, stellt gewissermaßen eine pathologische
Kompromißbildung bei der Unvereinbarkeit von Autonomie versus
Gemeinsamkeit bzw. Geborgenheit und Sicherheit beim Bezugspartner dar. Dabei
wird diese Spaltung vom frühkindlichen Bezugspartner auf den heutigen
übertragen, sozusagen früher und heute gleichgesetzt. Die Spaltung autonomer
Schritte, meist reale "Untreue" oder Untreuewünsche, und
fortbestehende Bezogenheit zu den Partnern, wird auf
krankhaftem Wege überwunden.
Ein
weiteres makaberes Beispiel dazu, wo der Konflikt nicht allein auf der
Partnerebene beschränkt bleibt, sondern ein Kind einbezogen ist: In einer
Familie herrscht eine erstickende Athmosphäre,
beispielsweise in dem ständigen Streit, ob der Partner mehr auf seine Eltern
oder einen Elternteil wie die Mutter als auf seinen Ehepartner bezogen ist, die
oft noch im gleichen Haus wohnt und ständig dazwischen redet, alles besser weiß
und überall bevormundet. In diesem innerfamiliären Klima kann das Kind einen
Erstickungsanfall bis zum Asthma bekommen, und beide Partner sind in dem
Bemühen vereint, dem Kind zu helfen. Ihr Streit ist übe das Asthma des Kindes
geschlichtet. - Das Wort
"Klima" wird meist auf ein außerfamiliäres Klima (Wetter, Pollen)
verschoben, weil die beteiligten Familienmitglieder, dem Schuldkontext bzw. der
Schuldzuschreibung verhaftet, sich sonst schuldig fühlen würden. Die
Schuldzuweisung würde die Konflikte noch verschärfen, sodaß die Außenprojektion
noch eine Entlastung darstellt. - Das Kind stellt eine Art Blitzableiter dar.
Es mag auch an der Aggressionsunterdrückung über den ewigen Streit der Eltern
ersticken. Und dann kann es passieren, wie mir eine
früherer Asthmatiker erzählte, daß beide Eltern, wenn sie es geschafft habe,
das Kind zu retten, sich glücklich in den Armen liegen. So wird auf Kosten
eines Kindes, das sich im Mittelpunkt der Familie sieht und dadurch teilweise
zur Krankheit verführt wird, - dazu hörte ich den Ausspruch eines Kindes nach
erfolgreicher Asthmatherapie "aber schön war es doch!" - eine zerstrittene Beziehung in eine
harmonische bzw. pseudoharmonische Beziehung umgewandelt.
Noch einige Zeilen zum
Schuldkontext bzw. der Schuldzuschreibung, die für das Spaltungsdenken typisch
ist: Wenn eine Sache schief geht, an der mehrere beteiligt sind, wird meist einer
oder eine Gruppe als "schuldig" bezeichnet. Dabei wird die
Beteiligung der übrigen geleugnet, also deren "Mitschuld". Wem es
gelingt, die Schuld anderen zuzuschreiben ist, ist aus dem Schneider. Zur
Depression gehört, sich selber die Schuld zuzuschreiben. Darunter wird
gelitten. Laut christlichem Glauben wird der Mensch schuldig geboren, der
Erbsünde, wobei ich persönlich mehr den Sündenfall in der
Schuldrealitätskonstruktion sehe. Manche Ungeborene werden schon schuldig an
den Schwangerschaftsbeschwerden, als Neugeborene an den Geburtskomplikationen
und als Kleinkinder an mannigfaltigen Krankheiten ihrer Mütter angesehen. An
diesem Makel können sie ein Leben lang tragen und durch Wiedergutmachungsantrengungen
an ihre Mütter gebunden bleiben. Dieser Zusammenhang ist mir aus Therapien sehr
vertraut.
Bei der Darstellung einer phobischen Familiendynamik, aber auch bei anderen Formen
der pathologischen Familiendynamik, meldet sich bei mir in der Gegenübertragung
das Gefühl des Überdrusses. Ich kann kaum noch zuhören - meiner Ansicht nach in
der Gegenübertragung eine Wiederspiegelung der
Innenbefindlichkeit des Patienten. Schließlich ergeht es ihm nicht anders als
mir, nur ist er in weit höherem Maße betroffen, was oft geleugnet wird. Wenn
besonders wenig Freiräume bestehen und weitere tiefgreifende Spaltungssmechanismen mit den gefürchteten Katastrophen das
Leben unbewußt hoffnungslos erscheinen lassen, können nach meinem
Erkenntnisstand schwere chronische organische Erkrankungen wie z.B. die Multiple
Sklerose die Folge sein. Der designierte Patient kann nicht mehr entfliehen,
weil sein Bewegungsapparat betroffen ist. Er läßt sich zum kleinen sekundären
Krankheitsgewinn, gleichzeitig als Rache zum narzißtischen Ausgleich, und in
allseits bewunderter und bemitleideter heroischer Dulderhaltung im Rollstuhl
spazieren fahren
Zu
ähnlichen interpersonellen Kreisläufen kann die Gleichsetzung bzw. Koppelung von Wunsch und Erfüllung führen. Wunsch bedeutet dann
Anspruch, eventuell noch verschärft durch die Gleichsetzung von Wunscherfüllung
mit Wert- und Liebesbestätigung. Beide
Partner sind an die Erfüllung gebunden, sowohl der Wünschende durch seinen
eigenen Anspruch, als auch der Erfüllende durch den Anspruch des anderen. Der
eine kann nicht loslassen und verzichten, die Position des anderen ist außer
Kraft gesetzt, wie er dazu steht und ob er überhaupt erfüllen will. Infolge
seiner Nichtbeachtung muß er sich zur Selbsterhaltung automatisch dagegen
wehren, auch dann wenn er ansonsten gerne den Wunsch erfüllt hätte. Die
Koppelung von Wunsch und Anspruch stellt also eine Provokation zum Trotz dar.
Es entsteht ein Kampf um Sieg und Niederlage. Normalerweise ist der
Beanspruchende der Meinung, daß er schon so viele Wünsche erfüllt oder so oft
verzichtet habe, daß er jetzt endlich ein Recht auf Erfüllung habe. Oft hat er
auch versucht durch Vorleistungen in seinen Handlungen, seinem Altruismus bzw.
seiner Opferhaltung, den anderen auf die Erfüllung zu verpflichten. Der eine
gerät sozusagen in den Besitz des anderen, woraus eine Art Besitzdenken
resultiert.
Ebenso wird
auf Wünsche verzichtet, wenn die Nichterfüllung als Realität vorausgesetzt
wird. Ein Risiko einzugehen und Wünsche zu artikulieren, hätte die Offenheit
der Situation vorausgesetzt.
Entwicklungsgeschichtlich wurde oft von den prägenden Primärpersonen
verinnerlicht, daß Wunsch automatisch ohne Berücksichtigung der eigenen Person
Erfüllung zu bedeuten habe. Es wird ein automatischer, vorauseilender
Gehorsam oder Kadavergehorsam gefordert. Wiederum von einer anderen Seite beleuchtet - indem
die eigenen Wünsche in den anderen projiziert werden, versucht der eine häufig
den anderen auf seine Leistungen vorweg zu bestimmen. Ein Beispiel sind die
Eltern, die meinen, alles für ihr Kind getan zu haben, und ewige Dankbarkeit
erwarten - so wie ihre eigenen Eltern schon alles getan hatten und Dankbarkeit
erwarteten. Loslösung ist meist nur unter größten Schuldgefühlen möglich, wobei
das Vorhandensein von Schuldgefühlen schon partiell die Beziehungskonstanz und
Selbstbestrafung beinhaltet
Dazu gehört
auch die Koppelung von Verstehen und
Handeln. Verständnis für den anderen heißt sozusagen wie selbstverständlich
in seinem Sinne zu handeln - oft ein aus den Primärbeziehungen verinnerlichte
Denk- und Handlungsverknüpfungen. Im Falle der Eifersucht mag das Verständnis
für die Schmerzen des einen zur Verknüpfung mit dem Unterlassen der Handlungen
verbunden sein. Übersehen wird dabei, daß der Eifersüchtige durch seine
Kränkungen, Verlustängste oder eigenen Fremdgeh- und Untreueverzichte bei sich
selber das Leid hervor ruft, und der andere lediglich eine Art Auslöser
darstellt. Der andere ist sozusagen am Leid schuldig, das ich mir selbst
verursache - durch die Projektion eine Art Personenverwechslung.
Ein
ähnlicher Zusammenhang besteht, wenn Bitten
oder Fragen als Befehle herangetragen
werden, oft mit befehlender Stimme "der Ton macht die Musik" oder
befehlendem Blick oder auch in äußerlich harmloser Form wie Bemerkungen
"sei doch nicht so.." oder "du kannst
doch mal.., .. diese Kleinigkeit.., stell dich nicht
so an..",. Derartige Floskeln können eine ungeheure Macht ausüben, wenn
diese Mechanismen nicht durchschaut werden. Es
entsteht ein Zwiespalt zwischen Selbstbehauptung gleich Sieg und Erfüllung
gleich Niederlage.
Im
therapeutischen Prozeß merke ich an der Gegenübertragung, wenn eine in der
äußeren Form harmlose Frage an mich herangetragen wird, dadurch, daß in mir
sich alles gegen eine Beantwortung sträubt, und ich mich völlig in der Falle
fühle. In der Falle fühle ich mich deshalb, weil gerade durch die Harmlosigkeit
der Frage meine Selbstbestimmung außer Kraft gesetzt ist und voll über mich
bestimmt wird, sodaß ich mich sozusagen mit allen Fasern meines Körpers dagegen
wehren muß. Wenn ich auf eine harmlose
Frage eine harmlose Antwort gäbe, wäre dem brisanten interpersonellen Geschehen
die Spitze abgebrochen. Es hätte sich nach Klüwer ein
Handlungsdialog ergeben (negativ ausgedrückt - Gegenübertragungsagieren), der
später oft noch ansprechbar gewesen wäre (wenn nicht jetzt, dann später!),
jedoch wäre die dahinterstehende Problematik des Patienten im Augenblick nicht
bearbeitet worden. Meist steht eine Angst dahinter z.B. vor
Nichtwunscherfüllung bzw. Wunschverweigerung auf dem Hintergrund, schon so oft
verzichtet zu haben, die durch Beherrschung (Manipulation) des Gegenübers
ausgeglichen und ungeschehen gemacht werden soll. Gerade die harmlose
Verkleidung macht die Falle so schwierig. In der Umkehrung kann dieser Prozeß
in einer Art Rollentausch Auskunft über die Ängste und Interaktionsmechanismen
dieses Patienten und die zugrunde liegenden Primärbeziehungen geben. So ist es
mit ihm selbst geschehen, und so hat er verinnerlicht zu interagieren.
Bei diesen
Beispielen der Gleichsetzungen wie subjektiv
= objektiv, Wunsch = Erfüllung, Verstehen, Fragen, Bitten = Handeln ist das Gemeinsame, daß die Subjektivität und
Individualität nicht anerkannt bzw. geachtet wird. Zum einen ist diese
grundsätzliche Nichtachtung die Katastrophe, zum anderen die daraus
resultierenden endlosen Streitigkeiten. Zur Erhaltung des zwischenmenschlichen
Zusammenhangs kann das Krankheitsarrangement entsprechend dem Wissen und den
inneren Realitäten vorläufig noch die beste Lösung sein, entsprechend meiner
Vorstellung, daß der Mensch schon automatisch die für sich beste Lösung sucht.
Wird die Subjektivität anerkannt, werden Entscheidungen unter Beachtung des
Einzelnen getroffen, nicht über seinen Kopf hinweg, kann zurückgesteckt,
verzichtet und nachgegeben werden. Die Unnachgiebigkeit setzt folglich die
Nichtachtung bzw. die verinnerlichte Nichtbeachtung voraus.
Ein nach
aufspaltenden und gleichsetzenden Mechanismen lebender Mensch lebt in
immerwährender Angst, muß laufend fürchten, aus weiß wird plötzlich schwarz,
aus gut böse, aus richtig falsch, seine subjektive objektive Wahrheit ist
objektiv falsch. Er muß zur Verhinderung seiner Ängste Einfluß und Macht auf
andere ausüben, daß sie um jeden Preis seine Realitätsvorstellungen übernehmen,
im Jetzt auf die bedrohliche Zukunft einwirken, immenses leisten und kommt doch
nie zum Ziel, weil es das Ziel, die absolute Harmonie und die gute Welt nicht
gibt, in der alle gleich sind und gleichzeitig die gleichen Wünsche und
Interessen haben. Er ist an die Erfüllung seiner Ansprüche an sich selbst und
an die anderen gebunden. Er muß erzwingen, daß falsches wahr, böses gut ist wie
z.B. in totalitären Regimen. Durch die Nichtbeachtung
seiner Subjektivität und die der anderen schafft er fortwährend Streit und
Disharmonien, wo er doch selbst immerwährend die Harmonie, Klarheit und
Eindeutigkeit sucht. In der griechischen Mythologie ist dieser Tatbestand in
der Sisyphossage festgehalten.
Die
Gedankenspaltung scheint mir gut getroffen mit dem Wort "hirnrissig".
Er bezeichnet die anderen als hirnrissig, die doch in seinen Augen so völlig
gegensätzliche Unvereinbarkeiten unter einen Hut bringen, während diese ihn
aufgrund seiner mangelnden Integration, nämlich durchaus Widersprüche unter
einen Hut zu bringen, durchaus berechtigt als hirnrissig bezeichnen. Beide
sehen sich nach ihren Normalitätsrealitätsvorstellungen als normal an.
Bei diesem
ohnmächtigem und hoffnungslosen Kampf um Anerkennung,
Achtung und narzißtischer Rehabilitation gehen selbstverständlich große Teile
des Lebensgenusses bzw. der libidinösen Selbstverwirklichung verloren, zumal da
die Entwertungen vor allem libidinöse Strebungen betreffen. Das Leben ist
"ziel"- oder "erfolgs"-orientiert
und kann nicht einfach als persönlicher Lebensweg mit den verschiedenen Seiten,
Erfolgen und Mißerfolgen, gelebt werden.
Und falls sich über die Schande, Schuld o.„. hinweg gesetzt wird, wird
der Genuß gleichzeitig oder im nachhinein durch Schuldgefühle getrübt oder muß
mit Wiedergutmachungsanstrengungen bezahlt werden. Dadurch werden die
Sichtweisen jedoch gleichzeitig aufrecht erhalten und bestätigt.
Die Herrschaft der Mechanismen macht
das Leben fade, langweilig und
hoffnungslos ( siehe, Sartre und der
Existentialismus, "Im Räderwerk" u. a.). In der Gegenübertragung meldet
sich bei mir neben dem Gefühl des Überdrusses das Gefühl der Langeweile, ich
phantasiere "immer dasselbe, derselbe Kreislauf". Den Patienten geht
es genauso. Sie haben schon gar keine Lust mehr, immer über dasselbe zu
erzählen.
Andererseits bedeutet Integration,
Anerkennung der verschiedenen Seiten und Aspekte bei sich und bei anderen
Personen, sogar die Ambivalenztoleranz und gedankliche Durchdringung der
komplexen Hintergründe Genuß und Bereicherung - die Lust an der Erkenntnis.
Dieser Genuß ist für mich neben voranschreitenden Klärungen eine wesentliche
Motivation zur schriftlichen Niederlegung dieser für mich so gesehenen
Zusammenhänge, wenn es mir auch vielfach so geht, immer dasselbe aus den
verschiedensten Perspektiven.
Die einzigen
Möglichkeiten des Lebensgenusses im Spaltungsdenken bestehen in dem
narzißtischen Genuß und Gewinn (narzißtische Libido) der Selbstaufwertung und
der Fremdabwertung, außerdem in der Lust an dem Verbotenen "die verbotenen
Früchte schmecken am besten", der Schadenfreude und der Rache und
Rachegelüste "Rache ist süß" -
der narzißtischen Wiedergutmachung und des inneren Ausgleichs, die
allerdings wiederum Wiedergutmachung erfordern. Auf die Lust am Verbotenen
führe ich die Faszination am sogenannten Halbwelt- und Rotlichtmilieu in Bars,
Bordellen, Homosexuellen- und Transvestitenmilieu zurück. Dies sind Bereiche
der gesellschaftlichen Tabus, die gerade durch die Tabusetzung und die damit
verbundene Lustunterdrückung im Sinne einer Kompromißbildung durchbrochen
werden müssen.
Wird der
Aufspaltende mit den Ambivalenzen, sowohl den eigenen als auch denen des
Gegenübers konfrontiert, so gerät er völlig durcheinander, da sie für ihn das
reinste Chaos bedeuten. Meist wird er unruhig und böse, wirft dem Gegenüber
vor, dieser solle doch endlich klar und deutlich mitteilen, was eigentlich sei
oder er wolle. Dies kann das Gegenüber ebenfalls dazu verführen, um der
Klarheit willen wesentliche Teile seiner selbst zu unterdrücken. Eltern suchen
ihre Kinder in ambivalenten, ausprobierenden Situationen auf eindeutige und
klare Eigenschaften, Wünsche und Ziele jetzt und für alle Zeiten festzulegen.
So mag eine Mutter ihrem Kind vorhalten "gestern wolltest du noch
Bratwurst, heute Pfannekuchen. Was willst du eigentlich? Du mußt endlich mal
wissen, was du willst!" - so als ob es keinen Geschmackswandel gäbe, daß
ein Kind mal dies und jenes möchte.
Manche Eltern erwarten schon im Kleinkindesalter von ihren Kindern Klarheiten
und Eindeutigkeiten, die naturgemäß nicht mal Erwachsene erfüllen können und
womit sie völlig überfordert sind. Die Kinder sollen dann als idealisierte
Selbstobjekte die klare Welt realisieren, die die Eltern selber nicht in sich
haben und schaffen
können.
Falls die
Kinder diese Vorstellungen zu Selbstinstanzen verinnerlichen, was sie
zwangsläufig tun, wenn nicht eine Person mit Alternativvorstellungen anwesend
ist, diese deutlich vertritt und durchaus Streit riskiert, meinen sie von sich
selbst, alles vorher klar und deutlich wissen zu müssen, nichts mehr verändern,
Ambivalenzen nicht zulassen zu können. An diesem Beispiel zeigt sich, daß
Unterschiede in den Realitätskonstruktionen, falls sie anerkannt und
revidierbar sind, durchaus förderlich im Reifungsprozeß sein können. In diesem überfordernden, unmöglichem Unterfangen sind
Entwicklungs- und Reifungsvorgänge schlecht möglich.
Im Falle
der Spaltung auf 2 oder mehrere Personen ist der Aufspaltende fortwährend auf
den Bezug zum Partner, des Trägers seiner negativen Anteile angewiesen, ebenso
wie dieser auf ihn als des Trägers seiner positiven Anteile angewiesen ist. Der
oder die anderen gehören sozusagen zur narzißtischen Regulation der eigenen
Person. Da die Realität der Trennung der Personen und die Verschiedenartigkeit
von Personen außer Kraft gesetzt ist, ist dies ein labiles narzißtisches Gleichgewicht
und von Verlust bedroht. Durch die Beherrschung des anderen wird dieser genauso
festgehalten wie abgestoßen - festgehalten als partielles Selbstobjekt,
abgestoßen, weil er nicht er selbst sein darf und sich zur Selbsterhaltung
entfernen muß. Wenn der andere, das Selbstobjekt verloren geht, steht der
erstere sozusagen bloß, leer ohne wesentliche Persönlichkeitsanteile da. Seine
Identität, die auf den anderen baut, ist bedroht.
So betrifft
die Verlustangst des einen nicht nur den Verlust der fremden Person, sondern im
anderen auch den Verlust wesentlicher Anteile der eigenen Person. Es geht
vermehrt um einen selbst. Gleichzeitig ist sie die Verlustangst des anderen.
Diese gegenseitige Angst kann sich gegenseitig steigern (symmetrische Beziehung),
oder wird auf 2 Personen aufgespalten (komplementäre
Beziehung), sodaß der eine die Angst des anderen mitträgt und der erstere
angstfrei ist und den zweiten wie im phobischen
Arrangement kontrolliert. Im Falle des Verlustes ist sein narzißtisches
Gleichgewicht von Desintegration bedroht, das Selbst- und Weltbild gerät völlig
durcheinander - oder er muß sich schnellstens einen neuen Partner suchen. Im
Falle der Sündenbockstrategie, wobei ein Mitglied die negativen Anteile
übernommen hatte, müssen die Rollenverteilungenn neu
ausgehandelt werden, wobei jeder leicht in diese Rolle geraten kann.
Durch die
Unvereinbarkeit zweier Seiten ist die andere Seite unvorstellbar. Ist sie erst
vorstellbar, kann der Mechanismus der Gleichsetzung von Vorstellung und
Realität in Aktion treten, wenn - dann (lineares Denken), und die vermeintliche
infolge der Verleugnung überhöhte Realität muß unter allen Umständen vermieden
werden, sowohl bei sich als auch in der anderen Person. Oder die neue Realität
muß sofort in Handlung umgesetzt werden, wobei die alte Seite verloren geht.
Deswegen darf sie erst gar nicht vorgestellt sein.
Ähnlich ist
es beim Sprechen und Handeln. Paradoxerweise darf im Sinne der doppelten Moral
öfter eher gehandelt werden, besonders im vielfach entwerteten Bereich der
Sexualität, als darüber gesprochen werden. "Es darf alles getan werden,
solange nicht drüber gesprochen wird". In der Beleuchtung des Gesprächs
tritt ansonsten die Verwerflichkeit des Handelns ins grelle Licht. Dazu las ich
im Bericht einer pietistischen Ehefrau "Sexualität fand nur statt, wenn
wir ein Kind zeugen wollten, und dann nur in inständigem Gebet zu Gott, daß uns
ja nicht die sündige Lust befalle". Andererseits beim Protestverhalten
kann die Lust bei Lichte besonders schön sein. Im Falle des
Integrationsversuches wie in einer Psychotherapie muß über die
unaussprechlichen Inhalte gesprochen werden. Das Unaussprechliche wird besprechbar und verliert seinen Schrecken.
Zur Erhöhung, der
Vogel-Strauß-Politik kann z.B. der Doppelmechanismus der Medikamenteneinnahme
gehören. Einerseits dämpfen diese die Ängste und fördern durch die verminderte
Angstblockade die Handlungsfähigkeit und Selbstregulationsmechanismen,
andererseits legen sie Schwäche und Hilflosigkeit bloß, führen im Größenbild
zur Kränkung infolge eines Schwäche- und Versagensbildes, nicht anders mit den
Problemen fertig zu werden. An mir selbst habe ich die Kränkung wiederholt
gespürt, wenn ich mit einem Konflikt nicht anders als mit einer Erkältung, Rückenbeschwerden
oder einem grippalen Infekt fertig wurde. Dann bieten sich Erklärungen wie
"Wetter", "Biorhythmus" oder "grassierender
Virus" zur Erhaltung des Souveranitätsbildes von
selbst an. Medikamente stellen die eigene Souveranität
und das Integrationsvermögen in Frage und können somit
die Ängste fördern. "Das muß ja etwas schlimmes sein, was ich auf dies Art dämpfen muß". Medikamente sind also
gleichzeitig richtig und falsch bzw. je nach dem Stand der gegenwärtigen
Integrationsfähigkeit richtiger oder falscher.
An einer
Patientin, in deren Familie mehrere Mitglieder an Krebs gestorben sind, wurde mir die Aneinanderreihung von Spaltungsmechanismen und
die Folgen der Hoffnungs- und Hilflosigkeit
besonders deutlich. Jedesmal, wenn sie in einer Sackgasse landete, einen Weg
wegen der damit verbundenen massivsten Entwertungen und Ängste für unbegehbar
und unvorstellbar hielt, und ich ihr Auswege und Alternativen aufzuzeigen
suchte, landete sie aufgrund des nächsten Spaltungsmechanismus der totalen Entwertung
in der nächsten Sackgasse - und so ging das weiter und weiter. Es war für beide
Seiten eine hoffnungslose Situation, in der Veränderungen und
Weiterentwicklungen nicht möglich waren. Mein anfänglicher Ärger auf sie als Wiederspiegelung ihrer frühkindlichen Beziehungssituation,
weswegen sie sich als Kind eher auf die Zunge biß als ihrer Mutter irgend etwas
zu sagen, schlug in Resignation um. Die einzig Möglichkeit sehe ich in einem
solchem Falle im Stillstand und einer genauen Betrachtung des Spaltungsdenkens
und -wahrnehmens mit den verschiedenen verleugneten, projizierten und
verschobenen Facetten - ein allerdings oft sehr schwieriges Unterfangen. Zur
Abspaltung ihrer Ängste befand ich mich in einer haarsträubenden Falle. Infolge
der Verleugnung und gleichzeitigen Hochspielung wurde vieles als besonders
schlimm bewertet und erlebt - laufend fiel das Wort "schlimm", für
Dinge, die ich häufig für normal hielt. Für andere als normal geltende Inhalte
unterlagen der Katastrophenbewertung. Die Dinge wurden sozusagen auf den Kopf
gestellt. Und wenn andere so "schlimm" handelten, drückte sie sehr
deutlich ihre Empörung über die Verletzungen ihres als absolut angesehen Rechts
aus. In solchen Situationen denke ich häufig an den Kampf des Don Quichotte. An
ihr spürte ich den Mechanismus der Projektiven
Identifizierung besonders deutlich, der Einflußnahme durch eigene projizierte Anteile auf den anderen, diesen sozusagen mit
sich selbst von innen zu regieren. Sie war auch diejenige mit den harmlosen
Fragen.
In
Zusammenhängen, wo Psychosen oder psychosenahe Persönlichkeitsstörungen (Borderline) auftreten können, wird nach meinen
Erkenntnissen mit den Abspaltungen so umgegangen, daß die Mitglieder sich nie
nach innen und außen festlegen (definieren). Wenn versucht wird, sich oder den
anderen auf einen Inhalt oder ein Gefühl zu definieren, wird sofort ein anderer
Inhalt als die objektive, einzig wahre, unverrückbare Wahrheit hingestellt,
sodaß der Aufspaltende ebenso wie der Außenstehende völlig verwirrt oder
verrückt werden kann oder sich völlig abkapselt und absperrt. Bei den
Gleichsetzungen der inneren und äußeren Welt kann es keine unterschiedlichen
Gedanken, Wünsche, Interessen und Positionen geben, sodaß z.B. die Eltern die
Gedanken ihres Kindes zu wissen meinen, ohne es nötig zu haben zu fragen.
Ebenso meint das Kind, die Eltern wüßten seine Gedanken oder, es habe keine
eigenen Gedanken, dies seien die Gedanken anderer. Dabei können Teil- und
Totalidentifikationen von einer Person auf die andere verschoben ( verrückt ) werden - oft in der
Generationsfolge z.B. von der Tante auf die Tochter oder dem Großvater oder
Onkel auf den Sohn, auch mit wechselnder Geschlechtidentität. Im Falle des
vermeintlich drohenden Zerfalls des Systems wie Trennungen oder potentielle
Loslösung eines pubertierenden Mitgliedes, besteht die Neigung der Aufspaltung
in Kranke und Gesunde, Normale und Verrückte bzw. der Rollenübernahme eines
Verrückten. Die Familie ist dann in der Sorge um den Kranken und in den
Bemühungen um dessen Gesundung wieder vereint.
Bei einem
derartigen Patienten erlebe ich im therapeutischen Prozeß, daß der Patient
völlig abgehoben über sich oder Sekundärphänomene und -personen redet,
allgemeine Zusammenhänge oft recht treffend oder Transzedentales
darstellt, sich jedoch nie konkret festlegt. Er geht der
konkreten Realität der Aneinanderreihung von persönlichen für ihn
unvereinbaren Inhalten, Gefühlen und Ereignissen aus dem Wege. Obwohl er sich
augenscheinlich bemüht, endlose Träume beibringt, deren Betrachtung viele
Stunden in Anspruch nähme, werde ich in der Gegenübertragung in meiner inneren
Reaktionsweise auf ihn immer ungeduldiger und ärgerlicher. Es findet sich
nichts greifbares, über das ein konkreter Dialog geführt werden kann.
Gelegentlich findet sich ein Einstieg, wenn Worte wie "absurd" oder
"bekloppt" fallen. Beim Nachhaken ergeben sich Bewertungen einer
bösen Umwelt oder eines bösen Selbstbildes für Inhalte, die ich aber als recht
normal ansah. Ich persönlich sah das Böse mehr in der Bewertung. Überhaupt
sind "normal" und
"anormal" häufig verwendete Bezeichnungen in diesem
zwischenmenschlichen Zusammenhang. Im Spaltungskontext finden sich oft Umdefinitionen gegenüber sogenanntem
Normalen, dem Zeitgeist entsprechenden Überzeugungen. Normales wird als
verrückt bezeichnet und verrücktes normal. Die Therapie kann sich über Hunderte
von Stunden ohne greifbare Fortschritte hinziehen. In einem Fall endete die
Therapie erst, als der Patient sich in seiner Verzweiflung ins Rotlichtmilieu
stürzte und die Stunden nicht mehr bezahlen konnte.
Steht der
Patient unter massiven Angstdruck, ein drohendes undefinierbares Unheil
erwartend, z.B. alles falsch zu machen, wobei das Falsche nicht näher
definierbar ist, gehen die Ängste leicht in das Gegenüber wie den Therapeuten
über. - Das Falsche sind meist potentielle autonome Entwicklungsschritte und
Veränderungen, die von den Angehörigen, von denen er extrem abhängig ist und
deren Definitionen er teilt, entsprechend der kontextuellen Rollenverteilung
als falsch definiert werden. - Wenn der Therapeut die Ängste nicht deutlich im
Patienten wahrnimmt, vielleicht weil sie nicht genügend gezeigt werden, sondern
in sich selber und mitüberrollt wird, kann er zum Handlungsdialog neigen,
Medikamente geben, andere vermeintlich größere Experten einschalten oder in die
Klinik einweisen. Der potentielle Entwicklungsschritt ist zunächst vereitelt.
Mir passierte es schon, daß ich von verschiedenen Seiten angerufen wurde, dem
Vater, Bruder, Freund und Psychiater, die alle auf mich einwirkten, doch
endlich den Patienten in die Klinik einzuweisen. In dieser Familie leiden
alternativ der Vater oder der Sohn unter Alkoholismus.
Im Falle
eines engen Beziehungskontextes wie einer Familie mit gemeinsamen Bildern und Abwehrmechanismen
benötigt jeder jeden als Träger seiner abgespaltenen Anteile. Durch den
gleichzeitigen Kampf um Rehabilitation entsteht meist eine heillose
Zerstrittenheit. Es spielen sich Zyklen ein, wo jeder jeden anklagt, jede
Anklage zu Rechtfertigung führt und jede Rechtfertigung die Anklage bestätigt -
sonst wäre ja nichts zu rechtfertigen. Die Projektion der negativen Anteile
nach außen zur Erhaltung des narzißtischen Familiengleichgewichtes und der
-harmonie erscheint noch als eine günstige Lösung, allerdings mit dem Nachteil,
daß Autonomieschritte in die "böse" Umwelt schlecht möglich sind und
die Familie aufeinander angewiesen bleibt. Von außen an die Familie herangetragene Veränderungen wie Schulpflicht des Kindes,
Beruf oder Heirat stellen durch die neuen Einflüsse und Bilder eine äußerste
Belastung für den Kontext dar und werden häufig auf dem Wege der psychischen
oder körperlichen Erkrankung gelöst. Infolgedessen ist eine
psychotherapeutische Arbeit mit Einzelmitgliedern oft äußerst schwierig, kommt
meist nicht zustande bzw. erreicht keine nachhaltigen Veränderungen des status quo, da sich der gesamte Zusammenhang gefährdet
sieht und selbstverständlich dagegen arbeiten muß. Man könnte auch einfach von dysfunktionalen anstatt von (eu)funktionalen
Zusammenhängen sprechen, wo die Bezogenheit so
wäre, daß jeder sich und dem anderen genügend Spielraum ließe und jeder in sich
und dem anderen seine eigenen guten und negativen Seiten, Vor- und Nachteile
achtete - anders ausgedrückt, eine "positive Gegenseitigkeit" im
Gegensatz zu einer "negativen Gegenseitigkeit".
Ein weit
verbreiteter Spaltungsmechanismus betrifft die Geschlechtszugehörigkeit, nicht
im biologischen sondern im sozialpsychologischem Sinne, Mann und Frau, männlich
und weiblich. Im Konstrukt des
"Penisneides" wird die Spaltung in Haben (Penis) und Nichthaben
aufgeteilt in Stärke, Härte, Überlegenheit versus
Schwäche, Weichheit und Unterlegenheit, so als ob nicht jedes Geschlecht beide
Seiten verkörpere, schwache und starke Eigenschaften und die Frau anstelle
eines Penis eine Vulva besitze. Oft wird gerade mit der Schwäche der andere
dominiert, weil man ja bei Schwächen unbedingt helfen muß, so daß Schwäche
gleich Stärke ist. Dazu ein Versprecher einer Mutter "...seitdem ich mit
meiner Depression die Familie regiere". Das Leben mag dann aus der
Schwäche- und Unfähigkeitsposition leichter und angenehmer sein. Modernere
Untersuchungen schufen den Begriff des "Gebärneides" in der Umkehrung
des Penisneides, wobei umgekehrt die Männer nicht sehen, was sie haben und
können, sondern nur was sie nicht können. Als paradoxe Reaktionsbildung findet
teils eine Umkehrung statt. Männer werden schwach, weiblich, Frauen stark,
männlich bis zur Geschlechtsumwandlung in der Transsexualität.
Wie oben bereits dargestellt führt das
Spaltungsdenken zu schwer auflösbaren zwischenmenschlichen Verstrickungen und
Konflikten. Der wesentlichste der Auflösungs- bzw. Erlösungsversuche ist die
Spaltung selbst. Das Ziel ist, in diesen Verstrickungen aus mehr- und
vieldeutigen Tatbeständen Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen. Das Streben
gilt dem einzig Guten, Wahren und Richtigem, dem Freisein von Sünden, Fehlern
und Schwächen. Ursache, Folge und Lösung sind also ein und dasselbe
und beinhalten Widersprüche und Paradoxien. Diese Freiheit ist folglich
paradoxerweise ein einziges Gefängnis. Durch die Unterdrückung von Teilaspekten
und ganzen Personen fühlen diese sich übergangen, können sich nicht entfalten
und melden sich erst recht zu Wort - in welcher Form auch immer. Es ergeben
sich die beschriebenen Kreisläufe.
Ein
weiterer Versuch aus subjektiven Tatsachen objektive Tatbestände zu schaffen,
ist die Verwissenschaftlichung von Menschen und Dingen. Die Gefahr der
Objektivierung ist die der aufspaltenden Gleichsetzungen. Oftmals wird die
Wissenschaft wiederum nicht ernsthaft anerkannt, weil bekannt ist, daß
vorherige Annahmen durch die Versuchsanordnungen nachher im Ergebnis wieder
gefunden werden (sich selbst erfüllende Prophezeiung). Dann kann sich ein
Kreislauf von Beweisen und Widersprüchen und erneuten Beweisen ergeben -
ähnlich den Kreisläufen bei der Gleichsetzung von subjektiv und objektiv.
Hier soll der Wert der Wissenschaft keineswegs in Frage
gestellt werden, sondern nur auf den Einfluß der Spaltungsmechanismen
hingewiesen werden.
In der
Medizin ist ein (Er)Lösungsversuch, die verdrängten, verschwiegenen und
unreflektierten zwischenmenschlichen Konflikte, also den ganzen
zwischenmenschlichen, so angesehenen "Schmutz" in einer sauberen,
klaren, naturwissenschaftlichen, technokratischen Diagnose und Behandlung
münden zu lassen. Die Klagen über die unmenschlichen Folgen sind
allgegenwärtig. Um Klarheit und Eindeutigkeit im Ergebnis vorwegzunehmen,
besteht die Neigung zu überlangen Ausbildungen (z.B. in der Psychoanalyse),
wobei das Größenbild des perfekten Psychoanalytkers,
der allein schon durch den Aufwand und die Länge seiner Ausbildung dem Wissen
verpflichtet ist, geschaffen wird, perfekten Vorbereitungen wie z.B. einer
Trainingsvorbereitung im Sport. Beim Sport werden gerade durch die Überhöhung
des Zieles, der Angst vor dem Versagen und den Verhinderungsstrategien die
Ängste bestätigt.
Klinische
Implikationen
Sind die Bedrohungen nicht so
tiefgreifend und existentiell, können sie integrativ mehr oder weniger in einer
Person verarbeitet werden, d.h. eine Person nimmt seine verschiedenen, auch
widersprüchlichen Bilder, Gefühle und Reaktionsweisen - das wäre auch das Ziel
einer psychoanalytischen Arbeit - in sich wahr. Sind die Realitätskonstruktionen
der Bedrohungen existentiell und tiefgreifend, besteht die Neigung zu
aufspaltenden Mustern wie Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung,
Introjektion und digitalen Verhaltensweisen mit Entdifferenzierungen in der
Zeitdimension (früher = heute und heute = immer) und der Aufspaltung der
Eigenschaften auf verschiedene Personen. Mehrere Personen gehören dann wie eine
Person zusammen, bilden eine narzißtische Einheit und sind voneinander
existentiell abhängig.
Dazu möchte ich 2 Beispiele aus
meinen Psychiatrieerfahrungen anführen. Mir ist noch deutlich ein trauriges Bild
vor Augen, nämlich eines seit seiner Jugend hospitalisierten inzwischen über 50
jährigen Langzeitpatienten, der täglich als fettes, hilfloses Wrack am Arm
seiner 80 jährigen, sehr robust und gesund wirkenden Mutter durch den Klinikpark
geführt wurde. Wie in den Akten minutiös nachzulesen war, war sein jugendliches,
damals als psychotisch definiertes Aufbegehren systematisch mit Elektro- und
Insulinschocks und Medikamenten niedergeknüppelt worden. Es wurde genau
beschrieben, wie er winselnd sich unter dem Bett zu verstecken suchte. Trotz
auftretender Fettsucht und Spritzendiabetes und entgegen der Verbote der Ärzte,
war er heimlich von der Mutter zusätzlich zur Klinikkost gefüttert worden. Ich
halte dies für ein trauriges Beispiel einer Aufspaltung von psychischer und
körperlicher Krankheit auf zwei, eng miteinander verwobenen Personen, die
gemeinsam eine Einheit bilden.
Bei einer ca. 50 jährigen sogenannten
Jammerdepression, um die jeder wegen ihrer ewigen Jammerei ohne jegliche
Hilfsmöglichkeiten einen größtmöglichen Bogen schlug, war ein knapp
kirschgroßer, gutartiger Tumor am Hals festgestellt worden. Nach der kleinen
Operation bis zum Ziehen der Fäden 1 Woche lang war sie völlig umgewandelt,
zugänglich und gesprächsbereit. Danach war alles beim alten. Offenbar fühlte sie
sich endlich als Kranke ernst genommen. Dieses Beispiel mag erklären, warum
viele lieber körperliche Erkrankungen, Operationen, ja einen lebensbedrohlichen
Herzinfarkt in Kauf nehmen, denn dabei sehen sie sich ernst genommen und sind in
ihrem psychischen, narzißtischen Gleichgewicht, als sich und anderen psychische
Schwierigkeiten einzugestehen, die darüber hinaus als existentielle Schmach
und Schande bewertet würden. Die psychische Stabilität hat häufig Vorrang vor der
körperlichen Gefährdung. Außerdem werden die Ängste und Sorgen im
Abspaltungsmechanismus an die Umgebung delegiert und von ihr als Sorge um die
Gesundheit des Kranken ausgelebt, die sich wesentlich mehr Sorgen macht als der
Kranke selbst, wie ich bei organischen Erkrankungen erlebt habe.
Je existentieller die narzißtische
Entwürdigung erlebt bzw. infolge der Verleugnung nicht erlebt wird, desto höhere
kompensatorische Größenbilder dienen als Maßstab des Selbst, so daß die (in den
Augen anderer) kleinsten Schwächen als tiefe Abstürze erlebt werden. Gerade der
tief narzißtisch Gekränkte erhebt das Bild von Souveranität und Unabhängigkeit
zum Idealselbstbild. ( Z.B. wirbt die Zigarettenindustrie mit diesem Bild für
ihre Produkte und verkauft damit nach allgemeiner ärztlicher Überzeugung
Krankheit. Oder die sogenannte Phallische Frau verzichtet um des
Unabhängigkeitsbildes willen auf libidinöse Genüsse. ) Das frühkindliche
existentielle Ausgeliefertsein wird als die größte Kränkung erlebt. Das
Größenselbst wird dadurch bei der Konfrontation mit den unausbleiblichen
normalen Anpassungs- und Verinnerlichungsvorgängen der Sicht- und
Reaktionsweisen der Primärpersonen, dem totalen Ausgeliefertsein an diese,
zutiefst getroffen. Es würde als innere Korruption, verbunden mit tiefen Scham-
und Kränkungsgefühlen aufgefaßt, sozusagen um des Preises des Verlustes der
Würde basale Sicherheit und gleichzeitig Abhängigkeiten gesucht zu haben. Eine
meiner Patientinnen sprach mir gegenüber von ihrer eigenen Auslegung von
Anbiederung, Kapitulation als Schwächeeingeständnis - wobei sie anfangs
projektiv ihre Ängste vor den Auslegungen anderer äußerte. Der an sich normale
Verinnerlichungsvorgang eines jeden Menschen wird somit zu einer mehr oder
weniger grandiosen Kränkung und Scham. Das Größenbild lebt als oft unbewußte
innere Realität fort. Zur Erhaltung der psychischen Würde und Souveranität
werden dann sogar meiner Ansicht nach unbewußt körperlich existenzbedrohende
Erkrankungen in Kauf genommen.
Silvia Amati beschreibt ähnliche
Vorgänge von ihren Analysen von Gefolterten. Der heftigste Widerstand wurde bei
der Wahrnehmung der inneren Vertrautheit und des Paktes mit den Folterern, dem
an der Grenze zwischen der Identifizierung mit dem Aggressor und der
Individuation entstehendem Schamgefühl, entgegengesetzt. Offenbar wird das
Individuum auf der Stufe des existentiellen psychischen und körperlichen
Überlebenskampfes auf die Stufe des Kleinkindes zurückgeworfen, in der
automatische Identifikationen, so als ob es keine eigenen Bilder und
Identifikationen gäbe, mit den Überzeugungen anderer stattfinden. Man muß davon
ausgehen, daß Folterer von der Rechtmäßigkeit ihrer Taten überzeugt sind.
Ansonsten wären sie nicht so überzeugend. Anklingende Zweifel werden sie eher in
eine Überhöhung der Rechtmäßigkeit, zu einem Bollwerk des Rechts, umwandeln.
Möglicherweise lassen sich daraus als Teilaspekt die langjährigen Auswirkungen
ähnlich wie bei einem Kleinkind erklären.
Noch heftigere Widerstände gegenüber
Aufdeckungen würde ich bei den die Grausamkeiten ausübenden Folterern vermuten,
die in der Identifikation mit früheren Aggressoren ihre selbsterlebten
Mißhandlungen, für wahr, rechtmäßig und richtig angesehen, als Rache an den
Primärpersonen sozusagen stellvertretend an ihre Opfer weitergeben. Ebenso
könnte man die Mißhandlungen von Eltern an ihren Kindern ansehen. Diese haben es
somit entsprechend dem Gleichheitsgrundsatz in der diachronen Zeitfolge nicht
besser als sie selbst.
Schwere narzißtische und psychosenahe
Persönlichkeitsstörungen werden häufig im Sinne einer Tatsachenzuschreibung
(Vorstellung = Realität) als "Frühkindliche Störungen" angesehen. Dies wird als
Gefühlsstörung gesehen, als Folge eines nicht verinnerlichten basalen
Sicherheits- und Geborgenheitsgefühls gedeutet, zurückgeführt auf Trennungen,
wechselnde Primärobjekte, übermäßige Ängstlichkeit und Zwanghaftigkeit der
Primärperson, meist der Mutter. Da dies im vorerinnerbaren Alter stattfindet,
sind konkrete Erfahrungen und Bilder nicht faßbar und somit nicht korrigierbar,
höchstens durch eine längerfristige, stabile korrigierende emotionale
Beziehungserfahrung wie z.B. in einer Psychoanalyse. Diese Vorstellungen spielen
sicherlich eine Rolle als Erklärungsmodus.
Nach meiner Erfahrung gehen von
Angst-, Sorgen- und Aggressionsbildern verursachte Spannungen der Primärpersonen
in den Säugling und das Kleinkind über. - Selbst bei Erwachsenen gehen
Spannungen des einen in den anderen oder in Gruppen über, auch ohne die zugrunde
liegenden Bilder, oft sogar dann vermehrt, weil sie nicht konkret faßbar und
korrigierbar sind. - Das Kind erlebt nur die Spannungen, nicht die zugrunde
liegenden Bilder. Diese sind ihm unbekannt und im frühen Alter auch kaum
verständlich. Bei ihm liegt noch keine eigene Bilderwelt vor, die erst mit
zunehmender Reifung aus eigenen Erfahrungen und synonym mit der vermittelten
Bilderwelt entsteht. Auf diese Spannungen mag es mit Strampeln oder Schreien
reagieren und, falls es nicht die Ruhe findet, mit Essensverweigerung oder
Krankheitssymptomen wie Pylorospasmus oder Magen-, Darmverkrampfungen und
-entzündungen oder von seiten der Haut wie Neurodermitis. Es mag sich ein
symmetrischer, sich gegenseitig steigernder Kreislauf einspielen. Die Mutter
nimmt zwar das Schreien und die Symptome des Kindes wahr, kann aber die Gründe
im Kind nicht finden - da diese ja nicht beim Kind, sondern bei ihr liegen -
oder mag Fehlerklärungen wie Hunger, falsches Essen oder Zuwendungsbedürfnis
heranziehen. Das Fehlschlagen ihrer Bemühungen beunruhigt sie vermehrt, und das
Kind gerät in vermehrte Spannungen - ein tragischer Kreislauf. So kann das Kind
der Symptomträger der unterdrückten Spannungen der Primärpersonen sein, die oft
aus ganz anderen Bereichen wie Konflikten der Mutter oder der Eltern in sich
selbst, etwa falsch zu handeln, in den Partnerkonflikten oder Konflikten zu den
Groß- oder Schwiegereltern, etwa um die richtige Erziehung stammen. Ähnliche
Kreisläufe und gegenseitige Beeinflussungen, wobei einer der Symptomträger
anderer sein kann, können meines Erachtens in jedem Alter stattfinden. Da die
Primärpersonen sich später nicht wesentlich ändern und ihre Bilder weiterhin
artikulieren, bestehen noch später Möglichkeiten, diese und somit die
Hintergründe der Spannungen zu erfassen.
Trotzdem führe ich persönlich diese
Störungen noch mehr auf ein verinnerlichtes Spaltungsdenksystem zurück und als
Folge einer inneren Zerrissenheit in den einzelnen Primärpersonen und zwischen
ihnen, das kaum basale Sicherheit vermitteln kann. Dadurch bleiben die Kinder
extrem von den Primärobjekten oder entsprechenden Ersatzobjekten und umgekehrt
diese als ebenfalls Basal-Gestörte von ihnen abhängig, also eine gegenseitige
Abhängigkeit. Da sich die Denk- und Handlungssysteme ohne fundierte Betrachtung
kaum verändern, findet die erneute Etablierung und gegenseitige Beeinflussung
immer wieder statt. Eine Mutter mag dann als Retterin ihrer Tochter erscheinen
für die Ängste, die sie selber hervorgerufen hat und durch die Rettung
hervorruft - oder umgekehrt. Da aus diesem Teufelskreis kaum herauszukommen ist,
macht sich Hilfs- und Hoffnungslosigkeit hinsichtlich eines ruhigen, geachteten
autonomen Lebens breit.
Infolge des als Reaktionsbildung auf
Entwertungen vorhandenen Größenbildes bzw. Idealselbstbildes können
Betroffenheit und Gefühle sich selbst und der Umgebung kaum zugestanden werden.
Äußerlich tritt ein Bild von Souveranität und Unabhängigkeit in Erscheinung,
fern von allen menschlichen emotionalen Schwächen. So mag ein Herzinfarktpatient
den Interviewer auf der Intensivstation in königlicher Würde empfangen und
vorübergehend gnädig sein Ohr den Wünschen des Arztes entleihen, wie ich hörte
und las. Oder ein Aidskranker scheucht das Personal mit seinen Extrawünschen
über die Station, das in der obligatorischen Helferhaltung zähneknirschend den
Ärger unterdrücken und zusätzliches Personal anfordern muß. In einer derartigen
Situation und mit soviel Krankheitsgewinn wird sich der Kranke kaum seine in
seinen Augen entwürdigen Konflikte eingestehen - lieber sterben, als das Gesicht
verlieren - ein Beispiel für Gefühlsdelegation und -abspaltung in existentieller
Not.
Im folgenden möchte ich Beispiele
anführen, wie sie wohl jeder Analytiker kennt, daß bei Betrachtung der
Hintergründe und Zusammenhänge Entwertungsbilder in Aufwertung umgewandelt
werden können.
Eine Studentin - sie war in ihrer Herkunftsfamilie stark entwertet worden und
hatte ihre Autonomie nach der Trennung vom Elternhaus mit Alkohol, depressivem
Rückzug und Studienversagen sabotiert, andererseits hatte sie zur Kompensation
eine phallische Linie eingeschlagen mit Motorradfahren, männertypischem Studium
und dem Bestreben, größere und stärkere Männer unter den Tisch zu saufen -
berichtete mir von ihrer Überzeugung, daß ihr Freund sie deshalb nicht zu seinen
Freunden mitnehme, weil er dann ungestört über sie "herziehen" könne. Während
ich das recht hübsche Persönchen betrachtete und eingedenk dessen, was sie mir
von ihm und seinem familiären Hintergrund berichtet hatte, kam mir der Gedanke,
daß wohl eher im Gegenteil Freunde an ihr Interesse haben könnten, und er sich
infolge seiner Unsicherheiten, etwa aus Verlustangst und Eifersucht, die er
allerdings ins äußere Gegenteil umwandelte, sich ihrer nicht sicher sein konnte.
Naturgemäß war es unter anderem dadurch zu Zerwürfnissen gekommen. Sie besprach
das mit ihm, er gestand dies zu und beide lachten sich an - er allerdings recht
unsicher. Bei dem Beispiel kommt ebenfalls zum Ausdruck, daß sie mit ihrer
Selbstentwertung seine Selbstentwertung kompensierte, sozusagen mit sich selbst
den Defekt des andern stopfte, weswegen er vorher nicht seine Karten offen
gelegt hatte. Weiterhin zeigt sich, daß durch eine differenzierte
Hintergrundsbetrachtung wie in einer Therapie die Schwächen des anderen
bloßgestellt werden können. Deswegen haben Partner und Eltern oft etwas gegen
eine Therapie, versuchen oft durch Fragen die Therapie zu kontrollieren, weil
ihre Schwächen und Fehler aufgedeckt werden könnten. So mag der Kampf
weitergehen, wenn der andere nicht ebenfalls in seinen Schwächen durch
Differenzierungen gestärkt wird, etwa durch eine eigene Therapie oder durch eine
verständnisvolle und akzeptierende Haltung des Patienten, der in der
gegenseitigen Akzeptanz große Fortschritte gemacht hat. Darin sehe ich eine
potentielle Schwäche der Einzeltherapie und Möglichkeiten der Allparteilichkeit
in der Paar- und Familientherapie.
Eine Sozialpädagogin sah sich in der
neuen gemeinsamen Eigentumswohnung völlig entrechtet, da ihr Partner infolge
höherer Einkünfte und eines besseren finanziellen Familienbackgroundes einen
höheren Beitrag beim Erwerb leisten konnte. Durch ihre Einfälle kam sie auf die
Wiederholung der Position ihrer Mutter, die in das Haus des 2.Ehemannes
eingeheiratet hatte, sich dort als Eingeheiratete völlig rechtlos sah und ewig
in ihren Augen erfolglos um ihre Rechte kämpfte. Besonders ungerecht empfand die
Patientin, daß nach dem Tode der Mutter die nächste nicht geehelichte Partnerin
des Vaters als Mitbesitzerin und Erbin eingetragen wurde. Sie sah nicht, daß
ihre Mutter als Ehefrau und Erbin alle Rechte besaß und überflüssigerweise
kämpfte, dagegen die nächste Partnerin ungeehelicht eingetragen werden mußte.
Auf meinen Einwand, warum der Stiefvater möglicherweise mit dem Rücken an der
Wand das Haus als Trumpf einsetzte, gestand sie zu, daß die Mutter ihn als
"Waschlappen" und "Muttersöhnchen" aufgrund des bestehenden Einflusses durch die
Schwiegermutter betrachtet hatte.
Bei der Partnersuche und -findung
wird häufig die Desinteresse oder sogar Mißachtung des anderen als Entwertung
der eigenen Person gedeutet und empfunden. Bei Betrachtung des potentiellen
Hintergrundes sieht es oft umgekehrt aus. Der andere mißachtet sich oft selber,
sieht sich in einer unteren, schwächeren Position und versucht durch die
Abwertung des anderen sich selbst aufzuwerten. Die so empfundene Kränkung
wandelt er in eine Kränkung des Gegenübers um. Mißachtung kann also
Hochachtung bedeuten. Dieser Zusammenhang spielt sich oft schon bei kleinsten
Begegnungen wie bei Blickkontakten auf der Straße ab, so daß jemand bei
Kontaktaufnahmeversuchen völlige Desinteresse vorgibt, wenn er sich selbst als
uninteressant in den Augen des anderen ansieht. Bei der Frau-Mann-Beziehung
spielt das Pars-pro-toto-Entwertungsdenken bei vielen Frauen "der will sowieso
nur das Eine!" zusätzlich eine gravierende Rolle. Dazu ist sie sich zu schade,
auch wenn sie noch so sehr wollte. Wenn ich mit meinem fröhlich herum
springenden Hund joggte, ist es mir mehrfach passiert, daß eine junge Frau
lächelnd mit Wohlgefallen auf den Hund schaute. Sobald sie zu mir guckte,
verschwand abrupt das Lächeln, und ich dachte, sie dachte, ich solle nicht
denken, daß sie was von mir wolle.
Gravierende Rollen- und Loyalitätskonflikte erlebte ich
wiederholt bei Aufsteigern aus sogenannten niederen zu höheren
Gesellschaftsschichten wie Akademikern aus Arbeiter- oder Handwerkerfamilien.
Die Mutter eines Patienten mißachtete ihren Ehemann als Handwerker und
beanspruchte für ihren Sohn nur das Beste. Wenn er das Beste, nämlich ein Eins
in der Schule nicht erbrachte, antwortete sie mit einem "leidenden" Gesicht und
heftigsten Vorwürfen. Der Vater wiederum mißachtete den akademischen "Spleen"
seines Sohnes infolge der erzeugten Rivalität und bewies diesem, so gut er nur
konnte, seine Unfähigkeiten vor allem im handwerklichen Bereich, so daß der Sohn
sich dort nichts zutraute. Nach einer vorübergehenden Phase der schulischen und
Studienerfolge und des intellektuellen Triumphes über den Vater versagte er beim
Studienabschluß völlig. Der massive Erfolgsdruck, die provozierte
Verweigerungshaltung - Druck gleich Gegendruck - , der widersprüchliche
elterliche Auftrag und die verinnerlichten Ängste vor dem Versagen bei
gleichzeitiger Anspruchshaltung als Mutters Größter, die sich in massiver
Mißachtung von erfolgreicheren Studienkollegen äußerten, mußten früher oder
später, meist an der Grenze zum nächsten Autonomieschritt zu einer Paniklähmung
führen. Im Wechselspiel der Beziehung zum Schwiegervater, ebenfalls eine
Handwerkerfamilie, wurde das Achtung- und Mißachtungsverhältnis analog zum Vater
deutlich. Der Schwiegervater beschimpfte ebenfalls zur Kompensation seiner
Neidgefühle alle Akademiker. Auf dem Hintergrund der Schichtloyalität wurde als
Kompromiß eine Arbeit bei der Gewerkschaft gewählt.
Im folgenden möchte ich auf
verbreitete typische Idealbilder eingehen, die zu Opferhaltungen und brisanten
Konflikten führen. Einmal das "Gute-Mutter-Bild": Die Gute Mutter ist für alle
immer da, zu allen Opfern um ihrer Familie und Kinder willen bereit, liebt alle
im guten wie im bösen um jeden Preis und vergißt ohne Grenzen sich selber. Sie
kommt zuallerletzt. Aufgrund ihrer Sorgen und Besorgnis, die sie für Fürsorge
und Liebe hält, läßt sie ihr Kind, das aufgrund der Sorgen der Mutter - die um
ihr narzißtisches Idealbild und die potentiellen Vorwürfe der Umgebung fürchtet
-, die als Ängste und Sorgen in es übergehen, nicht zur Ruhe kommt und sich vor
dem Alleinsein fürchtet, Nacht für Nacht in ihrem Bett möglichst noch zwischen
sich und ihrem Mann schlafen. Sie muß auf ihre Nachtruhe und Sexualität
verzichten. Sie kann nicht arbeiten und abends nicht ausgehen. Als Ausgleich für
ihre Aufopferung erwartet sie dasselbe von Mann und Kindern, wobei sie die
Inhalte bestimmt, so wie die Inhalte ihrer Aufopferung vorbestimmt waren. Wehe!
Die geringste Kritik oder nur Infragestellung weist sie mit heftigsten Vorwürfen
zurück und beantwortet sie mit eigenem Leiden wie z.B. Herzbeschwerden. Sie
erntet Trotz und heftigste Autonomiekämpfe und muß aufgrund der Enge und
Zerstrittenheit fortwährend den Zerfall der Familie fürchten und mit verstärktem
Leid zusammenhalten - eine oft lebenslange Tragödie.
konnte bei einer Patientin
herausgearbeitet werden, daß ihr Kinderwunsch infolge der
Aufopferungsrealitätskonstruktion ihrer Krebsangst entsprach. Durch das Kind und
ihre vermeintliche ewige Sorge und Verantwortung wurde sie sozusagen wie vom
Krebs von innen aufgefressen.
Das Aufopferungsbild führt zum Familienmythos der gegenseitigen Aufopferung. Es gilt nicht das Motto "jeder sorgt für sich, dann ist für alle gesorgt", sondern "einer für den anderen", wobei jeder die Verantwortung für sich dem anderen zuschiebt bzw. an ihm erlebt, so wie er die Verantwortung für den anderen übernimmt. Scheidet einer aus diesem symbiotischen Zusammenhang aus, besonders in einer Dualunion, ist der Lebensaufbau gefährdet oder der Lebenssinn verloren. Sein Leben ist in höchster Weise gefährdet wie z.B. bei alten Ehepaaren, wo einer dem anderen nachstirbt. - Häufig ist auch, daß der andere nach dem Tode auflebt, jetzt endlich die Freiheit zu haben. Ein vorweggenommenes Resultat müssen Todeswünsche sein. - In diesem Kontext lernt niemand, ein autonomes Leben zu führen, da jeder die Verlustängste verinnerlicht hat. Das Alleinsein wird als schrecklichster Zustand und als größte Angst erlebt, und im Sinne einer Realitätskonstruktion wird häufig danach gelebt.
Eine häufige
Verhinderungsstrategie der Verlustangst, die Anklammerung, beinhaltet den
Doppelmechanismus der gleichzeitigen Abstoßung, und stellt für beide eine Falle
dar. Schließlich wird es dem Umklammerten zu eng, und er muß das Weite suchen.
Die Abhängigkeit vom anderen wird oft als eine Demütigung erlebt und die
Unabhängigkeit, nach der ewig erfolglos gestrebt wird, erfolglos, weil sie aus
Angst vor der Einsamkeit nicht wirklich angestrebt wird, als das höchste Ziel.
Man könnte das Abhängigkeitsbild auch als eine Art der Personenverwechslung
ansehen. Man wähnt sich von anderen oder einer bestimmten Person abhängig, wobei
der andere lediglich ein Auslöser für die Abhängigkeit von den eigenen Bildern
ist, die am anderen erlebt werden - insofern ein projektives Geschehen. Seine
Anwesenheit ist eine Beruhigung für die ansonsten entstehenden Ängste. Falls in
diesem labilen Gleichgewicht der Verlust erlebt oder auch nur als
Realitätsvortstellung phantasiert wird, kann Krankheit, vor allem chronische
körperliche und psychische Erkrankungen, und Tod die Folge sein.
Im typischen gesellschaftlichen
Opferkontext opfern sich die Frauen für Heim und Familie - die drei großen K -
Kirche, Kinder, Küche -, die Männer für Volk und Vaterland auf.
Der Opferkontext liegt dem
Anpassungskontext nahe bzw. stellt denselben Inhalt mit verschiedenen Wörtern
und Bedeutungen dar. Häufig ist es z.B., daß Frauen meinen, sich total ihren
Männern angepaßt zu haben, und ihrerseits daraus eine Rückzahlung der Anpassung
beanspruchen. Meist haben sie die Männer gar nicht gefragt, sondern haben sich
ihren eigenen Realitätskonstruktionen angepaßt, die oft über Generationen
vererbt sind. Es liegt also keine Anpassung an die Männer vor, sondern an sich
selbst, ihre verinnerlichten Bilder und Traditionen. Männer sehen u. U. nur die
nach ihren Vorstellungen handelnden Frauen und können gar nicht die Ursache der
Ansprüche und Enttäuschungsaggressionen verstehen. Meistens kennen sie jedoch
diesen Anpassungszusammenhang von ihrer eigenen Entwicklung und wehren sich mit
"jetzt erst recht nicht!" gegen diese Bevormundung.
Betreffs des Wechselspiels von Opfer,
Rache, Trotz und anderen Mechanismen möchte ich das Beispiel einer Patientin
anführen, die mich wegen Bulimie, Depressionen und diversen psychosomatischen
Symptomen aufsuchte. Sie hatte langjährig unter einer lebensbedrohlichen
Anorexie mit vielen Krankenhausaufenthalten (u. a. in der Psychiatrie
zwangseingewiesen mit Sondenernährung) gelitten. Nach dem Auszug aus dem
Elternhaus aus beruflichen Gründen war dies Krankheitsbild beseitigt. In ihrer
jetzigen Ehe fühlte sie sich auf ihre Trennungsdrohungen hin von ihrem Ehemann
ignoriert und verascht. Sie sah dabei nicht, daß er diese verleugnen mußte
aufgrund eigener Trennungsängste, vor allem bedingt durch die narzißtische
Kränkung und Schande, daß er, der Größte und stärkste Bodybuilder, von seiner
Frau verlassen wurde. Ihre Empfindlichkeit führte sie auf die Beziehung zu ihrem
Vater zurück: Wenn z.B. der Bruder Geld geklaut hatte, beschuldigte der Vater
sie, weil der Bruder von der Mutter gedeckt so überzeugend lügen konnte. Sagte
der Vater "du enttäuschst mich, daß du mich angelogen hast" gab sie den
Diebstahl zu, obwohl sie es nicht gewesen war. Auf die Entschuldigung des
Vaters, nachdem er den Bruder beim Stehlen erwischt hatte und dieser alle
Diebstähle zugegeben hatte, warte sie noch heute. Die Aussage des Vaters "du
bist nicht mehr mein Schatz" sei das allerschlimmste gewesen. Sie hätte nicht
mehr essen und schlafen können, und das sei mit Kriechen und Demütigung "bitte,
bitte, lieb' mich doch!" verbunden gewesen. Heute noch gebe sie aus Angst vor
Streit etwas zu, was sie nicht getan habe. Ähnlich empörte sie sich über in
ihren Augen ungerechtfertigte Beschuldigungen des Intensivstationpersonals, z.B.
die Schläuche zur künstlichen Ernährung heraus gerissen zu haben. Auf ihre Klage
über ihre Einsamkeit, auf der Intensivstation von den Eltern im Stich gelassen
worden zu sein, und meine Frage, ob es nicht eine andere Vertrauensperson
gegeben habe, antwortete sie prompt und trocken "Wie soll man Vertrauen haben,
wenn 12 Magersüchtige mit allen Tricks Eltern und Personal reinzulegen
versuchen?" Sie erlebte sich als Opfer und Sündenbock zur Erhaltung des
Familienfriedens. Die Mutter habe immer behauptet, sie sei trotzig, zickig und
egoistisch, und sie habe es immer geglaubt. In der Anorexie sei sie es gewesen,
vorher nicht. Überhaupt nehme sie alle Zuschreibungen an. Erst bei näheren
Darstellungen kommt heraus, wie sie den Eltern und dem Ehemann mit gleicher
Münze heimzahlt, und alle in einem gemeinsamen Rachezyklus und Versteckspiel
gefangen sind.
Zur Opferhaltung möchte ich ein
makabres und tragisches Beispiel schildern: Einen Patienten verabschiedete ich
von der Therapie mit unguten Eindrücken und Gefühlen. - Damals griff ich noch
viel zu wenig ein bzw. blendete zurück. - Bei seiner Helferhaltung und
unterdrückten Emotionalität schien ich ihm wenig helfen zu können. Von seinen
originellen Bildern und Tagträumen habe ich noch eines in guter bzw. schlechter
Erinnerung. Er sah einen Kreis von Menschen vor sich, in dem jeder seinen Kopf
in den "Arsch" des anderen steckte. Diesen Traum behielt ich so gut, weil ich
ihn für eine zutreffende, wenn auch makabre Symbolik für manche
zwischenmenschlichen Zusammenhänge sah. 2 bis 3 Jahre später rief er mich aus
irgendeinem Grund an und erzählte beiläufig, er sei an Nasenkrebs erkrankt. Ich
dachte spontan "kein Wunder bei diesen Darmgerüchen!". Dieses Beispiel erzählte
ich 2 Medizinern beim Bier. Sie hielten dies für den eindeutigen Beweis der
Psychogenese des Krebses.
Eine Konfrontation mit potentiellen
und partiellen Zusammenhängen kann manchmal zu "Wunderheilungen" führen. So
konnte die Ehefrau eines Patienten ihre ersten beiden Kinder wegen der Gefahr
einer Fehlgeburt nur mit einer Cirklage und nach langen Krankenhausaufenthalten
gebären. Beim dritten traten die Blutungen noch früher und heftiger auf, und es
drohte noch frühzeitiger ein Abort. Als ihr Mann sie auf therapeutische Hinweise
hin auf die Möglichkeit von Ambivalenz gegenüber den Kindern und Ablehnung des
Kindes ansprach, war sie froh, endlich einmal über ihre Aggressionen auf die
Kinder reden zu können. Dies reichte, um dies Kind ohne weitere Komplikationen
zu gebären. Bald entwickelte das Kind eine Neurodermitis, und Vater und Mutter
waren sich in den schlimmsten Ausmalungen der zukünftigen Leiden des Kindes
einig. Auf ihre verstärkten Bemühungen hin verschlimmerte sich die Krankheit.
Als über potentielle Zusammenhänge gesprochen wurden, vor allem der Übergang der
Ängste und Sorgen in das Kind und dessen Hautreaktion als mögliche Folge, taten
die Eltern gar nichts mehr, und die Haut heilte schnell ab.
Eine Patientin erzählte mir, daß sie
mit ihrem jüngeren Sohn bis zu seinem 9.Lebensjahr von Arzt zu Arzt gelaufen
sei, da er unter ständigen Halsentzündungen, schweren Durchfällen litt und
allgemein ganz krank aussah, bis ein Arzt meinte, ob sie nicht eine allzu enge
Beziehung zu ihrem Sohn haben könne. Darauf stellte sie fest, daß sie die ewige
Schmuserei mit ihrem Sohn eigentlich schon lange leid sei, der Sohn es sowieso
nur ihr zuliebe tue. Sie hörte damit auf, der Sohn sei aufgeblüht und gesund
geblieben.
Therapeutische
Implikationen
Ein in entwertenden Bildern
aufgewachsener Patient wird infolge seines Größenbildes eine Therapie als eine
Entwürdigung, Schmach seiner Person, eventuell als selbstverschuldet und
Unfähigkeitsbescheinigung erleben. Die Bloßstellung und Aufdeckung seiner
Anpassungsmechanismen, die ungeprüfte Übernahme der Bilder und Konstruktionen
der Umgebung, die er bei genauerer Überprüfung als verrückt und unsinnig
ansieht, seiner Autoritätsgläubigkeit, von der er sich schon lange losgesagt
glaubte und die er als lächerlich empfindet, ruft jedesmal erneut Peinlichkeit
und Scham hervor, die er seinem Therapeuten persönlich übel nimmt. Er mag sich
durch Schweigen erneuten Bloßstellungen entziehen oder sich rächen zur Korrektur
des Selbstbildes, indem er den Therapeuten zu Hilflosigkeit verdammt, zugleich
als Strafe und Rache, so wie er es immer getan hat und ihm selbst widerfahren
ist.
Eine Patientin schilderte mir, daß
sie jede Stunde fürchte, weil ihre Verachtung und Selbsthaß herauskomme. Genau
das könne sie nicht vertragen, daß sie hier nicht gehaßt und verachtet werde. So
könne sie ihr altes Spiel, was ihr auch Sicherheit verliehen habe, der andere
verachte sie oder verlange etwas verächtliches von ihr, nicht mehr spielen, und
alles liege an ihr selbst.
Die Umgebung wird ebenfalls die
Bloßstellung ihrer Bilder, vor allem ihrer Schuldbilder befürchten und
dementsprechend gegen eine Therapie arbeiten. Schließlich kennen sie es in ihrem
Denken und Glauben nicht anders, als daß die Anteile verschiedener Personen in
einer Person zusammengeführt werden und dieser Eine der Schuldige ist. Dieser
Eine könnte einer von ihnen sein, sodaß durch die Therapie die Rollen neu
ausgehandelt werden müßten, und das schafft Unsicherheit. Außerdem werden sie den
Verlust des Angehörigen - schließlich ist das zwischenmenschliche Klima unerträglich
und ein Trennung nur gar zu verständlich - und ihre eigene Einsamkeit fürchten.
Deshalb sehe ich ein Therapieziel weniger in der Trennung von den Angehörigen -
Trennung nur im Falle, daß überhaupt keine Konsens- und Dialogmöglichkeiten mehr
bestehen -, sondern in der Individuation, d.h. einer inneren Autonomie innerhalb
einer zwischenmenschlichen Bezogenheit.
Falls ein Patient in der
Therapiesituation in Verwirrung oder Zerrissenheit gerät oder/ und die
Verwirrung auf mich übergreift, erlebe ich es häufig wie eine Erlösung, wenn ich
mir in diesem Moment den Zusammenhang zwischen Spaltung und Verwirrung klar
mache, nämlich daß der Patient neben- und nacheinander verschiedene Anteile in sich nicht
zusammenbringt. Vermittele ich ihm diesen Zusammenhang und frage, welche Anteile
es sein könnten oder zähle die mir momentan gegenwärtigen auf, versteht er dies,
ist es für ihn ebenfalls wie eine Erlösung, falls er die Zusammenhänge verstehen
und akzeptieren kann, bzw. falls dieser Zusammenhang überhaupt Raum in seinem
Weltbild hat und in seinen Kopf paßt.
Wenn ich Kriterien versuche zu gewinnen, wann eine Therapie ungünstig oder
hoffnungslos verläuft, so fallen mir außer einer fortbestehenden Diffusion oder
der Kehrseite der Diffusion, der einzementierten Blockadenbildung bzw.
Bollwerkes des Welt- und Selbstbildes zuerst die Mütter ein, die meinen, sich
für ihre Kinder und ihre eigenen Mütter aufgeopfert haben und unter keinen Umständen
bereit sind, sich die Freiheit zu geben, weil sie dann ebenfalls ihren Kindern
die Freiheit geben müßten - überhaupt jeder, der meint, einen hohen Preis
gezahlt zu haben und im Sinne des Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzips eine
Rückzahlung des Preises nicht nur erwartet, sondern beansprucht. Anders
beleuchtet sehe ich es auch so, daß er durch die Fixierung an den anderen nicht
in der Lage ist, sein eigenes Leben konstruktiv in die Hand zu nehmen. Solch ein
Bollwerk der Gerechtigkeit besteht auch häufig bei kriegerischen
Auseinandersetzungen wie aktuell im Golfkrieg. Was die einen als Verbrechen am
Menschen und der Umwelt bezeichnen, müssen die anderen um so heftiger als Kampf
um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, von beiden Seiten als Heiliger Krieg
gesehen, feiern.
Einzeltherapeutische Möglichkeiten sehe ich in der genauen Betrachtung der
aufspaltenden Sichtweisen, Realtitätskonstruktionen, gefühlsmäßigen und
Verhaltensimplikationen mit ihren Folgen. Schwer wird die Arbeit bei Patienten,
die sich kaum festlegen, sodaß kaum konkrete Inhalte zu eruieren sind, immer vor
ihren Ängsten auf der Flucht sind, ohne diese zu definieren, im Extremfall vor
der Angst durchdrehen "alles falsch" zu machen, sodaß Konkretisierungen und
Alternativbilder kaum möglich sind. Ebenso, wenn jemand seine Realität als
Bollwerk der Wahrheit verteidigt und den Zusammenbruch seines Weltbildes gleich
seiner selbst vernichtend fürchtet. Die Vorstellungen und Überzeugungen des
Therapeuten üben wiederum eine große Prägekraft aus, sind aber nur integrierbar,
wenn sie in die derzeitigen Bilder und Integrationsmöglichkeiten des Patienten
passen. So stellt eine Patientin nach längerer Betrachtung fest, daß sie nur vor
den Gedanken anderer Angst hat und alles tut, diese zu vermeiden, die sie selber
als abgrundtief schlimm bewertet. Potentielle andere negative Gedanken würden
ihr gar nichts ausmachen.
Die Wirksamkeit der Therapie tritt ein, wenn der Patient von seinen Sichtweisen
mit den dazu gehörigen Gefühlen und Handlungen - sie müssen nicht immer positiv
und vollbewußt sein - als rechtmäßig überzeugt ist, insofern mit sich eins und
kongruent ist, und sich nicht allzu sehr von alternativen Sichtweisen und Realitätsvorstellungen
beirren läßt. Man könnte die Wirksamkeit mit der von Placebomedikamentengaben
vergleichen, zu der verkürzt nach Levi-Strauß 3 Faktoren gehören: 1. daß der
Arzt glaubt, daß die Medikamente wirksam sind, 2. daß dies der Patient glaubt
und 3. daß dasselbe die Umgebung des Patienten glaubt. Die Überzeugungen des
Therapeuten müssen also in die derzeitigen Überzeugungen und
Integrationsöglichkeiten des Patienten passen. So geschieht es oft, daß der
Patient bei akut auftretender Symptomatik überzeugt ist, nur eine
Medikamentenbehandlung könne ihm helfen, einen Schulmediziner aufsucht und den
aktuellen Konflikt unbearbeitet läßt. Der Psychotherapeut mag frustriert
zurückbleiben und dies als Verrat an seinen Überzeugungen und Möglichkeiten
sehen. Die Dissonanzen zu den Überzeugungen der Umgebung stellen ein
gravierendes Therapiehindernis dar, weswegen eine Einzeltherapie nur bei einer
partiellen Autonomie möglich ist.
- Dazu ein trauriges Beispiel, daß eine vielleicht richtige Überzeugung durch
die Dissonanz mit den Überzeugungen der Behandler nicht weiter führen kann: Ein
mit bizarren Realitätskonstruktionen für mich als Borderline diagnostizierter
Patient hatte eine längere Behandlung beendet, wobei ich ihm nach meinem
Eindruck nur begrenzt helfen konnte. Etwa 1/2 Jahr später rief seine Ehefrau an
mit der Bitte um Weiterhilfe. Sie berichtete, daß sie an einer
lebensbedrohlichen Thrombocytopenie ( Blutblättchenmangel) erkrankt sei und alle
Medikamente wie Cortison nichts nützten. Wenn sie hart angefaßt werde, fange sie
sofort an zu bluten. Auf ihre Einwände bei den behandelnden Ärzten, daß die
Krankheit "psychisch" bedingt sei, hätten diese nur gelacht. Ich habe sofort
gedacht, unter diesen Umständen kann die Medikamentenbehandlung nicht helfen.-
Als wichtigen Maßstab des Therapiefortschrittes sehe ich die Anerkennung des
Einflusses des Elternhauses, der Familie bzw. der Primärbeziehungen, die
Verinnerlichungen und Macht der Bilder, Realitätskonstruktionen und vorgelebten
Überzeugungen. Die Verleugnung dieses Einflusses geht sogar soweit, daß sogar
Analytiker meinen, das neurotische Leben ihrer Patienten seien Produktionen
ihrer eigenen Phantasien und Bilder. Erst wenn diese Zusammenhänge voll
anerkannt sind und vor allem die Wiederholungen (Wiederholungszwang) realisiert
werden, können Alternativen anerkannt werden. Ansonsten kann an andere Inhalte,
zumindest tief im Inneren nicht geglaubt werden, und die eigene Person wird als
falsch, unglaubwürdig bzw. alle Erkenntnisse als außen "angeklatscht" gesehen.
Als das wichtigste therapeutische Instrument des Therapeuten sehe ich die
Gegenübertragung an, die es jederzeit genau zu kontrollieren gilt, also die
eigenen Vorstellungs- und Gefühlsreaktionen des Therapeuten, genauso die
Handlungsimpulse und tatsächlichen Handlungen, dem Handlungsdialog, auf die
verbalen, noch wichtiger nonverbalen Mitteilungen des Patienten. - Natürlich
stehen diese im Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Therapeuten, seiner
Kindheit, seinen Sichtweisen und Konstruktionen. Insofern ergibt sich ein Dialog
zwischen 2 Vertretern von 2 Familientraditionen. - Die Gegenübertragung stellt
die aktuelle Einbezogenheit in die Konflikte des Patienten dar. Von dieser
Einbezogenheit gilt es eine Außenposition zu gewinnen, diese spiegelbildlich als
Konflikterlebnis in inneren und äußeren Zusammenhängen des Patienten selbst zu
reflektieren und - wenn möglich - dem Patienten mit Hilfe einer therapeutischen
Ich-Spaltung zu vermitteln. Insofern stellt der Therapeut mit seiner Person,
seinen Vorstellungen und Gefühlen eine Art Hilfs-Ich für den Patienten dar.
Es mag passieren, daß der Therapeut wütend wird auf die Eltern oder Partner des
Patienten, also sich innerlich mit ihm solidarisiert, oder umgekehrt auf ihn,
also sich automatisch mit den anderen solidarisiert - dabei ist die Tragik des
Patienten, daß er mit seinen Klagen und Vorwürfen an die Adresse der Eltern oder
des Partners die anderen gegen sich
einnimmt -, Angst bekommt um ihn oder einen Angehörigen, Mitleid, Überdruß,
Langeweile bis zu einer Lähmung und bleiernden Müdigkeit verspürt, kaum noch die
Augen aufhalten zu können oder sogar einzuschlafen, Schadenfreude und
Rachegefühle empfindet. Im Rachehandlungsdialog mag er den Patienten unbewußt
mit Deutungen abblitzen lassen. Ein häufiger Hintergrund ist, daß der Patient
sich in der Behandlungssituation in der schwächeren Position sieht, die Umkehr
erzwingen muß, indem er z.B. dem Therapeuten in allem sofort recht gibt, diesen
scheinbar narzißtisch aufbaut, ohne die Inhalte selbst zu überprüfen, und den
Therapeuten in eine hilflose Schwächeposition bringt und abblitzen läßt. Oft
gelingt dem Patienten eine Rollenumkehr in Identifizierung mit der Elternrolle,
und der Therapeut fühlt sich trotzig, maulig oder muffig an Kindes statt.
Ähnlich
mag der Patient dem Therapeuten die Verantwortung für die Therapie zuschieben,
seine Eigenverantwortlichkeit abschieben, indem er diesem zugewandt seine Geschichten erzählt, auf dessen goldene Worte
hört und seine eigene Befindlichkeit und Vorstellungswelt beiseite schiebt, so
wie ihm Verantwortlichkeiten zugeschoben wurden.
Der Patient mag hoffnungslose Gefühle im Gegenüber, die sich auf die Therapie
und die Veränderungsmöglichkeiten des Patienten beziehen, oder sogar
Hoffnungslosigkeit betreffs des eigenen Lebens im Therapeuten hervorrufen, für
die dieser den Auslöser nicht im Patienten abzugrenzen vermag und selber
hoffnungslos und depressiv wird. Ähnlich mag der Therapeut den eigenen Überdruß nicht als den des
Patienten im Spiegel wahrnehmen. Problematisch und belastend kann es für den
Patienten werden, wenn der Therapeut sein Grinsen und Lächeln über die Realitätskonstruktionen
des Patienten, die er für naiv, weltfremd und kindisch hält, unkontrolliert nach
außen trägt. Der Patient fühlt sich der Lächerlichkeit preisgegeben, wie so oft
in seinem Leben, und nicht ernst genommen, wobei gerade dies das Ernsthafte ist.
In der Rückspiegelung dieses Tatbestandes besteht aber gerade die Chance, und im
fortgeschrittenen Stadium der Therapie, wenn der Patient diese Zusammenhänge bei
sich selber verstehen und darüber lächeln kann, kann gemeinsam gelacht werden.
Behandlungsstillstände können vorkommen, wenn der Patient seine gefühlsmäßige
Betroffenheit in der Therapie ebenso wie außerhalb in seinen zentralen
Beziehungen in die Betroffenheit des anderen umwandelt. Z.B. mag der Patient
seine Wut über die Lügen des anderen, sozusagen an der Nase herumgeführt und verascht zu werden, was eine Niederlage bedeuten würde, in die Wut des anderen
überführen, in der Demonstration, daß das ihm alles und der andere egal sei -
ein Kampf um Sieg und Niederlage und ein Kreislauf ohne Ende. Dabei mag die
Beachtung der Langeweile und des Überdrusses im Therapeuten nützlich sein.
Überdruß spüre ich besonders häufig bei Angstpatienten, wenn sie über die
zermürbenden, sich wiederholenden und verstrickten Streitigkeiten innerhalb der
Familie berichten und spiegele dabei den noch größeren Überdruß des Patienten
wieder.
Zu Schwierigkeiten führt häufig, daß der Patient potentielle Sichtweisen und
Alternativen des Therapeuten als absolute Realitäten auffaßt, gegen die er sich zur
Selbstbewahrung dann wehren muß. Dann mag ein Rechtsstreit entstehen, wer nun
recht hat. Oft genug passiert es auch, daß der Therapeut seine Sichtweisen für
Realitäten hält und sie dem Patienten als solche verkauft. Dies muß nicht immer
ungünstig sein, da unter Umständen situativ der Patient durchaus das bessere
Integrationvermögen besitzen mag, und sieht, daß auch Therapeuten Fehler und
Schwächen haben und eventuell mehr "spinnen" als er. Das baut ihn dann
auf und stabilisiert ihn.
Ohne die stringente Beachtung der Gegenübertragung und Rückblendung auf das
Innenleben des Patienten mag die Therapie ein hartes Brot für beide Beteiligten
werden - deswegen das Kennenlernen und die Abgrenzung von eigenen Konflikten in
der Lehranalyse und Behandlungssupervision.
Hinsichtlich der Therapie halte ich die Erinnerung der Kindheit wichtig für das
Verständnis und als Zugang für die heutigen Bilder und Handlungsweisen und als
Perspektive für das zukünftige Leben. Langes Schwelgen in traumatischen
Kindheitserinnerungen, Schuldzuweisungen und Anklagen an die Adresse der Eltern
oder der damaligen Umstände sehe ich als verschwendete Zeit und als Abwehrmechanismus
gegenüber heutigen realen Abläufen an, in denen der Patient seine Kindheit
unreflektiert fortlebt. Ebenso sehe ich die Schilderung von endlosen Träumen an,
für deren Deutung sowieso nie genügend Zeit ist und in die unter Umständen der
Therapeut seine eigenen Realitätskonstruktionen hineinsieht. - Träume können als
Symbole für ansonsten nicht wahrgenommene Realitäten nützlich sein. Man könnte
das ganze Leben durch Hineinsehen eigener Konstruktionen in die Wirklichkeit als Traum mit Realitätsaspekten ansehen.-
Falls der Therapeut dies länger mitmacht, landet die Therapie in einer Sackgasse. Es ergibt sich ein
Handlungsmonolog, der zwar ebenfalls konstruktiv umgewandelt werden kann.
Ich halte es für von zentraler Bedeutung, daß der Patient sich selbst seine
Sichtweisen und seine Gefühls- und Handlungsimplikationen in seinem Kopf klar
macht. Wegen der vielen unbewußten und nicht sichtbaren Anteile ist dies jedoch
nur begrenzt möglich. Der Therapeut kann ihm nur dabei behilflich sein mit seinen Eindrücken
und Erfahrungen von Zusammenhängen. Inkonkrete, diffuse oder allgemeine
Darstellungen von Gefühlen und Zusammenhängen sind wenig nützlich, weil sie die
Tatsache außer acht lassen, daß das Leben aus einer Aneinanderreihung von
konkreten Situationen mit komplexen, teils widersprüchlichen Inhalten besteht.
Falls der Patient dies sich selbst nicht klar macht, hat er wenig oder gar
keinen Nutzen. Möchte er nur seine Gedanken los sein, unter denen er leidet und
die er für unsinnig hält, kommt er nicht weiter. Die Anerkennung und Überprüfung
dieser Gedanken und die Zusammenhangsicht mit den gefühlmäßigen und
Verhaltensfolgen ist von zentraler therapeutischer Bedeutung.
Nach meiner Erfahrung kommen die seit der Kindheit und oft über Generationen
sozusagen eingeimpften und eingefleischten Sichtweisen und Realitätskonstruktionen,
also in der Geschichtsdimension, in den verschiedensten Gewändern immer wieder
und müssen unter anderen Gesichtspunkten erneut betrachtet und be- und verarbeitet werden. Dabei heißt
Verarbeitung die Realisierung der Vorstellungen als Vorstellungen, die zunächst
in ihrem Ausgang offen, und erst durch die Handlungsumsetzung Realität werden, zusätzlich mit der Vorstellung von Alternativorstellungen und alternativen
Realitätsausgängen. Die Resultate mit all ihren ambivalenten und komplexen
Implikationen offen sein lassen zu können und erst mal abzuwarten, nicht im
Sinne einer panikartigen Lähmung, bedeutet Integration, Therapiefortschritt und
Nachreifung. Körperliche und psychische Symptome stellen Hinweise für Störungen
des intrapsychischen wie zwischenmenschlichen Beziehungssystems und
Gleichgewichts dar und können somit konstruktiv verwertet werden. So sagte ein
Patient mit chronischem Asthma "mein Weltbild ist ganz anders als das, was ist.
Der einzige, der das gecheckt hat, ist mein Körper".
Je länger ich an dieser Arbeit sitze, desto mehr Aspekte fallen mir ein und
werden mir bei meiner täglichen Arbeit freihaus geliefert. Sicherlich geht es
dem Leser genauso. Ich versuche den derzeitigen Stand meiner Sichtweisen
darzulegen. Die Auslegungen von Mythen, Geneseerklärungen und Krankheitsbildern
bedürfen ausführlicher Untersuchungen und Belegungen, für die mir bisher die
Zeit, Lust und das Material fehlte. Ich möchte auch nicht von psychischen oder
psychogenetischen Zusammenhängen sprechen, sondern eher von psychologischen,
wobei jeder seine eigenen Auffassungen und Sichtweisen vertritt, also sein
eigener Psychologe ist. Über den zwischenmenschlichen Kontext redet jeder in der
Psyche des anderen mit und zwar nicht nur in der Kindheit, sondern während des
ganzen Lebens. Mir geht es genauso, bei allem, was ich lese und höre, verändert
sich meine Psyche, zumindest in Randbereichen.
Vor der Entblößung von Scham und Lächerlichkeit im inner- und
zwischenmenschlichen Bereich schützen "Gott sei Dank" andere Wissenschaften und
deren Erkenntnisse wie die Medizin, Theologie, Philosophie und die Psychologie
und Tiefenpsychologie selbst, wenn deren Erkenntnisse auch vielfach andere sind
als die meinigen, und wie ich meine, vielleicht auch teilweise ein potentieller
Leser und dabei Millionen an Forschungsgeldern an den falschen Stellen ausgegeben werden,
nur dort nicht, wo die Gründe zu finden sind. Die Medizin sieht ausschließlich
den Körper und nicht die übergeordnete Steuerung vom Kopf durch Erfahrungen,
Prägungen und zwischenmenschliche Einflüsse. Die Erkenntnisse der Philosophie
gehen nicht über den Kopf hinaus. Die Folgen für den Körper werden nicht
gesehen. Und bei den Theologen kommt alles von Gott.
Aber wer weiß schon, was richtig ist - außer den Wissenden und Eingeweihten.
Mein Motto ist folglich "die Kunst des Nichtwissens".
Bibliographie
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