DIE TRAGIK DER WISSENDEN 

        

     UNVEREINBARKEITSDENKEN, SPALTUNG, ALLTÄGLICHKEIT                                                              

     

    EINLEITUNG  

     

    So wie nahezu jeder Mensch, insbesondere  Philosophen, Theologen, Anthropologen, Psychologen, Psychoanalytiker und Ärzte, versuche ich, mir zwischenmenschliche Verhältnisse verständlich zu machen, die Welt nach greifbaren Regeln, Abläufen und Mechanismen zu durchdringen und für mein alltägliches Leben und meine psychotherapeutische und ärztliche Arbeit verwertbar zu machen. Dabei greifen aus meiner Sicht die verschiedenen Wissenschaftsbereiche ineinander über. Bei zwischenmenschlichen Konflikten und Krankheitsfolgen können Logik (Philosophie) und Theologie zu Psychologie und Medizin werden, haben sogar physikalische und chemische Folgen und werden somit zu Inhalten physikalischer und chemischer Wissenschaften. Sozusagen als Extrakt aus meiner klinischen Tätigkeit schreibe ich nach meinem derzeitigen Stand dem Unvereinbarkeitsdenken als Folge von aufspaltenden Denkprozessen bzw. der Spaltung eine zentrale Stelle in zwischenmenschlichen Konflikten und bei Krankheitsfolgen zu.          

    Inwieweit im Spaltungsdenken Vorstellungen und Subjektivität zu Objektivität, Glauben, Überzeugung und Wissen mit tragischen Folgen werden und mit der Durchsetzung von Spaltungsprozessen im Alltagsleben unserer Kultur, möchte ich mich im folgenden auseinandersetzen. Viele menschliche Phänomene betrachte ich in dieser Arbeit unter dem Spaltungsgesichtswinkel, die sicherlich auch anders erklärt werden können - und werden.                                                           

      Spaltung oder Dichotomie verstehe ich im Gegensatz zu Begriffen wie Integration, Komplexität, Differenzierung und Ambivalenz. Integriertes und komplexes Verstehen hat für mich Achtung und Gewinnung der Selbst- und Fremdachtung zur Folge. Darin sehe ich die zentrale Bedeutung der Arbeit der Psychotherapeuten und -analytiker am komplexen Verständnisprozeß der Gründe, Hintergründe und am nichterlebten Erlebnis- und Verhaltensprozeß. Durch die seelischen Spaltungsprozesse ist Verständnis vom Selbst und Zusammenhängen der Welt außerordentlich erschwert, wenn nicht gar unmöglich bzw. nur nach einem aufspaltenden, unvereinbaren Weltbild möglich. In diesem werden immer Anteile und Zwischenglieder nicht wahrgenommen, so daß der Mensch sich selbst zu einem einzigen Rätsel wird ( wie beim Rätsel der Sphinx in der Ödipussage ). 

 

    Einige mir so erscheinende Grundlagen und Folgen, die ich so in der Literatur nicht deutlich artikuliert vorgefunden habe, möchte ich kurz vorweg nehmen.

1. Die Gleichsetzung im Sinne einer Umgekehrten Spaltung.                

2. Die Berücksichtigung der Zeitdimension der Diachronizität neben der Synchronizität.

3. Die Verwirrung und Zerrissenheit als Folge der Spaltung.

4. Die zentrale Bedeutung des zwischenmenschlichen Vergleichs, der Gleichheit, der Unterschiede mit der Folge des Gerechtigkeitsdenkens bzw. des Rechts.

5. Digitale Kommunikation als Folge der Spaltung.  Dialog = Monolog.

6. Der Vorrang der ( Spaltungs-) Mechanismen vor der Libido.

7. Konflikterhöhung durch Verleugnung und Spaltung. Der Mechanismus der Abwehr verschärft die Konflikte. 

 

    In einem ersten Entwurf dieses Aufsatzes hatte ich anstelle von Spaltung den Begriff Polarisierung gewählt, da die Spaltungsprozesse in der Psychoanalyse für Abwehrprozesse des Individuums vorbesetzt sind, die einer bestimmten Entwicklungsphase, nämlich an der Individuationsgrenze, entstammen. Nach dieser Sichtweise wäre der Begriff Spaltung auf die frühkindliche Ontogenese des Individuums bezogen. Ich meine umfassendere Mechanismen unter Einbeziehung von zwischenmenschlichen Prozessen, beziehe phylogenetische Aspekte ein, also in der Tradition und Generationsfolge, und bin der Meinung, daß Spaltungsprozesse im Denken jederzeit während des gesamten menschlichen Lebensverlaufes etabliert werden können. Den letzten Punkt führe ich darauf zurück, daß meiner Ansicht nach in tieferen Bewußtseinsschichten im Denken bei jedem Menschen      Spaltungsmechanismen vorhanden sind, die durch andere ersetzt werden können. Allerdings wird der Begriff Spaltung auch bisher häufig für Gruppenprozesse angewandt. Den Begriff Polarisierung ließ ich fallen, da bei der Polarität die Pole zusammengehören und ein gemeinsames Ganzes bilden, während bei der Spaltung Charakteristikum ist, daß im Denken die Pole nicht zusammengehören, beispielsweise das Gute nicht zum Bösen gehört, sondern unabhängig und völlig getrennt gesehen wird und im Denken unvereinbar ist. Da für den Erwachsenen im Grunde ein Denkfehler zugrunde liegt, ist die Spaltung ein irreales Vorstellungsprodukt, das wenig den realen Begebenheiten Rechnung trägt. Als Folge muß immerwährend die Realität gefürchtet werden.

 

    Dem Begriff der Spaltung nahe stehend erscheint mir der Begriff der Dissoziation. Nehme ich diesen Begriff im nicht üblichen Gegensatz zur Assoziation, bei der verschiedene Einfälle, Seiten und Aspekte assoziiert werden und ihre Existenzberechtigung neben- und nacheinander erhalten, werden diese bei der Dissoziation geleugnet und somit zerstört. Ich möchte im Folgenden nachweisen, daß Spaltungsprozesse nicht auf das Individuum begrenzbar sind, sondern zwischenmenschliche Folgen haben und somit Gruppenprozesse darstellen. Schließlich lebt der Mensch nicht als Einzelindividuum, sondern in einem zwischenmenschlichen Kontext, ohne den er sogar nicht überlebensfähig ist. Meine Begriffe entstammen der Psychoanalyse, entsprechen aber nicht unbedingt den verschiedenen psychoanalytischen Schulrichtungen, und der Familien- und Systemtheorie.

 

    Ich möchte mich kurz zu der Unterscheidung von Begriffen wie Gedanken, Phantasien, Vorstellungen, Sichtweisen, Wahrnehmungen, Bildern äußern. Die Phantasie wird im allgemeinen für etwas flüchtiges gehalten. Der Begriff wird meist im Gegensatz zur Realität gebraucht. Bilder, ähnlich wie Sichtweisen sind schon etwas festeres, weniger leicht vergängliches. Bilder werden wahrgenommen und gesehen, stellen also die Wahrnehmung und Sichtweise dar. In die Bilder und Sichtweisen fließen die Bewertungen und Bedeutungen ein. Wenn an Bilder als Realität geglaubt wird, spreche ich von Glauben oder Überzeugung. Für die Umsetzung von Bildern in Realität bzw. bei der Gleichsetzung von Bildern mit der Realität erscheint mir der Begriff Realitätskonstruktion oder sogar Realitätsphantasie überzeugend.

 

    Über Denken, Handeln und Gefühle 

 

    Meiner Ansicht nach denkt der Mensch ununterbrochen, Tag und Nacht, - ähnlich wie sein Herz schlägt, laufen gedankliche bzw. geistige Prozesse im Kopf ab. Angstgedanken können das Herz beschleunigen, Panik zum Rasen bringen, Schreck zum kurzfristigen, manchmal sogar zu dauerhaften Stillstand (Herzschlag) führen - reflektiert oder nicht reflektierbar, bewußt und unbewußt. Das Denken ist sein unentrinnbares menschliches Schicksal. Das bedeutet Chance und Fluch zugleich, jeweils ob er konstruktiv oder destruktiv, also zu seinem oder fremden Schaden denkt. Die nächtlichen bzw. Nachtgedanken sind teilweise als Träume erinnerbar oder für einen Beobachter durch Bewegungen oder Laute erkennbar.

 

    In seiner Entwicklung durchläuft der Mensch verschiedene Phasen der Strukturierung seiner Denk- und Wahrnehmungsprozesse. Zumeist wird ein Urzustand des psycho-physischen Wohlbefindens, auch als ozeanisches Gefühl beschrieben, angenommen. Im biblischen Mythos wird vom Paradies gesprochen, in Märchen z.B. vom Schlaraffenland. Dabei gibt es keine Unterschiede in der Wahrnehmung, kein gut und böse. Dieser Urzustand wird in der menschlichen Entwicklung oft auf die Lebensphase im Mutterleib bezogen, obwohl es auch dort schon Unterschiede gibt. Nach den ersten negativen Erfahrungen und in der Phase des unkoordinerten Denkens tritt die Phase der primären Denk- und Wahrnehmungsprozesse ein. Primäre Gedanken laufen völlig durcheinander ab, hin und her, gleichzeitig und nacheinander. Der nächste Schritt der Strukturierung sind die aufgespaltenen Denkstrukturen, die mir der erste, wenn auch noch primitive Schritt zu einer Ordnung aus den Widersprüchen und Gegensätzen des primären Denkens heraus zu sein scheinen. Er bedeutet scheinbar Klarheit und Eindeutigkeit. - Dieser Denkprozeß mag auch für diese frühe Phase des menschlichen Denkens angemessen sein. Später halte ich ihn für einen pathologischen Versuch der Ordnungs- bzw. Klarheitssuche.  Der 3. und letzte Schritt nach diesem einfachen Schema ist die Integration der verschieden Anteile und Seiten, Zwischenstufen, -töne und -schattierungen zu einem gesamten Selbst- und Weltschema bzw. -konzept. Diese integrative Realitätserfahrung ist jedoch nur möglich, wenn die negativen Erfahrungen nicht allzu tief und vernichtend sind. Im Falle der vernichtenden Erfahrungen und Sichtweisen besteht die Neigung, auf der Spaltungsstufe stehen zu bleiben bzw. auf diese zurückzufallen. 

 

    Beim Rückblick auf einen großen integrativen Erfahrungsschatz können auch nicht sichtbare Teile wie z.B. ein nicht sichtbares Unbewußtes oder potentielle Hintergründe bei sich selbst oder der Umwelt angenommen und wahrgenommen werden. Die Integration sehe ich als die eigentliche Psychische Geburt an. Sie ist eine Aufgabe für das gesamte Leben und muß jederzeit neu gelöst werden. Das Denken auf dem Spaltungsniveau könnte man auch als Gedankenfaulheit oder -bequemlichkeit bezeichnen, da nicht die Mühe unternommen wird, die verschiedenen Anteile zu integrieren. Ich halte es jedoch für eine Bedrohungsfolge.

Als gemeinsames Ziel sämtlicher Strukturierungsprozesse auf unterschiedlichem Reifungsniveau könnte man die Erhaltung und Wiederherstellung des psycho-physischen Wohlbefindens sehen. 

 

    Ebenso wie zum Denken ist der Mensch zum Handeln gezwungen, naturgemäß entsprechend seinem Denken. Somit sind Denken und Handeln gekoppelt, und Denken hat immer ein Stückweit Handeln zur Folge. Durch das Handeln setzt er sein Denken in Realität um. Auch Nichthandeln, als Versuch, seinem Schicksal dem Handeln, zu entgehen, ist auch ein Handeln. Dem primären Denken entspricht das primäre Handeln, wonach völlig durcheinander ohne ein erkennbares Schema gehandelt wird.

 

Im ersten Ordnungsschritt dem Spaltungsdenken ist das Handeln schon wesentlich strukturierter, aber noch nach einem einfachen Schema, das die Gleichsetzung von Denken und Handeln ermöglicht, da noch nicht verschiedene und widersprüchliche Anteile zu berücksichtigen sind, die das Handeln erschweren würden.

 

    Beim nächsten Schritt des integrierten Handelns ist ein Anhalten, Überdenken der verschiedenen Anteile und Möglichkeiten notwendig, um zu einer Entscheidung zu kommen. Dabei wird eine Spanne zwischen Denken und Handeln durchlaufen, dem Hiatus. -  Beispielsweise ist bei der Zwangsneurose diese Spanne im inneren Erleben nicht vorhanden, sodaß in der Umkehrung der Versuch unternommen wird, "schmutzige" Gedanken mit Reinigungs- und Kontroll-Handlungen ungeschehen zu machen. - In der Psychotherapie gilt es, diese Spanne zu fördern durch Betrachtung (bis zur gewohnheitsmäßigen Einübung) der verschiedenen Anteile, Wahrnehmungen, zusätzlichen nicht wahrgenommenen Möglichkeiten bei sich selbst und der Umwelt, mit dem Ziele, diese zu integrieren und somit neue und umfassendere Denk- und Handlungsentscheidungen zu finden.

    

    Wenn ein Mensch anders handelt als er denkt, ich-dyston handelt, so ist davon auszugehen, daß in ihm noch andere Gedanken sind als die ihm Bewußten, nämlich Gedanken, die sein Handeln dadurch stärker bestimmen, weil die Spanne des Überdenkens, der Hiatus fehlt. Es kann also neben einer bewußten Gedankenwelt, der bewußten Identität, eine zweite Gedankenwelt oder mehrere Gedankenwelten in Bewußtseinsschichten herrschen, denen das Bewußtsein fremd gegenüber steht. Dem entsprechen Sätze wie etwa "es sind zwei Seelen (oder Welten) in meiner Brust". Im Bewußtsein dieser Gedanken- und Glaubenswelt sagte ein Patient zu mir "Ich glaube nicht, daß das Realität ist, aber tief in meinem Inneren kann ich nicht glauben, daß ich das glauben kann." Oder ein anderer Patient bezeichnete diese als Scheinwelt, mit der und nach der er lebe, die mit der Realwelt so verschachtelt sei, daß er beispielsweise für alles und jeden eine Entschuldigung habe.

Man könnte auch auch von einer inneren und äußeren Realität sprechen.

 

    Die Gedanken und Vorstellungen sind von Affekten und Gefühlen begleitet. Angstvorstellungen beinhalten Angstgefühle, Schamvorstellungen Scham. Die Gesamtheit ist die Befindlichkeit, und die vorherrschenden Gefühle prägen die Stimmung. Von den Gefühlen geht die Dynamik und Energie aus. Auf der primären Gedankenebene sind die Gefühle völlig chaotisch. Auf der Spaltungsebene herrscht Hoch- oder Tiefstimmung, je nachdem ob alles gut oder total schlecht ist. Die Hochstimmung hat etwas einzigartiges, berauschendes und kann deshalb als menschliches Ziel gesucht werden. Auf der integrativen Stufe sind die Gefühle leider nicht so eindeutig. Gleichzeitig und nacheinander bestehen verschiedene, teils widersprüchliche Gefühle wie Angst, Trauer und Freude, Ärger, Stolz und Scham, also meist gemischte Gefühle, die das Erwachsenenleben nicht zu einer reinen Freude werden lassen, aber mehr der Realität des Alltags entsprechen. Einen solchen Gefühlszustand, als Halbherzigkeit bezeichnet, mag der Aufspaltende dem Integrativen vorwerfen. Im integrativen Denken, Fühlen und Handeln besteht durch den höheren Reifezustand insgesamt jedoch eine größere Beständigkeit und eine positivere Lustbilanz, da im Spaltungsdenken die Bedrohungsinhalte das Leben vermiesen.

 

ALLGEMEINE BESCHREIBUNG DER SPALTUNGSMECHANISMEN

 

Spaltungssmechanismen (auch Auf- und Abspaltung, ähnlich Dualismus und Dialektik) treten kurz dargestellt in folgenden Formen auf: Entweder - oder, schwarz oder weiß, gut oder böse, richtig oder falsch, alles oder nichts, unten oder oben, Gemeinsamkeit oder Unterschiede, Kopf oder Bauch, Verstand oder Gefühl, Gesundheit oder Krankheit, Nähe oder Ferne, Sicherheit oder Unsicherheit, innere oder äußere Realität. Inhalte der Spaltungen gibt es unendlich viele, ob in sachlichen Inhalten, menschlichen Eigenschaften oder Selbst-, Fremd- und Weltbildern. Charakteristikum ist, daß in diesen Denk- und Sichtweisen das Eine das Andere ausschließt und somit ein Unvereinbarkeits- oder Ausschließlichkeitsdenken vorherrscht. Zwischen den Polen besteht eine unüberbrückbare Kluft. Oft wird auch von Zwiespalt gesprochen. Dies bedeutet Klarheit und Eindeutigkeit. Zwischenglieder und -schattierungen, Ambivalenzen, Vor- und Nachteile, mehr oder weniger, für und wider, nebeneinander und nacheinander fehlen völlig. Die Spaltung findet auf dem Boden der Verleugnung anderer Seiten statt. Ich sehe sie einerseits als einen aktiven Abwehrvorgang, andererseits als einen durch frühkindliche Einflüsse verinnerlichten Denk- und Wahrnehmungsprozeß an.

 

    Zu den Spaltungsmechanismen rechne ich ebenfalls gegenteilige Mechanismen wie Gleichsetzung, Pauschalisierung, Homogenität, Verwechslung und Vermischung. Ich nenne es eine Umgekehrte Spaltung. Da die Unvereinbarkeiten nicht neben- und nacheinander gesehen werden können, werden sie zu einem Ganzen zusammengeführt. Man könnte auch von einer Art Trick sprechen, unüberbrückbare Gegensätze doch noch zu überbrücken und Klarheit zu schaffen. Mehrere Teile oder Aspekte einer Person oder eines Inhaltes können nicht nebeneinander und nacheinander gesehen werden, und häufig wird ein Teil für das Ganze gehalten ( Pars pro toto ). Umgekehrt können im Pars-pro-Toto-Denken mehrere Aspekte bzw. Faktoren auf einen Aspekt reduziert werden. Ebenso können die subjektiven Sichtweisen, Positionen und Interessen verschiedener Personen nicht nach- und nebeneinander anerkannt werden und werden somit zu einer allgemeingültigen Objektivität zusammengeführt (subjektiv gleich objektiv ). Alles und total sind die vorherrschenden Begriffe. Es werden Absolutheits- und Totalitätsansprüche erhoben. Aus einem subjektiven Menschen wird sozusagen ein objektiver Mensch. Subjekt wird zu Objekt, und alle Menschen sind in ihren Sichtweisen, Positionen und Interessen gleich.

 

    In der Zeitfolge kann das Nacheinander der unterschiedlichen Augenblicke, Vorstellungen und Gefühle nicht erlebt werden und wird gleichgesetzt, so daß vorher gleich nachher  bzw. nachher gleich vorher ist, jetzt gleich nie oder immer gilt. Jetzige Inhalte gelten dann für immer und unabänderlich, und ein Mensch ist unveränderbar. Ebenso gilt "einer gleich alle", einmal wird zu immer oder nie, dazu ein typischer Satz, wenn jemand etwas böses tut "wenn das jeder machen würde...!".  Vor allem in der Alltags- und Umgangssprache sind derartige Gleichsetzungen weit verbreitet. Dazu gehört die Verwechslung von Ursache und Folge, von Vorstellung und Realität. Sämtliche Spaltungsmechanismen sind eng miteinander verbunden und schwer zu trennen.

 

    Als besonderes immer wiederkehrendes menschliches Problem erscheint mir die Gleichsetzung von Phantasie bzw. Vorstellung und Realität. Die verschiedenen Phantasien, Sichtweisen und Vorstellungen können nicht individuell und nebeneinander gesehen werden und werden zu einer allgemeingültigen Realität. Vorstellung wird dann zu Wissen, festem Glauben und Überzeugung.

Wenn jemand nacheinander von sich selbst oder jemand anderem das Bild hat, er sei "klug", andererseits "dumm", dies auch noch mit der Realität, zusätzlich das Nacheinander mit der Gleichzeitigkeit gleichsetzt, so ist für ihn klug und dumm gleichzeitig unvereinbar. Beider Beurteilung der Charaktereigenschaft gerät er in ein Durcheinander.

 

    Ein in diesen Mechanismen denkender und wahrnehmender Mensch gerät völlig in Verwirrung oder bei tiefergehender Spaltung in Zerrissenheit, wenn die getrennt gehaltenen Teile zusammenkommen, wenn das für weiß Gehaltene schwarz ist, das Gute schlecht, das Richtige falsch, das nie für möglich Gehaltene Realität und wenn nicht jetzt, nie mehr möglich wird. Die Spaltung soll das unreife, primitive oder desintegrierte Selbst vor einem weiteren Zerfall schützen, wobei gleichzeitig dieser Zerfall die größte Bedrohung darstellt. Die Spaltung stellt also ein Abwehrmechanismus gegen das Chaos bzw. die Diffusion dar. Durch die Aufhebung der Grenzen zwischen den Menschen, der aufgehobenen Subjekt-Objekt-Differenzierung entsteht wiederum eine Diffusion. Für den Spaltenden würde die Wahrnehmung verschiedener Seiten und Aspekte Diffusion bedeuten. Sehr bedeutsam erscheint mir dabei, daß er an der Grenze zwischen primären und integrativem Denkens den Unterschied zwischen diesen beiden Denk- und Wahrnehmungsstufen nicht wahrnehmen kann, so daß er im integrativen Denken das primäre Denken und Durcheinander fürchten muß.

 

    Ich möchte an einem anderen weit verbreiteten Beispiel illustrieren, wie gerade die Suche nach Sicherheit, Klarheit und Eindeutigkeit Verwirrung stiftet. Wenn ein Mensch Sicherheit sucht, was richtig und falsch ist, so wird er bei der Wahrnehmung der verschiedensten teils widersprüchlichen Standpunkte und Sichtweisen ein und desselben Sachverhaltes völlig in Verwirrung geraten, was nun richtig und falsch ist. Demzufolge besteht die Neigung, Unsicherheiten in Sicherheit zusammenzuführen und Unsicherheit und Unwissenheit in Allwissenheit zu verwandeln. Das Leben wird dann fälschlicherweise zu einem Programm mit klaren Vorstellungen, wie die Zukunft zu verlaufen hat.

    

    Im Spaltungsdenken sind naturgemäß sehr schwer Entscheidungen zu treffen. Eine Entscheidungsunfähigkeit mag die Folge sein, weil alles richtig sein muß, die einzig oder absolut richtige Entscheidung getroffen werden muß oder gar nichts richtig ist. Vor diesem Anspruch oder der Folge, daß alles falsch ist, mag eine Paniklähmung bestehen.   

 

    Bei der Gleichsetzung von Vorstellung bzw. Phantasie und Realität wird die Wirklichkeit, so wie sie erdacht ist ( Wirklichkeitskonstruktion ), aktiv gestaltet und somit tendenziell durch die Handlungsweise in Realität umgesetzt (selffulfilling prophecy). Ein Nichteintreten der erwarteten Realität löst im Falle der Akzeptanz der neuen Realität Verwunderung, Überraschung oder Erstaunen aus, im Falle der Nichtakzeptanz und tiefgreifenden Spaltung Negierung "kann nicht sein". Dazu möchte ich einen mir wesentlich erscheinenden Aspekt eines Beispieles aus der griechischen Mythologie anführen: In der Ödipussage ereigneten sich Vatermord und Inzest gerade als Folge der Verhinderungsstrategie nach den Prophezeiungen des Orakels von Delphi. - Die altertümlichen Orakel stellen eine altgriechische, mythische Form des heutigen Begriffes der Sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung dar. - Ohne diese Vermeidungsmechanismen wäre das tragische Unheil Vatermord und Inzest voraussichtlich nicht eingetreten.

 

    Von zentraler Bedeutung erscheint mir die Spaltung der inneren, vor allem wenn sie unbewußt ist, und äußeren Realität. Dabei wird Unbewußtes und durch dieses die Beeinflussung der Wahrnehmung der äußeren Realität und demzufolge die Handlungsweise durch die innere Realität völlig verleugnet (ich-dystones Handeln). Inwieweit diese Spaltung den vorherrschenden Zeitgeist bestimmt, mag als Beispiel dienen, daß Sigmund Freud auf Empörung und Ausstoßung stieß, als er ein Unbewußtes postulierte, public machte und den Einfluß auf Kultur und Krankheiten beschrieb. In den Zeitgeist der Aufklärung nach den Fortschritten in den Naturwissenschaften passten derartige Zusammenhänge nicht herein.

 

    Auch im heutigen Zeitgeist z.B. in Medizin, Psychologie, Militarismus und Rechtssprechung herrschen mannigfache Spaltungsmechanismen vor. In der Medizin wird der Einfluß innerer Realitäten z.B. auf organische Erkrankungen völlig geleugnet. Der Versuch der Einflußnahme im Strafvollzug auf Delinquente ist meist zur Erfolglosigkeit verurteilt, da die innere Realität, derzufolge die Straftäter ihre Handlungen entsprechend ihrem subjektiven Rechtsverständnis begehen müssen, unberücksichtigt bleibt. Vor allem primäre Zusammenhänge wie die Eltern-Kind-Beziehung wird von inneren Realitäten bestimmt. Demzufolge handeln Eltern ihren Kindern gegenüber sozusagen nach bestem, oft unbewußten Wissen, auch wenn ihre Handlungen äußerst destruktiv sind. Auch Massenbewegungen und ihre Handlungen, vor allem in totalitären Regimen, scheinen mir nach Spaltungsmustern zu funktionieren.

 

    Wie oben bereits kurz angeführt, können in der aufspaltenden Gedankenwelt z.B. dem Schwarz-Weiß-Sehen Zwischenschattierungen, Differenzierungen und schwarze und weiße Anteile im Neben- und Nacheinander nicht gesehen werden. Es wird dabei verleugnet, daß z.B. jedes Ding oder jeder Mensch viele Seiten, jedes Auge aus vielen Facetten oder eine Medaille aus 2 Seiten besteht, die völlig verschieden aussehen können. Das Beispiel der Medaille erscheint mir insofern einleuchtend und typisch, weil charakteristischerweise jeweils nur eine gesehen werden kann je nach Position und demzufolge Sichtweise. In diesem Denken ist es völlig unmöglich, das Vorhandensein einer 2.Seite sich vorzustellen und anzuerkennen. Der Aufspaltende gerät völlig in Verwirrung und je nach Grad der Spaltung in Zerrissenheit, wenn er die andere Seite anschließend sieht, und diese die gleiche Medaille darstellen soll. Es wäre etwa so, als wenn jemand die Medaille ständig herum drehen würde und behauptete, die jeweils sichtbare Seite stelle die ganze Medaille bzw. Wahrheit dar. Ich wollte anhand der Medaille nur als einfaches Beispiel illustrieren, weil es dort so einfach ist.

 

    Spaltungsmechanismen sind meiner Ansicht nach so weit verbreitet und im menschlichen Denken so tief verankert, daß niemand davon frei ist. Sie sind neben integrativen Denkprozessen bei jedem Menschen mehr oder weniger, meist in unteren Bewußtseinsschichten vorhanden. Im Konflikt- und Spannungsfall neigt der Mensch dazu, sie zu mobilisieren bzw. auf diesen entwicklungsgeschichtlich früheren Denkprozeß zurückzukehren.

 

    Dazu ein Beispiel aus dem psychoanalytischen Behandlungsprozeß: Psychoanalytiker bzw. Psychotherapeuten, die aufgrund ihrer Ausbildung und beruflichen Identität die Integration zum Ziele haben, können nach Kernberg bei der Konfrontation mit narzißtischen und Borderline-Persönlichkeitsstrukturen in der Behandlungssituation gemeinsam mit ihrem Patienten auf ein Spaltungsniveau zurückfallen, bzw. es können in ihnen vorhandene Spaltungsdenkstrukturen mobilisert werden. Dabei können sie ein inneres Bündnis mit dem Patienten eingehen und die Bedrohung nach außen verlagern wie z.B. die böse Mutter, den Vater, die Umwelt oder den Partner oder umgekehrt in der Vorstellung sich mit dem Partner gegen den Patienten solidarisieren. Weiterhin können sie die bedrohlichen Inhalte außerhalb der Behandlungssituation lassen und ein unverbindliches Gespräch führen oder bei der Gleichsetzung von Angstvorstellung und Realität zum Handlungsdialog neigen, wobei aus unbewußten Motiven gemeinsam gehandelt wird. 

 

    Außer im Zustand der völligen Desintegration ( Psychose ) wird die Spaltung normalerweise also nur im Konfliktfall, bei der Beschreibung der persönlichen Denk- und Wahrnehmungsweise und nach der Rekonstruktion der Hintergründe eines Handlungsablaufes offensichtlich. Infolgedessen kann eine Reaktionsform darin bestehen, im Konfliktfall eine nichteinbezogene Außenposition einzunehmen und so zu tun, als ob einen die ganze Sache nichts anginge. Eine weitere Folge kann sein, das Spaltungsdenken für sich zu behalten, möglichst wenig mitzuteilen, weil es von nichteinbezogene Außenstehenden als unreif, naiv oder infantil belächelt wird und zu Kränkungen und weiterer Desintegration führt. Andererseits ist durch den Rückzug und die fehlende Mitteilung und Auseinandersetzungsmöglichkeit eine Korrektur schwerer möglich.

 

    Dem Spaltungsdenken kann man als Gegenpol, wobei meist Zwischenstufen vorhanden sind, das integrierte Denken bzw. ein komplexes Weltbild gegenüber stehen. Anstatt entweder - oder gilt sowohl als auch. Anstatt schwarz - weiß werden verschiedene Teilaspekte einer Person oder eines Sachverhaltes, gute und böse Seiten, Schwächen und Stärken, gleichzeitig und hintereinander gesehen. Im Handlungsbereich könnte man von Ambivalenztoleranz oder -integration sprechen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß jede Entscheidung zwangsläufig ambivalent ist, z.B. welchen Beruf ich auswähle, eine Partnerschaft eingehe oder mich für ein Kind entscheide. ( In der griechischen Mythologie steht Herkules am Scheidewege ). Immer ist neben einem potentiellem Gewinn ein Verlust z.B. von Möglichkeiten und Freiheiten wie in einem anderen Beruf, einem anderen Partner oder des potentiellen Lebens ohne ein Kind vorhanden.

 

    Da im Spaltungsdenken eine unerträgliche Spannung und Zerrissenheit entstehen würde und diese nicht ausgehalten werden kann, wird in ihm versucht, sie durch einseitige und eindeutige Klarheit zu verringern. Man weiß dann sozusagen, wo man dran ist. Durch die Spaltung finden reale Verluste der anderen und verschiedenen Seiten statt. Die paradoxe Folge der im Denken vorhandenen Verluste kann sein, daß das Leben ausschließlich von der Verlustseite gesehen wird. Darin sehe ich einen wesentlichen Hintergrund von tiefgreifenden Verlustängsten. So kann hinter häufig auf die frühe Kindheit bezogene erfahrene Verluste und mangelnde basale Geborgenheit und Sicherheit ein aufspaltendes Verlustdenken stecken, wobei jegliche basale Sicherheit verloren geht.

 

AKTUELLE HINTERGRÜNDE DER SPALTUNGSMECHANISMEN DES INDIVIDUUMS

 

Ich möchte jetzt nur auf die aktuellen, derzeitigen Denk- und Erlebnishintergründe eingehen, die ich von lebensgeschichtlichen Hintergründen unterscheide, auf die ich später eingehen möchte.

 

    Die Hintergründe für die aktuelle Verleugnung und Spaltung liegen in einer Vernichtungsvorstellung bzw. Katastrophensicht, die das körperliche und/oder psychische Überleben betrifft. Leben und Tod sind gleichzeitig unvereinbar. Das körperliche Überleben betrifft eine reale und/oder so vorgestellte Todesbedrohung (eine vorgestellte Todesbedrohung trifft z. B. in der Herz- oder Carcinophobie zu, wobei die Hintergründe der so wahrgenommenen körperlichen Bedrohung in der psychischen Bedrohung liegen. Sie werden von der Psyche auf den Körper verschoben.

 

    Dem psychischen Überleben bzw. psychischem Tod, einer tiefgreifenden Entwertung bzw. Kränkung, liegt die zugeordnete Bedeutung zugrunde, die Bilder einer vernichtenden Entwertung in Scham, Schande, Sünde (Todsünde), Schuld, Verachtung, Ekel und, was meiner Ansicht oft zu wenig beschrieben wird, der Lächerlichkeit und Blamage. Man könnte von einem Rufmord sprechen - Ein Beispiel ist, sozusagen vor Scham in den Boden zu versinken, oder für viele Menschen ist es die größte Schande, "das Gesicht zu verlieren". In der Ödipussage bedeutet die Blendung des Ödipus laut Patzer den sozialen Selbstmord. Er kann seiner Schande und Verachtung im Gegenüber nicht mehr ins Auge schauen. - Die Frage des psychischen Überlebens wie zutiefst empfundene Schande oder Schuld kann zur Frage des körperlichen Überlebens auch ohne äußere existentielle körperliche Bedrohung werden, wenn die Bedrohung bei Verleugnung der psychischen Komponente auf den Körper verschoben wird wie z.B. bei Herzinfarkt und vielen Carcinomen. Dabei spielt nicht, was ein Unbeteiligter ein reale Katastrophe nennen würde, sondern die persönliche Katastrophe bzw. das Erlebnis und die Bewertung die tragende Rolle. Ein Beispiel in anderen Kulturen ist der Voodoo-Tod, wobei jemand in der persönlichen Schande und Verachtung und damit Ausstoßung in den Augen des Umfeldes den körperlichen Tod sucht.

Die vernichtende Entwertung in den eigenen Augen und in denen des Gegenübers, der Rufmord, wird häufig als Niederlage erlebt und beinhaltet die Aufwertung, den Sieg oder Triumph des Gegenübers. Dies führt hinüber zum Gruppen- und sozialen Geschehen. Es kann sich ein zwischenmenschlicher Kampf um Sieg und Niederlage ergeben.

 

    Die Katastrophensicht beinhaltet Ohnmacht und Hilflosigkeit und dementsprechend Ohnmachtsgefühle. Folglich stehen hinter Ohnmachtsgefühlen normalerweise Katastrophensichtweisen, die mit der Realität gleichgesetzt werden, und ein Ohnmachtsverhalten entsprechend der angenommenen Realität implizieren wie in der Adynamie der Paniksituation. Dann ist die Folge, nämlich das Ohnmachtsverhalten, die eigentliche Katastrophe, weil nichts mehr zu machen ist und gemacht wird 

 

    Der aktuelle Hintergrund liegt oft anfangs nicht in der Person selbst, sondern liegt in einer anderen Person, die ihre eigene Vernichtungssicht verbal oder averbal in Gestik oder Mimik (wie schreckensgeweiteten Augen oder verächtlicher Mimik) mitteilt. Die Gedanken des einen werden somit zu den Gedanken des anderen. Es besteht vorübergehend eine Gedankengemeinsamkeit. Die Unterschiede können in den Bewertungen und der Beimessung des Realitätsgehaltes liegen. Im Falle der ungeprüften Übernahme bzw. Identifizierung mit der Sichtweise des anderen wird diese zur eigenen Katastrophensicht bzw. -realitätssicht. Insofern wird die Katastrophenvorstellung zu einem Gruppengeschehen. Am ausgeprägtesten spielen sich diese Identifizierungen naturgemäß in der Eltern-Kind-Beziehung ab, ja sogar in einer transgenerationellen Perspektive, die Urgroßeltern, die Großeltern und die Eltern haben schon so gedacht und empfunden. Kulturen entstehen auf dem gemeinsamen Hintergrund. Eine große Rolle spielen sie aber bei jedem Menschen während des ganzen Lebens.

 

Im Falle der Sympathie für einen anderen Menschen besteht die größere Neigung zur Gedankenübernahme und -beeinflussung. Infolgedessen wird von Menschen, die leicht die Realitätskonstruktionen anderer ungeprüft übernehmen, oft ein Wall von Mißtrauen und Antipathie aufgebaut, um nicht die eigene Identität zu verlieren. Vielfach wird das Mißtrauen, um die Kontakte nicht zu verlieren, als Reaktionsbildung in Vertrauensseligkeit umgewandelt. Dabei ist offenbar der Kontakt zum anderen wichtiger als die eigene Identität. Daraus ergibt sich, daß die zentrale Aufgabe bei der Wahrnehmung der Sichtweisen anderer die Überprüfung, der Vergleich mit den eigenen Sichtweisen und die Realitätsüberprüfung darstellt. 

 

Tragische Folgen

 

Das Tragische dabei ist, daß die Bilder gerade durch die Verleugnung und Spaltung eine starke Überhöhung erfahren. In den Polen sind ja die übrigen Teile mit enthalten. Somit ist das Tabuisierte, Unaussprechliche besonders schlimm. Der Vogel Strauß beschwört sozusagen die Gefahren, vor denen er den Kopf in den Sand steckt (Vogel-Strauß-Effekt). Er ist nicht in der Lage, sie auf ihren Realitätsgehalt zu überprüfen und zu entzaubern. Weiterhin unterliegt er der Illusion, wenn er nichts sieht, wird er nicht gesehen. Dadurch entstehen Wechselwirkungen und ein tragischer Zyklus, in dem das Verleugnete durch die Verleugnung selbst hochgespielt wird und gerade deshalb wiederum verleugnet werden muß. Eine weitere Tragik ist, daß durch die Spaltung zwar das Selbst vor der gefürchteten Vernichtung geschützt werden soll, gleichzeitig aber wesentliche vorhandene Anteile im Selbst-, Fremd- und Weltbild vernichtet werden. Dadurch entstehen gerade durch die Vermeidung der Vernichtung Verzerrungen und Paradoxien in der Person, dem Inhalt und der Bedeutung, die gerade das bewirken, wovor geschützt werden soll. Es kommt also zu massiven Störungen des narzißtischen Selbstbildes und einer potentiellen Bedrohung des homöostatischen Gleichgewichtes. So resultiert gerade aus der Verleugnung und Vermeidung der Desintegration eine potentielle weitere Desintegration.  

 

    Falls die befürchtete Katastrophe eintreten sollte, ist alles verloren, weil die Vorteile nicht gleichzeitig gesehen werden können. Es müssen alle Anstrengungen unternommen werden, diese zu verhindern. Oder es tritt eine Lähmung ein wie in der Paniksituation, eine Kaninchen-Schlange-Situation. Weiterhin haben die verleugneten Anteile eine starke Tendenz sich zu Wort zu melden, mitberücksichtigt zu werden und müssen sozusagen als begleitende Schatten gefürchtet werden. Man könnte daraus eine Psychologie des "Schattens" ableiten.

 

    Ebenso muß umgekehrt derjenige, der das Leben ausschließlich von der Gewinnseite sieht, immer die Verlustseite fürchten, und wird dazu neigen, die Gewinnseite zu überhöhen und als unangreifbar darzustellen - wie manche unverbesserliche Optimisten. In der integrierten Wahrnehmung sind sämtliche Nachteile und Mißerfolge von Vorteilen begleitet - jedes Ding hat ja mindestens 2 Seiten und auch Verluste und Nachteile habe ihre guten Seiten-, so daß Verluste und Mißerfolge nicht so vernichtend sein brauchen.

 

ZWISCHENMENSCHLICHE FOLGEN DER SPALTUNG     

 

Da es sich um ein umfassendes Thema handelt, kann ich nur einige mir wichtig erscheinende und sich für mich täglich wiederholende Aspekte zur Sprache bringen, so wie sie sich für meinen therapeutischen, aber auch privaten Alltag ergeben.

 

Ich halte es für eine menschliche bzw. zwischenmenschliche regelhafte Folge der Spaltung, daß der Einzelne bzw. die Gruppe sich im Vergleich mit dem anderen oder der Vergleichsgruppe, auf die sich bezogen wird, sieht. Daraus leite ich das Rechtsdenken und -empfinden ab. Der Mensch wird nicht mehr als Einzelner in seinem Wert oder Unwert, seinen verschiedenen Seiten und Unterschieden, gesehen, sondern im vergleichenden Bezug zum Umfeld. Den Vergleich halte ich im Falle des Ungleichgewichts für den wesentlichen Hintergrund von Konkurrenz und Neid wie unter Geschwistern, Freunden, Partnern und sozialen Gruppen. Fehlt dieser Vergleich zu einer bestimmten Person oder Gruppe, kann der Unterschied problemlos anerkannt werden. Äußerlich gesehen widersprechen sich Vergleich und Spaltung, da ja im Vergleich der Bezug vorhanden ist und in der Spaltung verleugnet wird. Man könnte es auch so sehen, in der (oft unbewußten) Katastrophensituation gelingt die scheinbare Aufhebung dieses Widerspruchs, sozusagen als Gedankentrick oder Denkfehler, und der zwischenmenschliche Vergleich unterliegt nun dem Spaltungsdenken. Dabei werden geradezu Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten geschaffen, die vermehrt Rivalität und Neid produzieren. Bei der Umgekehrten Spaltung und Gleichsetzung werden sämtliche Unterschiede nivelliert, um diesen zwischenmenschlichen Konflikten aus dem Wege zu gehen. 

 

 Es gibt keinen "guten" Menschen, ohne daß es gleichzeitig einen "schlechten" Menschen gibt. Umgekehrt gibt es keinen schlechten Menschen ohne einen guten. Nur werden bei der Spaltung diese Zusammenhänge nicht gesehen. Liegt eine vernichtende Selbstentwertung im Vergleich zum verglichenen anderen oder der Vergleichsgruppe zugrunde, muß der narzißtische Ausgleich zu den gleichzeitig Aufgewerteten gesucht werden. Dazu werden diesem die selbstentwertenden Eigenschaften wie Sünde, Scham, Schuld Verachtung und Lächerlichkeit zugewiesen (Projektion). Insofern werden die anderen miteinbezogen, und die Spaltung wird zu einem zwischenmenschlichen und Gruppengeschehen. Vor allem bei der Sündenbockstrategie spielt dies Geschehen eine grundlegende Rolle, wobei eine Einzelperson oder eine Gruppe die bösen Anteile der anderen mit übernimmt und der Bezug nicht gesehen wird. Eine zusätzliche Folge ist, daß im Falle der gleichzeitigen Selbstentwertung die Verglichenen infolge des verzerrten Unterschieds überhöht als toll, ideal oder problemlos wahrgenommen werden, wodurch als Folge vermehrter Neid entstehen muß. So kann sich ein Wechselgeschehen zwischen Selbstabwertung und -aufwertung und Fremdaufwertung und -abwertung abspielen.

 

 Zum Ausgleich der Selbstentwertung und so erlebten negativen Position, wobei die Vorstellung mit der Realität gleich gesetzt werden kann, und zur Vermeidung negativer Bilderanteile, die dann fürs Ganze gehalten werden, ist es von grundlegender Bedeutung positive Bilder im Gegenüber zu erzeugen. Das vordergründige Erscheinungsbild eines Menschen unter Ausklammerung anderer Seiten wird somit für die ganze Person gehalten und andere mögliche hintergründige Anteile verleugnet. Selbstdarstellung dient dann nicht zum Ausdruck der eigenen Person und zum zwischenmenschlichen Austausch ( analoge Mitteilung oder Dialog ), sondern zur Erzeugung bestimmter positiver Bilder im Gegenüber ( digitale Mitteilung oder Dialog ) z.B. Bilder eines guten Menschen, Perfekten, 100%igen, Erfolgreichen oder Starken. Die "weiße Weste" bzw. das Image, der Ruf, der gute Eindruck, das Gesicht oder die Erscheinung in den Augen anderer sind dann zentral wichtig. Anders ausgedrückt, der andere wird funktionalisiert. Dabei wird von den eigenen Gedanken und Realitätskonstruktionen ausgegangen, die nicht denen des Gegenübers entsprechen brauchen. So kann es passieren, daß um Achtung und einen guten Ruf gekämpft und sich bemüht wird, ohne daß dies nötig gewesen wäre, weil der andere die negativen Bilder nicht teilt oder davon ausgeht. Die inneren Bilder werden als äußerer Feind wie bei Don Quichotte als Windmühlenflügel bekämpft. Dabei kann auf das Gegenüber eingewirkt und dieses manipuliert und beiderseitige Verwirrung gestiftet werden.

 

    Allerdings bestehen in einer Familien- oder Dorfkultur oft gemeinsame Bilder und Relitätskonstruktionen.

Weiterhin kann das so erzeugte Fremdbild wiederum introjiziert und zum eigenen Selbstbild werden, das für die ganze Person gehalten wird. Wenn das gegenüber mich für stark o.ä. hält, muß es wohl so sein. Der andere hat den einzigen Zweck der Kompensation der eigenen Selbstentwertung. Durch die Mechanismen der Projektion und anschließenden Introjektion entsteht eine totale Unsicherheit des Selbstbildes bzw. der Selbstrealität, ob das Selbst z.B. nun gut oder böse ist. Gefürchtet werden muß weiterhin, daß der andere hinter die Fassade schaut und den wahren Kern oder das Selbst entdeckt, und beispielsweise das Potenzsymbol eines Porsches oder körperlicher Stärke für ein real vorhandenes Impotenzsymbol hält. Jemand hat es in den Augen anderer nötig.

      

    Die Abwehrmechanismen der Projektion und Introjektion gehören also auch zu den Spaltungsmechanismen. Bei der Projektion wird die eigene Person, häufiger Anteile der eigenen Person im anderen erlebt und der Zusammenhang geht verloren, während beim introjektiven Erleben Anteile der anderen Person im eigenen Selbst gesehen werden. Die Verhältnisse sind klar, entweder ich oder der andere ist z.B. der Böse.

       

    Schwieriger und unauflöslich wird es bei der Projektiven Identifizierung. Neben der Projektion des einen besteht gleichzeitig eine Identifizierung des anderen mit dem Gegenüber. Die Projektive Identifizierung spielt sich in engen Beziehungen wie in Eltern-Kind-Beziehungen oder unabgegrenzten Partnerschaften ab. Eine Mutter, die sich selbst als böse sieht und dies an das Kind abgibt, will gleichzeitig, daß der Böse der Gute ist, da das andere Selbst das eigene Selbst darstellt. Das Selbst muß auf das Gegenüber einwirken, damit dieser der Gute wird, wie er selbst es sein muß - muß, da vermeintliche Katasthrophen verhindert werden müssen -, wobei dieser projektiv gleichzeitig der Böse sein muß, weil der erstere selbst es ansonsten ist. Das Gegenüber wie das Kind wird sozusagen von innen in seinem Selbstbild regiert. Das Teuflische ist, daß somit eine unauflösliche Falle vorliegt, und das Gute oder Richtige nie zu erreichen ist. Durch die gleichzeitige Identifizierung mit dem Guten und Bösen entsteht eine innere Verwirrung und Zerrissenheit. Eigentlich spielen sich gut und böse nacheinander ab, aber die Zeitabfolge, Diachronie wird nicht erlebt.

       

    Dieser Mechanismus führt oft zu einem psychosenahen Zusammenhang von eng miteinander verstrickten Familienmitgliedern, wenn beispielsweise eine selbstentwertende Mutter ihre Negativanteile an ein Kind los werden und dieses gleichzeitig ihre Selbstaufwertung, sozusagen als ihr erweitertes Selbst, darstellen muß. Die Psychosenähe erklärt sich dadurch, daß der existentiell Abhängige in seiner Wahrnehmung gleichzeitig gut und böse sein muß (Double Bind). In dieser Situation kann man schon verrückt werden. Nur eine Betrachtung des Hintergrundes am anderen kann m. E. aus dieser unauflöslichen Falle herausführen.

       

    Da der Aufspaltende ausschließlich die Fassade eines Menschen sieht und diese für die einzige Realität hält, muß er die Lächerlichkeit in anbetracht eines so naiven und primitiven Weltbildes fürchten. Somit ist dabei paradox, daß zur Darstellung auch schwacher Anteile Stärke und Selbstsicherheit und zur Demonstration der Stärke die Schwäche gehört, nämlich sozusagen zu schwach zu sein, um sich Schwächen leisten zu können. Die Paradoxien gehören zum Spaltungsdenken.

       

    Genauso können negative Inhalte, Schwäche und Not mitgeteilt werden, um im anderen bestimmte Reaktionen wie Hilfsbereitschaft oder Bilder der Schuld, begleitet von Schuldgefühlen, hervorzurufen. Oder jemand teilt mit "ich bin so schwach und kann mich nicht wehren, also hast du rücksichtsvoll mit mir zu sein" und dominiert mit seiner Schwäche den anderen, der sich zwar stark fühlen mag, aber der real Schwächere ist. Dazu erzählte mir eine Depressive in einem Versprecher „...seitdem ich meine Familie mit meiner Depression regiere...“. Im aufspaltenden Weltbild herrscht also eine Digitale Kommunikation vor. Vielleicht ist zur Demonstration der Projektion ein guter Vergleich die Geste des Fingerzeigens. Wird die Hand des vorgestreckten Zeigefingers umgedreht, zeigen 3 ansonsten nicht sichtbare Finger zurück.

    

    Da es nicht von Interesse ist, die verschiedenen Seiten des anderen kennen zu lernen bzw. sich selbst mit den verschiedenen Seiten dem anderen bekannt zu machen, um so neues kennen zu lernen und sich und ihn zu bereichern, handelt es sich eigentlich nicht um einen Dialog, sondern eher einen Monolog. In den monologisierenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist das Leben verarmt und vieles geht verloren. Zuhören wird zu einer Strapaze, und es besteht für andere die Neigung, einen solchen Menschen zu meiden. Eigentlich hätte er Mitleid verdient, kann es aber nicht annehmen, weil es ja seine Schwäche bloßstellen würde. Außerdem macht er sich durch den dauernden Kampf um Sieg und Niederlage, möglichst der Niederlage des anderen, dermaßen unbeliebt und unsympathisch, daß kaum Mitleid aufgebracht werden kann, höchstens bei Betrachtung der hintergründigen Zusammenhänge.

       

     Umgekehrt kann jemand die Niederlagen geradezu auf sich ziehen z.B. als Sündenbock, indem er sich immer wieder in diese Situation begibt, und so zur Aufwertung der Umgebung beitragen. Meist ist er in einem Kontext aufgewachsen, wo seine Entwertung für die übrigen, von denen er existentiell abhängig ist, lebensnotwendig ist. Er stellt sich sozusagen als Opfer zur Verfügung, weil ihm unbewußt die Stärke des Gegenübers wichtiger ist als seine eigene Schwäche.

       

    So erzählte mir ein ehemals Drogenabhängiger, seine unveränderbare Tragik sei, jeder würde ihm seine Schwäche ansehen und sich dadurch aufbauen. Ihm war jedoch eher das Gegenteil anzusehen, er lächelte fortwährend genüßlich, und viele bekamen eher in seiner Nähe Minderwertigkeitskomplexe und Neidgefühle. Er nahm nicht wahr, wie erfolgreich es ihm gelungen war, sein inneres Selbstbild ins Gegenteil umzukehren. Ein Erytrophobiker zeigte durch seine häufige Gesichtsröte in Scham und Schuld seine Unterlegenheit an, sodaß sich jeder in seiner Anwesenheit stark fühlen mußte. Als Folge hatte er sich weitgehend zurück gezogen. Ein Gruppenpatient, in meinen Augen ein Borderline-Fall, brachte sich in Gruppen oft so ein, daß alle auf ihm herum hackten. Als Begründung führte er an – um Stärke zu trainieren.

     

    Das macht verständlich, warum das Leben des aufspaltend Denkenden im Grunde so langweilig ist. Mir ergeht es sogar bei der Beleuchtung der Spaltung von verschiedenen Seiten ein stückweit so. Es fehlt die Tiefe bei all den Vermeidungsmechanismen. Schließlich habe ich es mir in dieser Arbeit zur Aufgabe gemacht, die Mechanismen mit ihren Folgen und weniger die Inhalte darzustellen. Mir wird es zum Teil langweilig, und ich denke, ob nicht auch das Lesen und die Darstellung der Mechanismen eine Zumutung darstellt. Und die Würze mit Spots oder Vignetten von Falldarstellungen habe ich nur wenig eingeführt. 

     

    Bei der Spaltung, genausogut Gleichsetzung von Vorstellung und Gefühl werden entweder nur die Vorstellungen, häufig dann als Verstand oder Vernunft bezeichnet, sichtbar ohne die begleitenden Gefühlsanteile. Oder es wird von Gefühl oder Befindlichkeit gesprochen, gleichgesetzt mit der Vorstellung, ohne die zugrundeliegenden Vorstellungen. So kann es aufspaltend Vernunftsmenschen und Gefühlsmenschen geben. Der Vernunftspart wird oft Männern, der Gefühlspart Frauen zugeschrieben. Es herrscht dann ein entsprechendes Rollenverhalten, wobei jeder entsprechend seiner Realitätskonstruktionen so lebt, wie er meint zu sein. Dann können zwei innere Welten neben- und übereinander herrschen, wobei jeweils die eine über die andere herrscht. Im Konfliktfall ist die unbewußte Welt, da sie nicht integrierbar ist, die Herrschende. So können Gefühlsmenschen äußerst berechnend sein, und Verstandesmenschen von unbewußten ichdystonen Gefühlen beherrscht werden. Oder Männer herrschen über Frauen bzw. umgekehrt. Bei der Trennung von Kopf und Bauch, wobei die Gefühle, wie ich öfter höre, dem Bauch zugeschrieben werden, beherrscht der "Bauch" die Person. So kann ein schmerzender Bauch nicht nur die ganze Person in ihrer gegenwärtigen subjektiven Befindlichkeit, sondern auch das ganze Umfeld beherrschen. Im Sinne des Digitalen Dialogs kann der Bauch, ähnlich wie das Herz und andere Körperorgane - meist unbewußt - zur Beeinflussung des Umfeldes eingesetzt werden, da alle sich mit dem Bauch, Herz oder Rücken beschäftigen und evtl. den Kranken schonen müssen. Man spricht auch von sekundärem Krankheitsgewinn.

       

    Infolge der Abspaltung der Bedrohung und des Bösen muß dieses immerwährend gefürchtet werden. Da der Gefahr nicht näher ins Auge gesehen werden kann, wird sie als etwas Unbekanntes, Unsicheres gefürchtet, das immer auftauchen kann und allgegenwärtig gefürchtet wird. Überall wird der Teufel an die Wand gemalt. Es besteht eine Schwarzmalerei (Kassandra- oder Unkenrufe). Von den verschiedenen Möglichkeiten werden die negativsten ausgewählt, die mit der zukünftigen Realität gleichgesetzt werden wie bei der Angstneurose und der Phobie. Wenn die Bedrohung eingetroffen ist, befreit sie von der quälenden Ungewißheit, stellt im paradoxen Sinne die Sicherheit und ersehnte Eindeutigkeit dar, so daß sie oft durch die Handlungsweise herbeigeführt wird. Dadurch läßt sich gut die Angst vor Neuem, Fremden und vor Veränderungen erklären. Es fehlt ein Vertrauen in die Umwelt und die Zukunft.

       

    Ein weiterer Aspekt dabei ist, daß häufig die unerträglichen Anteile des Alten, also bestehenden Zustandes zur Erhaltung des Guten auf das Neue projiziert werden. Somit wird das Alte im Neuen gefürchtet und die Ängste potenziert. Unsicherheiten und offene Situationen mit ungewissem Ausgang sind folglich kaum erträglich.

       

    Die Gegenform der Entwertung, der Bedrohung oder des Bösen stellt die Idealisierung dar. Dabei werden die negativen Anteile nicht nur verleugnet, sondern tragen zur Überhöhung des Guten bei, einer Art unbewußten Trick, das Böse ins Gegenteil zu verwandeln und als Böses zu entzaubern und Gutes zu verzaubern.

       

    Im aufspaltenden Zustand neigt der Mensch dazu, verschiedene Aspekte einer Person auf 2 oder mehrere Personen zu verteilen. Die eigenen unbewußt als böse wahrgenommenen Anteile werden bewußt in der anderen Person wahrgenommen (Projektion). Das Ziel ist, sich selber als gut wahrzunehmen (wie im biblischen Bild des Pharisäers). Der andere dient als böser Teil des Selbst, als Selbstobjekt. Man könnte auch von einem Behälter sprechen, der Teile der eigenen Person aufnimmt. Umgekehrt werden die bösen Aspekte der anderen Person in der eigenen Person wahrgenommen (Introjektion), mit dem Ziel, das gute Objekt zu erhalten. Hinzu kommt oft noch der Mechanismus "pars pro toto", sodaß mit Teilaspekten die ganze Person identifiziert wird. In der Eltern-Kindbeziehung wird aufgrund der hierarchischen Beziehung - hierarchisch, da die Eltern im Besitz der Definitionen, Selbst- und Fremdbilder sind, während die Kinder diese noch nicht besitzen - meistens auf die Kinder projiziert (Sündenbock) und von den Kindern introjiziert, um beispielsweise die gute Mutter zu erhalten. Schließlich will jede Mutter eine gute Mutter sein, und jedes Kind eine gute Mutter haben, so daß die anderen Anteile an der anderen Person wahrgenommen werden müssen. 

       

    Die mit der Vorstellung bzw. gleichgesetzten Realität verbundenen Gefühle, Kränkung und Aggression auf den anderen werden bei der Introjektion als Wut auf die eigene Person erlebt (Autoaggression), eventuell auf den Körper verschoben oder psychisch im Selbst niedergeschlagen wie bei der Depression. Typischerweise kommt bei der Depression der Spaltungsmechanismus der Zeit "jetzt gleich immer" und Pars-pro-toto hinzu, sodaß eine gegenwärtige depressive Befindlichkeit für immerwährend gehalten wird, als etwas was sich nie ändern kann und wird und wobei alles schwarz und sinnentleert ist, und zu Hoffnungslosigkeit und verstärkter Depression führt. Anders dargestellt, ein zur Katastrophe erklärter Inhalt oder Teilaspekt wird als allumfassend und für alle Zukunft (evtl. auch auf die Vergangenheit zurückprojiziert - als schon immer) angesehen. Dieses "Schon-Immer", wobei die positiven Erfahrungen nicht wahrgenommen werden, kann allerdings Realitätsaspekten entsprechen, da das Spaltungsdenken schon vorher zu zumindest latenter Depression geführt hatte.

       

    Ein typisches, in der abendländischen Kultur weit verbreitetes Beispiel des Pars-pro-toto-Denkens ist die Realitätsvorstellung "Männer wollen nur das Eine". Dies führt für die Frau zu einer Kränkung, nur für das Eine mißbraucht zu werden und nicht mehr als ganze Frau anerkannt zu werden( häufig wird von Mißbrauch oder Ausnutzung als Sexualobjekt gesprochen ), und zu Rückzug und einem Libidoverzicht, aber oft nicht nur in der Sexualtät, sondern als Folge der Beziehungsaufgabe auch in anderen bereichernden potentiellen Beziehungserfahrungen. Aber nicht nur die Frauen haben diese Realitätsphantasien verinnerlicht, sondern die Männer ebenfalls, und verzichten ebenfalls, um nicht die Bösen zu sein. Oder sie wollen im Sinne einer Trotz- und Rachereaktion erst recht nur das Eine, ebenso wie manche Frauen, allerdings im Rollenverhalten weniger verbreitet, sozusagen "wenn du immer behauptest, daß ich der Böse bin und nur das Eine will, dann sollst du recht haben". 

       

    Dazu ein Beispiel: Ein früherer Gruppenpatient, ein smarter junger Homosexueller, erlebte im Urlaub, wie sich erotische und sexuelle Beziehungen unter seinen Bekannten entwickelten und meinte verächtlich "Die Männer wollten immer nur das Eine, so einer bin ich nicht!". Ich konnte mir gut vorstellen, wenn Frauen an ihm Interesse zeigten, enttäuschte er sie sozusagen durch sein Verhalten und mit der Aussage "ätsch, ätsch, ich bin homosexuell". Auf sein vermeintliches und von der Familie verinnerlichtes Tabu reagierte er mit der Durchbrechung eines noch stärkeren Tabus und übte in den Augen vieler noch größere "Schweinereien" aus, für die er mit ständigem Beziehungsabbruch bezahlte. Man könnte darüber spekulieren, ob diese Realitätskonstruktion mit der Folge des Libidoverzichts und der weiteren noch stärkeren Durchbrechung von Tabus, gleichzeitig auf Umwegen die Libido um den Preis der moralischen Disqualifikation und der weiteren Selbstbestrafungstendenzen wieder zu gewinnen, nicht eine Teilursache der Homosexualität darstellt. Die Mütter von Homosexuellen sehen im Gegensatz zu den Männerbeziehungen in den Frauenbeziehungen meist "Schweinereien". Mit Männern können ihnen ihre Söhne sozusagen nicht untreu werden.   

       

    Im Konfliktfall kann das Pars-pro-toto-Denken zu vermehrter Kränkung und Streitverschärfung führen. Wenn ein Konfliktpartner wütend wird oder sich beschwert, kann es passieren, daß der andere grinst oder lacht. Der Erstere fühlt sich ausgelacht und übersieht andere mögliche Hintergründe des Lachens wie Kompensation von Unsicherheit und Hilflosigkeit, Umwandlung von Betroffenheit ins Gegenteil und Distanzsuche durch Identifizierung mit der Position des Außenstehenden, der das Ganze lächerlich finden würde. Gerade durch die Betroffenheit und die Furcht vor der Niederlage wird die Aggression abgespalten, an den Partner delegiert und in einen kurzfristigen Sieg umgewandelt.

       

    Vor allem bei schwer narzißtisch Gestörten erlebe ich es häufig, daß sie ihre Ohnmachtsvorstellungen und -gefühle ins äußere Gegenteil verwandeln und bei für sie ernsten bis tragischen Inhalten ständig lächeln und grinsen, so als ob das alles sie gar nichts angehe und sie gar nicht einbezogen wären. Ihre innere Niederlage wandeln sie sozusagen in einen äußeren Triumph um. Somit kann die Angst vor der Lächerlichkeit abgewehrt werden, indem sie in Identifikation mit dem anderen selber lächeln und sich somit nicht der Lächerlichkeit ausgeliefert fühlen. Die Übernahme der Position des Außenstehenden und Verleugnung der eigenen Einbezogenheit dient zur Aufrechterhaltung des narzißtischen Gleichgewichts. - In Gruppen habe ich es häufig erlebt, daß sich jemand darüber beklagte, daß er für besonders selbstsicher, souverän, oft sogar hochnäsig und arrogant gehalten werde, wo er doch so unsicher und ängstlich sei. Im Gespräch wurde deutlich, daß es für ihn die größte Schande bedeutet hätte, wenn die Umgebung die innere Unsicherheit wahrgenommen hätte. Weiterhin läßt sich fragen, warum sie sich beklagen, so mißverstanden zu werden, statt stolz und glücklich zu sein. Die Antwort war, es sei ihnen wichtiger verstanden zu werden. Die Ambivalenz wurde zugunsten der Vermeidung der Bedrohung entschieden. Andere Antworten bei der Frage, warum sie ständig grinsten, wo doch die gegenteilige Befindlichkeit bestand z. B. "solange ich noch lachen kann, kann es nicht so schlimm sein" oder "wenn mir das jemand anderes erzählen würde, könnte ich nur lachen".

   

    Man könnte diesen Zusammenhang auch auf dem frühkindlichen Hintergrund sehen, wo Konflikte übernommen wurden, die ursprünglich nicht die eigenen waren. Es wird verleugnet, daß durch die Verinnerlichung es jedoch heute die eigenen sind. Ähnlich könnte man eine aktuelle spontane Delegation von Schuldvorstellungen und -gefühlen an andere auf dem ursprünglichen frühkindlichen Zustand der Schuldfreiheit verstehen. Die früheren Bezugspersonen sind ja auch im Schuldkontext schuld an der gegenwärtigen Schuld. Manche im Schuldkontext Verhafteten haben in der Umkehrung demzufolge ein Form der Selbstdarstellung von Unschuld, Naivität und Reinheit.

    

    Neben dem Spaltungsmechanismus in der Zeitdimension, jetzt = immer, spielt die Verwechslung bzw. Gleichsetzung im Vorher und Nachher, die Diachronizität eine Riesenrolle. Vorher ist gleich nachher, nachher gleich vorher. Dabei wird der zeitliche Ablauf nicht als kontinuierlicher Fluß erlebt. Gekoppelt mit der Gleichsetzung von Vorstellung und Realität führt er zu brisanten Konflikten. "Obwohl ich es genau wußte oder gewußt hätte, habe ich ganz anders gehandelt". Das Nachher des Ergebnisses einer Handlung wird ins Vorher der Vorstellung eines möglichen Ergebnisses hineingenommen und gleichgesetzt. Dies führt zu einer Besserwisserei im intrapsychischen wie im interpersonellem Bereich "Du (oder ich hätte) hättest es wissen müssen" oder "Wir haben es gewußt, Dir schon vorher gesagt".      

   

    Dieser Mechanismus fiel mir bei einer Patientin mit beginnender Multipler Sklerose immer wieder auf. Z. B. hielt sie sich nachträglich vor, wider besseres Wissen ihre Partnerschaft, die schief gegangen war, eingegangen zu sein. Gedanken, daß Partnerschaften schief gehen können, muß man immer haben, aber gewußt haben kann sie das nicht. Oft stehen auch Prophezeiungen des Umfeldes dahinter, gegen die sich trotzig gewehrt wird, und eine eigene Beurteilung bleibt im Trotz aus.  Sie hielt ihre vorherigen Gedanken für Wissen. Daß es sich um eine Verwechslung von Vorstellung bzw. Phantasie und Realität handelt, entnehme ich meiner Vorstellung, daß der Mensch in einem komplexen Geschehen den nach seiner Vorstellung besten Weg wählt, sozusagen nach bestem Wissen und Gewissen handelt, auch wenn ihm Teilaspekte seiner Motivation (innere Realität) nicht bewußt sind. Infolgedessen haben Vorwürfe z.B. von Kindern an die Adresse von Eltern oder umgekehrt wenig Sinn, da die anderen zurecht behaupten können, nach besten Wissen und somit Gewissen gehandelt zu haben. Sie haben es in anbetracht komplexer bewußter und unbewußter Motivationen nicht besser gewußt. Diese Vorwürfe gehen von der Konstruktion eines perfekten Menschen, ohne verschiedene widersprüchliche Seiten, aus, den es naturgemäß gar nicht gibt.

       

    Zum Vorher und Nachher und Jetzt oder Nie rechne ich die Möglichkeit der nachträglichen Wiedergutmachung. Meist wird unter Wiedergutmachung der Ausgleich einer Schuld anderen gegenüber verstanden. Hier meine ich die innere gegenüber der eigenen Person zur Wiederherstellung der inneren Stabilität. Wenn dem Aufspaltenden im  Streitfall jetzt diese oder jene Argumente nicht einfallen, so hat er auch nachher und nie die Möglichkeit diese zu artikulieren und die verlorene Position wieder gutzumachen - nach dem Motto "wenn nicht jetzt, dann nie mehr". Der integrativ Denkende hat durchaus die Möglichkeit, das was ihm jetzt nicht eingefallen ist, später einzubringen und Zusagen oder Entscheidungen zu revidieren. Er wird sich z.B. sagen können, daß ihm nicht alles in jedem Augenblick einfallen kann. Oder er wird sich eine Bedenkpause offen halten. Allein schon die Bedenkpause ruft beim Aufspaltenden Unmut und Kränkung hervor, weil er selbst auch automatisch in der Subjekt-Objekt-Gleichsetzung, ohne zu überlegen "ja" gesagt hätte.

 

    Weiterhin kann eine Wiedergutmachung darin bestehen, wenn z.B. jemand kritisiert wird, diesen oder jenen Fehler begangen zu haben oder eine schlechte Eigenschaft zu besitzen, nach dem Schritt der 1. Übernahme, also persönlich getroffen und gekränkt zu sein, den 2. Schritt zu unternehmen und die Kritik und den Kritiker auf Hintergründe hin zu beleuchten, die durchaus nicht in der eigenen Person liegen müssen oder die Handlungen nach eigenem besten Wissen erfolgten. Dann sieht der Sachverhalt oft ganz anders aus. Die Kritik steht mit Sichtweisen und Erwartungen des Kritisierenden in Zusammenhang, oft Riesenerwartungen, die realistischerweise kein Mensch erfüllen kann, oder Ansprüchen, auf die er durch Vorleistungen ein Anrecht zu haben glaubt und sein Gegenüber festzulegen versucht. Oft stecken auch Projektionen dahinter, wodurch sich der Kritisierende von Selbstkritik reinzuwaschen versucht. Eine Betrachtung der Hintergründe und Zusammenhänge ist zur eigenen Rehabilitation also auf jeden Fall lohnenswert.

       

    Bei zeitlich versetzter Spaltung kann man auch von Diachroner Spaltung (Stierlin) sprechen. Bei ihr wird z.B. ein Mensch zuerst in den Himmel gehoben und bei der ersten Wahrnehmung negativer Eigenschaften in die Hölle verdammt. Infolgedessen wird im Spaltungsdenken das Verliebtsein oft so problematisch. In das Liebesobjekt werden sämtliche idealen und gewünschten Selbst- und Objektanteile hineinprojiziert, die normalerweise nicht der Realität entsprechen und erfüllt werden können. Das Ziel ist es, das Stadium höchsten Glücks zu erreichen. Dann wird es nach der Wahrnehmung nicht idealer Anteile zum einen anstrengend und quälend, die positive Idealisierung und Idealbeziehung aufrecht zu erhalten, zum anderen die Entwertung gefürchtet und gleichzeitig angestrebt, weil sie einer Erlösung gleichkommt. Außerdem wird das höchste Glück vor allem dann gesucht, wenn viel Unglück vorherrscht, und die Mechanismen des Unglücks und deren Realitätskonstruktion wird sich bald wieder durchsetzen. Kein Mensch kann nur gute Eigenschaften haben. Infolgedessen ist die große Liebe so zerbrechlich. Ein differenzieret und integrativ wahrnehmender Mensch wird meist etwas auszusetzen habe und deswegen selten länger total verliebt sein. Aus der meist unbewußten Furcht vor der diachronen Entwertung können in einem derartig denkenden Zusammenhang aufgewachsene Menschen gute zugeschriebene Eigenschaften und Lob schwer annehmen oder versuchen gleich die Inhalte herunterzuspielen 

       

    Der Mechanismus der Gleichsetzung von subjektiv und objektiv führt oft zu schweren zwischenmenschlichen Auseinandersetzungen. Verschiedene subjektive Inhalte und Meinungen sind neben- und nacheinander unvereinbar - wie bei rechthaberischen Streits. Eine subjektive und für objektiv als Tatsache gehaltene Meinung oder Wahrnehmung oder ein als ganzes dargestellter Teilaspekt provoziert im Gegenüber zur Selbsterhaltung die Übernahme einer entgegen gesetzten Position, ebenfalls seine subjektive Position objektiv bzw. den Teilaspekt als ganzes darzustellen. Etwa in einem familiären oder religiösen Kontext bestehen zusätzlich viele gemeinsame gleichsetzende Bilder. Da der Zweite sich in seiner Subjektivität übergangen und der Erste ebenfalls in seiner subjektiven Objektivität nicht anerkannt fühlt, entsteht ein Kampf, wer nun objektiv recht hat, um Sieg und Niederlage - obwohl eigentlich jeder für sich subjektiv recht hätte und beide Teilaspekte nebeneinander Platz hätten. Das Grinsen im Antlitz des Gegenübers stellt die größte Niederlage dar. Infolgedessen grinsen und lachen viele sich schwach und unterlegen Wahrnehmende so viel wie oben erwähnt. Sie sind nach außen immerwährende Sieger und müssen die Bloßstellung fürchten. Der Schwächere und Unterlegene muß natürlich zusehen, in die obere Position zu gelangen, wiederum recht zu bekommen, so daß der nächste Streit vorprogrammiert ist. Die Rechthaber, die Gleichsetzer von subjektivem und objektivem Recht machen sich so das Leben schwer. Das "Sich-Durchsetzen" auf der Spaltungsebene ist also ein Pyrrhussieg. Laut christlicher Mythologie wird das Leben zum irdischen Jammertal.

       

    Diese Mechanismen spielen bei vielen Störungen im Sinne von Krankheit wie z.B. bei der Phobie eine tragende Rolle. Im phobischen Zusammenhang besteht demzufolge eine immense Angst vor immerwährendem Streit und eine massive Streitunterdrückung und -tabuisierung, wobei sich jeder unterdrückt und keiner in seiner Position anerkannt fühlt, als Folge dagegen opponieren muß, die Aggressionen an allen Ecken und Kanten meist in Form von spitzen Bemerkungen hervorbrechen. Die an und für sich gute Absicht der Streitvermeidung und Harmoniesuche provoziert also geradezu den Streit. Als Folge sind alle miteinander zerstritten, das Klima wird unerträglich, was neben der Nichtachtung die eigentliche Katastrophe darstellt, und jeder möchte entfliehen. Das ist aber gleichzeitig verboten und wird gefürchtet, da es mit mannigfachen Ängsten besetzt ist.

       

    Streit ist aber nicht gleich Streit. Man könnte, polarisierend mit sämtlichen Zwischenstufen, zwei Streitformen unterscheiden. Einmal die beschriebene Form innerhalb des Spaltungsdenken, dem absoluten Rechthaben, die zu immerwährendem Streit und zu Zerwürfnissen führt, zum anderen die Streitform innerhalb des integrativen Denkens, wobei die jeweiligen subjektiven Positionen anerkannt werden. In diesem Fall führt Streit eher zur Klärung, Bereinigung, letztlich zu Harmonie, entsprechend dem Titel des Buches von Bach/Wyden "Streiten verbindet". Auch ist die Wahrnehmung und Darstellung der subjektiven Standpunkte und Befindlichkeit eher interessant und bereichernd, die Akzeptanz vermittelt Sicherheit und Geborgenheit, läßt über den eigenen Tellerrand hinweg gucken. Aber im Zustand der Bedrohung ist dies schlecht möglich.

       

    Entsprechend dem Denk- und Wissensstand der Mitglieder im Unvereinbarkeitsdenken sind phobische Arrangements mit einem designiertem Patienten häufig noch die beste Lösung. Dabei werden die Ängste vor Aggressionen und Streit zugleich mit den unterdrückten libidinösen Wünschen z.B. auf die Straße verschoben, wie bei der Agoraphobie, wohin meist das Aggressionsobjekt wie der Ehepartner als Schutz vor den Ängsten und Wünschen die Begleitung darstellen muß. Dies Arrangement kann gleichzeitig als Schutz, Hilfe, Bestrafung und Rache an dem anderen durch dessen Einengung und gleichzeitiger Aggressionsunterdrückung angesehen werden. Eine zerstrittene Beziehung wird somit in eine äußerlich harmonische Beziehung umgewandelt, wo einer für den anderen da ist, ihm hilft und schützt.

       

    Die (ob Claustro-, Agora-, Herz-, Carcino- und neuerdings Aids-) Phobie, ähnlich wie andere Störungen und Krankheiten, stellt gewissermaßen eine pathologische Kompromißbildung bei der Unvereinbarkeit von Autonomie versus Gemeinsamkeit bzw. Geborgenheit und Sicherheit beim Bezugspartner dar. Dabei wird diese Spaltung vom frühkindlichen Bezugspartner auf den heutigen übertragen, sozusagen früher und heute gleichgesetzt. Die Spaltung autonomer Schritte, meist reale "Untreue" oder Untreuewünsche, und fortbestehende Bezogenheit zu den Partnern, wird auf krankhaftem Wege überwunden.

        

    Ein weiteres makaberes Beispiel dazu, wo der Konflikt nicht allein auf der Partnerebene beschränkt bleibt, sondern ein Kind einbezogen ist: In einer Familie herrscht eine erstickende Athmosphäre, beispielsweise in dem ständigen Streit, ob der Partner mehr auf seine Eltern oder einen Elternteil wie die Mutter als auf seinen Ehepartner bezogen ist, die oft noch im gleichen Haus wohnt und ständig dazwischen redet, alles besser weiß und überall bevormundet. In diesem innerfamiliären Klima kann das Kind einen Erstickungsanfall bis zum Asthma bekommen, und beide Partner sind in dem Bemühen vereint, dem Kind zu helfen. Ihr Streit ist übe das Asthma des Kindes geschlichtet.  - Das Wort "Klima" wird meist auf ein außerfamiliäres Klima (Wetter, Pollen) verschoben, weil die beteiligten Familienmitglieder, dem Schuldkontext bzw. der Schuldzuschreibung verhaftet, sich sonst schuldig fühlen würden. Die Schuldzuweisung würde die Konflikte noch verschärfen, sodaß die Außenprojektion noch eine Entlastung darstellt. - Das Kind stellt eine Art Blitzableiter dar. Es mag auch an der Aggressionsunterdrückung über den ewigen Streit der Eltern ersticken. Und dann kann es passieren, wie mir eine früherer Asthmatiker erzählte, daß beide Eltern, wenn sie es geschafft habe, das Kind zu retten, sich glücklich in den Armen liegen. So wird auf Kosten eines Kindes, das sich im Mittelpunkt der Familie sieht und dadurch teilweise zur Krankheit verführt wird, - dazu hörte ich den Ausspruch eines Kindes nach erfolgreicher Asthmatherapie "aber schön war es doch!" -  eine zerstrittene Beziehung in eine harmonische bzw. pseudoharmonische Beziehung umgewandelt.

 

    Noch einige Zeilen zum Schuldkontext bzw. der Schuldzuschreibung, die für das Spaltungsdenken typisch ist: Wenn eine Sache schief geht, an der mehrere beteiligt sind, wird meist einer oder eine Gruppe als "schuldig" bezeichnet. Dabei wird die Beteiligung der übrigen geleugnet, also deren "Mitschuld". Wem es gelingt, die Schuld anderen zuzuschreiben ist, ist aus dem Schneider. Zur Depression gehört, sich selber die Schuld zuzuschreiben. Darunter wird gelitten. Laut christlichem Glauben wird der Mensch schuldig geboren, der Erbsünde, wobei ich persönlich mehr den Sündenfall in der Schuldrealitätskonstruktion sehe. Manche Ungeborene werden schon schuldig an den Schwangerschaftsbeschwerden, als Neugeborene an den Geburtskomplikationen und als Kleinkinder an mannigfaltigen Krankheiten ihrer Mütter angesehen. An diesem Makel können sie ein Leben lang tragen und durch Wiedergutmachungsantrengungen an ihre Mütter gebunden bleiben. Dieser Zusammenhang ist mir aus Therapien sehr vertraut. 

 

Bei der Darstellung einer phobischen Familiendynamik, aber auch bei anderen Formen der pathologischen Familiendynamik, meldet sich bei mir in der Gegenübertragung das Gefühl des Überdrusses. Ich kann kaum noch zuhören - meiner Ansicht nach in der Gegenübertragung eine Wiederspiegelung der Innenbefindlichkeit des Patienten. Schließlich ergeht es ihm nicht anders als mir, nur ist er in weit höherem Maße betroffen, was oft geleugnet wird. Wenn besonders wenig Freiräume bestehen und weitere tiefgreifende Spaltungssmechanismen mit den gefürchteten Katastrophen das Leben unbewußt hoffnungslos erscheinen lassen, können nach meinem Erkenntnisstand schwere chronische organische Erkrankungen wie z.B. die Multiple Sklerose die Folge sein. Der designierte Patient kann nicht mehr entfliehen, weil sein Bewegungsapparat betroffen ist. Er läßt sich zum kleinen sekundären Krankheitsgewinn, gleichzeitig als Rache zum narzißtischen Ausgleich, und in allseits bewunderter und bemitleideter heroischer Dulderhaltung im Rollstuhl spazieren fahren 

       

    Zu ähnlichen interpersonellen Kreisläufen kann die Gleichsetzung bzw. Koppelung von Wunsch und Erfüllung führen. Wunsch bedeutet dann Anspruch, eventuell noch verschärft durch die Gleichsetzung von Wunscherfüllung mit Wert- und Liebesbestätigung.  Beide Partner sind an die Erfüllung gebunden, sowohl der Wünschende durch seinen eigenen Anspruch, als auch der Erfüllende durch den Anspruch des anderen. Der eine kann nicht loslassen und verzichten, die Position des anderen ist außer Kraft gesetzt, wie er dazu steht und ob er überhaupt erfüllen will. Infolge seiner Nichtbeachtung muß er sich zur Selbsterhaltung automatisch dagegen wehren, auch dann wenn er ansonsten gerne den Wunsch erfüllt hätte. Die Koppelung von Wunsch und Anspruch stellt also eine Provokation zum Trotz dar. Es entsteht ein Kampf um Sieg und Niederlage. Normalerweise ist der Beanspruchende der Meinung, daß er schon so viele Wünsche erfüllt oder so oft verzichtet habe, daß er jetzt endlich ein Recht auf Erfüllung habe. Oft hat er auch versucht durch Vorleistungen in seinen Handlungen, seinem Altruismus bzw. seiner Opferhaltung, den anderen auf die Erfüllung zu verpflichten. Der eine gerät sozusagen in den Besitz des anderen, woraus eine Art Besitzdenken resultiert.

       

    Ebenso wird auf Wünsche verzichtet, wenn die Nichterfüllung als Realität vorausgesetzt wird. Ein Risiko einzugehen und Wünsche zu artikulieren, hätte die Offenheit der Situation vorausgesetzt. 

       

    Entwicklungsgeschichtlich wurde oft von den prägenden Primärpersonen verinnerlicht, daß Wunsch automatisch ohne Berücksichtigung der eigenen Person Erfüllung zu bedeuten habe. Es wird ein automatischer, vorauseilender Gehorsam oder Kadavergehorsam gefordert. Wiederum von einer anderen Seite beleuchtet - indem die eigenen Wünsche in den anderen projiziert werden, versucht der eine häufig den anderen auf seine Leistungen vorweg zu bestimmen. Ein Beispiel sind die Eltern, die meinen, alles für ihr Kind getan zu haben, und ewige Dankbarkeit erwarten - so wie ihre eigenen Eltern schon alles getan hatten und Dankbarkeit erwarteten. Loslösung ist meist nur unter größten Schuldgefühlen möglich, wobei das Vorhandensein von Schuldgefühlen schon partiell die Beziehungskonstanz und Selbstbestrafung beinhaltet.                       

       

    Dazu gehört auch die Koppelung von Verstehen und Handeln. Verständnis für den anderen heißt sozusagen wie selbstverständlich in seinem Sinne zu handeln - oft ein aus den Primärbeziehungen verinnerlichte Denk- und Handlungsverknüpfungen. Im Falle der Eifersucht mag das Verständnis für die Schmerzen des einen zur Verknüpfung mit dem Unterlassen der Handlungen verbunden sein. Übersehen wird dabei, daß der Eifersüchtige durch seine Kränkungen, Verlustängste oder eigenen Fremdgeh- und Untreueverzichte bei sich selber das Leid hervor ruft, und der andere lediglich eine Art Auslöser darstellt. Der andere ist sozusagen am Leid schuldig, das ich mir selbst verursache - durch die Projektion eine Art Personenverwechslung.

        

    Ein ähnlicher Zusammenhang besteht, wenn Bitten oder Fragen als Befehle herangetragen werden, oft mit befehlender Stimme "der Ton macht die Musik" oder befehlendem Blick oder auch in äußerlich harmloser Form wie Bemerkungen "sei doch nicht so.." oder "du kannst doch mal.., .. diese Kleinigkeit.., stell dich nicht so an..",. Derartige Floskeln können eine ungeheure Macht ausüben, wenn diese Mechanismen nicht durchschaut werden. Es entsteht ein Zwiespalt zwischen Selbstbehauptung gleich Sieg und Erfüllung gleich Niederlage.

       

    Im therapeutischen Prozeß merke ich an der Gegenübertragung, wenn eine in der äußeren Form harmlose Frage an mich herangetragen wird, dadurch, daß in mir sich alles gegen eine Beantwortung sträubt, und ich mich völlig in der Falle fühle. In der Falle fühle ich mich deshalb, weil gerade durch die Harmlosigkeit der Frage meine Selbstbestimmung außer Kraft gesetzt ist und voll über mich bestimmt wird, sodaß ich mich sozusagen mit allen Fasern meines Körpers dagegen wehren muß.  Wenn ich auf eine harmlose Frage eine harmlose Antwort gäbe, wäre dem brisanten interpersonellen Geschehen die Spitze abgebrochen. Es hätte sich nach Klüwer ein Handlungsdialog ergeben (negativ ausgedrückt - Gegenübertragungsagieren), der später oft noch ansprechbar gewesen wäre (wenn nicht jetzt, dann später!), jedoch wäre die dahinterstehende Problematik des Patienten im Augenblick nicht bearbeitet worden. Meist steht eine Angst dahinter z.B. vor Nichtwunscherfüllung bzw. Wunschverweigerung auf dem Hintergrund, schon so oft verzichtet zu haben, die durch Beherrschung (Manipulation) des Gegenübers ausgeglichen und ungeschehen gemacht werden soll. Gerade die harmlose Verkleidung macht die Falle so schwierig. In der Umkehrung kann dieser Prozeß in einer Art Rollentausch Auskunft über die Ängste und Interaktionsmechanismen dieses Patienten und die zugrunde liegenden Primärbeziehungen geben. So ist es mit ihm selbst geschehen, und so hat er verinnerlicht zu interagieren.                                                                         

       

    Bei diesen Beispielen der Gleichsetzungen wie subjektiv = objektiv, Wunsch = Erfüllung, Verstehen, Fragen, Bitten = Handeln ist das Gemeinsame, daß die Subjektivität und Individualität nicht anerkannt bzw. geachtet wird. Zum einen ist diese grundsätzliche Nichtachtung die Katastrophe, zum anderen die daraus resultierenden endlosen Streitigkeiten. Zur Erhaltung des zwischenmenschlichen Zusammenhangs kann das Krankheitsarrangement entsprechend dem Wissen und den inneren Realitäten vorläufig noch die beste Lösung sein, entsprechend meiner Vorstellung, daß der Mensch schon automatisch die für sich beste Lösung sucht. Wird die Subjektivität anerkannt, werden Entscheidungen unter Beachtung des Einzelnen getroffen, nicht über seinen Kopf hinweg, kann zurückgesteckt, verzichtet und nachgegeben werden. Die Unnachgiebigkeit setzt folglich die Nichtachtung bzw. die verinnerlichte Nichtbeachtung voraus. 

       

    Ein nach aufspaltenden und gleichsetzenden Mechanismen lebender Mensch lebt in immerwährender Angst, muß laufend fürchten, aus weiß wird plötzlich schwarz, aus gut böse, aus richtig falsch, seine subjektive objektive Wahrheit ist objektiv falsch. Er muß zur Verhinderung seiner Ängste Einfluß und Macht auf andere ausüben, daß sie um jeden Preis seine Realitätsvorstellungen übernehmen, im Jetzt auf die bedrohliche Zukunft einwirken, immenses leisten und kommt doch nie zum Ziel, weil es das Ziel, die absolute Harmonie und die gute Welt nicht gibt, in der alle gleich sind und gleichzeitig die gleichen Wünsche und Interessen haben. Er ist an die Erfüllung seiner Ansprüche an sich selbst und an die anderen gebunden. Er muß erzwingen, daß falsches wahr, böses gut ist wie z.B. in totalitären Regimen. Durch die Nichtbeachtung seiner Subjektivität und die der anderen schafft er fortwährend Streit und Disharmonien, wo er doch selbst immerwährend die Harmonie, Klarheit und Eindeutigkeit sucht. In der griechischen Mythologie ist dieser Tatbestand in der Sisyphossage festgehalten. 

       

    Die Gedankenspaltung scheint mir gut getroffen mit dem Wort "hirnrissig". Er bezeichnet die anderen als hirnrissig, die doch in seinen Augen so völlig gegensätzliche Unvereinbarkeiten unter einen Hut bringen, während diese ihn aufgrund seiner mangelnden Integration, nämlich durchaus Widersprüche unter einen Hut zu bringen, durchaus berechtigt als hirnrissig bezeichnen. Beide sehen sich nach ihren Normalitätsrealitätsvorstellungen als normal an.

         Bei diesem ohnmächtigem und hoffnungslosen Kampf um Anerkennung, Achtung und narzißtischer Rehabilitation gehen selbstverständlich große Teile des Lebensgenusses bzw. der libidinösen Selbstverwirklichung verloren, zumal da die Entwertungen vor allem libidinöse Strebungen betreffen. Das Leben ist "ziel"- oder "erfolgs"-orientiert und kann nicht einfach als persönlicher Lebensweg mit den verschiedenen Seiten, Erfolgen und Mißerfolgen, gelebt werden.  Und falls sich über die Schande, Schuld o.„. hinweg gesetzt wird, wird der Genuß gleichzeitig oder im nachhinein durch Schuldgefühle getrübt oder muß mit Wiedergutmachungsanstrengungen bezahlt werden. Dadurch werden die Sichtweisen jedoch gleichzeitig aufrecht erhalten und bestätigt.                   

       

    Die Herrschaft der Mechanismen macht das Leben fade, langweilig und hoffnungslos ( siehe, Sartre und der Existentialismus, "Im Räderwerk" u. a.). In der Gegenübertragung meldet sich bei mir neben dem Gefühl des Überdrusses das Gefühl der Langeweile, ich phantasiere "immer dasselbe, derselbe Kreislauf". Den Patienten geht es genauso. Sie haben schon gar keine Lust mehr, immer über dasselbe zu erzählen.

       

    Andererseits bedeutet Integration, Anerkennung der verschiedenen Seiten und Aspekte bei sich und bei anderen Personen, sogar die Ambivalenztoleranz und gedankliche Durchdringung der komplexen Hintergründe Genuß und Bereicherung - die Lust an der Erkenntnis. Dieser Genuß ist für mich neben voranschreitenden Klärungen eine wesentliche Motivation zur schriftlichen Niederlegung dieser für mich so gesehenen Zusammenhänge, wenn es mir auch vielfach so geht, immer dasselbe aus den verschiedensten Perspektiven.

       

    Die einzigen Möglichkeiten des Lebensgenusses im Spaltungsdenken bestehen in dem narzißtischen Genuß und Gewinn (narzißtische Libido) der Selbstaufwertung und der Fremdabwertung, außerdem in der Lust an dem Verbotenen "die verbotenen Früchte schmecken am besten", der Schadenfreude und der Rache und Rachegelüste "Rache ist süß" -  der narzißtischen Wiedergutmachung und des inneren Ausgleichs, die allerdings wiederum Wiedergutmachung erfordern. Auf die Lust am Verbotenen führe ich die Faszination am sogenannten Halbwelt- und Rotlichtmilieu in Bars, Bordellen, Homosexuellen- und Transvestitenmilieu zurück. Dies sind Bereiche der gesellschaftlichen Tabus, die gerade durch die Tabusetzung und die damit verbundene Lustunterdrückung im Sinne einer Kompromißbildung durchbrochen werden müssen.

       

    Wird der Aufspaltende mit den Ambivalenzen, sowohl den eigenen als auch denen des Gegenübers konfrontiert, so gerät er völlig durcheinander, da sie für ihn das reinste Chaos bedeuten. Meist wird er unruhig und böse, wirft dem Gegenüber vor, dieser solle doch endlich klar und deutlich mitteilen, was eigentlich sei oder er wolle. Dies kann das Gegenüber ebenfalls dazu verführen, um der Klarheit willen wesentliche Teile seiner selbst zu unterdrücken. Eltern suchen ihre Kinder in ambivalenten, ausprobierenden Situationen auf eindeutige und klare Eigenschaften, Wünsche und Ziele jetzt und für alle Zeiten festzulegen. So mag eine Mutter ihrem Kind vorhalten "gestern wolltest du noch Bratwurst, heute Pfannekuchen. Was willst du eigentlich? Du mußt endlich mal wissen, was du willst!" - so als ob es keinen Geschmackswandel gäbe, daß ein Kind mal dies und jenes möchte. Manche Eltern erwarten schon im Kleinkindesalter von ihren Kindern Klarheiten und Eindeutigkeiten, die naturgemäß nicht mal Erwachsene erfüllen können und womit sie völlig überfordert sind. Die Kinder sollen dann als idealisierte Selbstobjekte die klare Welt realisieren, die die Eltern selber nicht in sich haben und schaffen können.

       

    Falls die Kinder diese Vorstellungen zu Selbstinstanzen verinnerlichen, was sie zwangsläufig tun, wenn nicht eine Person mit Alternativvorstellungen anwesend ist, diese deutlich vertritt und durchaus Streit riskiert, meinen sie von sich selbst, alles vorher klar und deutlich wissen zu müssen, nichts mehr verändern, Ambivalenzen nicht zulassen zu können. An diesem Beispiel zeigt sich, daß Unterschiede in den Realitätskonstruktionen, falls sie anerkannt und revidierbar sind, durchaus förderlich im Reifungsprozeß sein können. In diesem überfordernden, unmöglichem Unterfangen sind Entwicklungs- und Reifungsvorgänge schlecht möglich. 

       

    Im Falle der Spaltung auf 2 oder mehrere Personen ist der Aufspaltende fortwährend auf den Bezug zum Partner, des Trägers seiner negativen Anteile angewiesen, ebenso wie dieser auf ihn als des Trägers seiner positiven Anteile angewiesen ist. Der oder die anderen gehören sozusagen zur narzißtischen Regulation der eigenen Person. Da die Realität der Trennung der Personen und die Verschiedenartigkeit von Personen außer Kraft gesetzt ist, ist dies ein labiles narzißtisches Gleichgewicht und von Verlust bedroht. Durch die Beherrschung des anderen wird dieser genauso festgehalten wie abgestoßen - festgehalten als partielles Selbstobjekt, abgestoßen, weil er nicht er selbst sein darf und sich zur Selbsterhaltung entfernen muß. Wenn der andere, das Selbstobjekt verloren geht, steht der erstere sozusagen bloß, leer ohne wesentliche Persönlichkeitsanteile da. Seine Identität, die auf den anderen baut, ist bedroht.

       

    So betrifft die Verlustangst des einen nicht nur den Verlust der fremden Person, sondern im anderen auch den Verlust wesentlicher Anteile der eigenen Person. Es geht vermehrt um einen selbst. Gleichzeitig ist sie die Verlustangst des anderen. Diese gegenseitige Angst kann sich gegenseitig steigern (symmetrische Beziehung), oder wird auf 2 Personen aufgespalten (komplementäre Beziehung), sodaß der eine die Angst des anderen mitträgt und der erstere angstfrei ist und den zweiten wie im phobischen Arrangement kontrolliert. Im Falle des Verlustes ist sein narzißtisches Gleichgewicht von Desintegration bedroht, das Selbst- und Weltbild gerät völlig durcheinander - oder er muß sich schnellstens einen neuen Partner suchen. Im Falle der Sündenbockstrategie, wobei ein Mitglied die negativen Anteile übernommen hatte, müssen die Rollenverteilungenn neu ausgehandelt werden, wobei jeder leicht in diese Rolle geraten kann.  

       

    Durch die Unvereinbarkeit zweier Seiten ist die andere Seite unvorstellbar. Ist sie erst vorstellbar, kann der Mechanismus der Gleichsetzung von Vorstellung und Realität in Aktion treten, wenn - dann (lineares Denken), und die vermeintliche infolge der Verleugnung überhöhte Realität muß unter allen Umständen vermieden werden, sowohl bei sich als auch in der anderen Person. Oder die neue Realität muß sofort in Handlung umgesetzt werden, wobei die alte Seite verloren geht. Deswegen darf sie erst gar nicht vorgestellt sein.

       

    Ähnlich ist es beim Sprechen und Handeln. Paradoxerweise darf im Sinne der doppelten Moral öfter eher gehandelt werden, besonders im vielfach entwerteten Bereich der Sexualität, als darüber gesprochen werden. "Es darf alles getan werden, solange nicht drüber gesprochen wird". In der Beleuchtung des Gesprächs tritt ansonsten die Verwerflichkeit des Handelns ins grelle Licht. Dazu las ich im Bericht einer pietistischen Ehefrau "Sexualität fand nur statt, wenn wir ein Kind zeugen wollten, und dann nur in inständigem Gebet zu Gott, daß uns ja nicht die sündige Lust befalle". Andererseits beim Protestverhalten kann die Lust bei Lichte besonders schön sein. Im Falle des Integrationsversuches wie in einer Psychotherapie muß über die unaussprechlichen Inhalte gesprochen werden. Das Unaussprechliche wird besprechbar und verliert seinen Schrecken. 

 

Zur Erhöhung, der Vogel-Strauß-Politik kann z.B. der Doppelmechanismus der Medikamenteneinnahme gehören. Einerseits dämpfen diese die Ängste und fördern durch die verminderte Angstblockade die Handlungsfähigkeit und Selbstregulationsmechanismen, andererseits legen sie Schwäche und Hilflosigkeit bloß, führen im Größenbild zur Kränkung infolge eines Schwäche- und Versagensbildes, nicht anders mit den Problemen fertig zu werden. An mir selbst habe ich die Kränkung wiederholt gespürt, wenn ich mit einem Konflikt nicht anders als mit einer Erkältung, Rückenbeschwerden oder einem grippalen Infekt fertig wurde. Dann bieten sich Erklärungen wie "Wetter", "Biorhythmus" oder "grassierender Virus" zur Erhaltung des Souveranitätsbildes von selbst an. Medikamente stellen die eigene Souveranität und das Integrationsvermögen in Frage und können somit die Ängste fördern. "Das muß ja etwas schlimmes sein, was ich auf dies Art dämpfen muß". Medikamente sind also gleichzeitig richtig und falsch bzw. je nach dem Stand der gegenwärtigen Integrationsfähigkeit richtiger oder falscher.

       

    An einer Patientin, in deren Familie mehrere Mitglieder an Krebs gestorben sind, wurde mir die Aneinanderreihung von Spaltungsmechanismen und die Folgen der Hoffnungs- und Hilflosigkeit besonders deutlich. Jedesmal, wenn sie in einer Sackgasse landete, einen Weg wegen der damit verbundenen massivsten Entwertungen und Ängste für unbegehbar und unvorstellbar hielt, und ich ihr Auswege und Alternativen aufzuzeigen suchte, landete sie aufgrund des nächsten Spaltungsmechanismus der totalen Entwertung in der nächsten Sackgasse - und so ging das weiter und weiter. Es war für beide Seiten eine hoffnungslose Situation, in der Veränderungen und Weiterentwicklungen nicht möglich waren. Mein anfänglicher Ärger auf sie als Wiederspiegelung ihrer frühkindlichen Beziehungssituation, weswegen sie sich als Kind eher auf die Zunge biß als ihrer Mutter irgend etwas zu sagen, schlug in Resignation um. Die einzig Möglichkeit sehe ich in einem solchem Falle im Stillstand und einer genauen Betrachtung des Spaltungsdenkens und -wahrnehmens mit den verschiedenen verleugneten, projizierten und verschobenen Facetten - ein allerdings oft sehr schwieriges Unterfangen. Zur Abspaltung ihrer Ängste befand ich mich in einer haarsträubenden Falle. Infolge der Verleugnung und gleichzeitigen Hochspielung wurde vieles als besonders schlimm bewertet und erlebt - laufend fiel das Wort "schlimm", für Dinge, die ich häufig für normal hielt. Für andere als normal geltende Inhalte unterlagen der Katastrophenbewertung. Die Dinge wurden sozusagen auf den Kopf gestellt. Und wenn andere so "schlimm" handelten, drückte sie sehr deutlich ihre Empörung über die Verletzungen ihres als absolut angesehen Rechts aus. In solchen Situationen denke ich häufig an den Kampf des Don Quichotte. An ihr spürte ich den Mechanismus der Projektiven Identifizierung besonders deutlich, der Einflußnahme durch eigene projizierte Anteile auf den anderen, diesen sozusagen mit sich selbst von innen zu regieren. Sie war auch diejenige mit den harmlosen Fragen. 

       

    In Zusammenhängen, wo Psychosen oder psychosenahe Persönlichkeitsstörungen (Borderline) auftreten können, wird nach meinen Erkenntnissen mit den Abspaltungen so umgegangen, daß die Mitglieder sich nie nach innen und außen festlegen (definieren). Wenn versucht wird, sich oder den anderen auf einen Inhalt oder ein Gefühl zu definieren, wird sofort ein anderer Inhalt als die objektive, einzig wahre, unverrückbare Wahrheit hingestellt, sodaß der Aufspaltende ebenso wie der Außenstehende völlig verwirrt oder verrückt werden kann oder sich völlig abkapselt und absperrt. Bei den Gleichsetzungen der inneren und äußeren Welt kann es keine unterschiedlichen Gedanken, Wünsche, Interessen und Positionen geben, sodaß z.B. die Eltern die Gedanken ihres Kindes zu wissen meinen, ohne es nötig zu haben zu fragen. Ebenso meint das Kind, die Eltern wüßten seine Gedanken oder, es habe keine eigenen Gedanken, dies seien die Gedanken anderer. Dabei können Teil- und Totalidentifikationen von einer Person auf die andere verschoben  ( verrückt ) werden - oft in der Generationsfolge z.B. von der Tante auf die Tochter oder dem Großvater oder Onkel auf den Sohn, auch mit wechselnder Geschlechtidentität. Im Falle des vermeintlich drohenden Zerfalls des Systems wie Trennungen oder potentielle Loslösung eines pubertierenden Mitgliedes, besteht die Neigung der Aufspaltung in Kranke und Gesunde, Normale und Verrückte bzw. der Rollenübernahme eines Verrückten. Die Familie ist dann in der Sorge um den Kranken und in den Bemühungen um dessen Gesundung wieder vereint.

     

    Bei einem derartigen Patienten erlebe ich im therapeutischen Prozeß, daß der Patient völlig abgehoben über sich oder Sekundärphänomene und -personen redet, allgemeine Zusammenhänge oft recht treffend oder Transzedentales darstellt, sich jedoch nie konkret festlegt. Er geht der konkreten Realität der Aneinanderreihung von persönlichen für ihn unvereinbaren Inhalten, Gefühlen und Ereignissen aus dem Wege. Obwohl er sich augenscheinlich bemüht, endlose Träume beibringt, deren Betrachtung viele Stunden in Anspruch nähme, werde ich in der Gegenübertragung in meiner inneren Reaktionsweise auf ihn immer ungeduldiger und ärgerlicher. Es findet sich nichts greifbares, über das ein konkreter Dialog geführt werden kann. Gelegentlich findet sich ein Einstieg, wenn Worte wie "absurd" oder "bekloppt" fallen. Beim Nachhaken ergeben sich Bewertungen einer bösen Umwelt oder eines bösen Selbstbildes für Inhalte, die ich aber als recht normal ansah. Ich persönlich sah das Böse mehr in der Bewertung. Überhaupt sind  "normal" und "anormal" häufig verwendete Bezeichnungen in diesem zwischenmenschlichen Zusammenhang. Im Spaltungskontext finden sich oft Umdefinitionen gegenüber sogenanntem Normalen, dem Zeitgeist entsprechenden Überzeugungen. Normales wird als verrückt bezeichnet und verrücktes normal. Die Therapie kann sich über Hunderte von Stunden ohne greifbare Fortschritte hinziehen. In einem Fall endete die Therapie erst, als der Patient sich in seiner Verzweiflung ins Rotlichtmilieu stürzte und die Stunden nicht mehr bezahlen konnte. 

       

    Steht der Patient unter massiven Angstdruck, ein drohendes undefinierbares Unheil erwartend, z.B. alles falsch zu machen, wobei das Falsche nicht näher definierbar ist, gehen die Ängste leicht in das Gegenüber wie den Therapeuten über. - Das Falsche sind meist potentielle autonome Entwicklungsschritte und Veränderungen, die von den Angehörigen, von denen er extrem abhängig ist und deren Definitionen er teilt, entsprechend der kontextuellen Rollenverteilung als falsch definiert werden. - Wenn der Therapeut die Ängste nicht deutlich im Patienten wahrnimmt, vielleicht weil sie nicht genügend gezeigt werden, sondern in sich selber und mitüberrollt wird, kann er zum Handlungsdialog neigen, Medikamente geben, andere vermeintlich größere Experten einschalten oder in die Klinik einweisen. Der potentielle Entwicklungsschritt ist zunächst vereitelt. Mir passierte es schon, daß ich von verschiedenen Seiten angerufen wurde, dem Vater, Bruder, Freund und Psychiater, die alle auf mich einwirkten, doch endlich den Patienten in die Klinik einzuweisen. In dieser Familie leiden alternativ der Vater oder der Sohn unter Alkoholismus.

       

    Im Falle eines engen Beziehungskontextes wie einer Familie mit gemeinsamen Bildern und Abwehrmechanismen benötigt jeder jeden als Träger seiner abgespaltenen Anteile. Durch den gleichzeitigen Kampf um Rehabilitation entsteht meist eine heillose Zerstrittenheit. Es spielen sich Zyklen ein, wo jeder jeden anklagt, jede Anklage zu Rechtfertigung führt und jede Rechtfertigung die Anklage bestätigt - sonst wäre ja nichts zu rechtfertigen. Die Projektion der negativen Anteile nach außen zur Erhaltung des narzißtischen Familiengleichgewichtes und der -harmonie erscheint noch als eine günstige Lösung, allerdings mit dem Nachteil, daß Autonomieschritte in die "böse" Umwelt schlecht möglich sind und die Familie aufeinander angewiesen bleibt. Von außen an die Familie herangetragene Veränderungen wie Schulpflicht des Kindes, Beruf oder Heirat stellen durch die neuen Einflüsse und Bilder eine äußerste Belastung für den Kontext dar und werden häufig auf dem Wege der psychischen oder körperlichen Erkrankung gelöst. Infolgedessen ist eine psychotherapeutische Arbeit mit Einzelmitgliedern oft äußerst schwierig, kommt meist nicht zustande bzw. erreicht keine nachhaltigen Veränderungen des status quo, da sich der gesamte Zusammenhang gefährdet sieht und selbstverständlich dagegen arbeiten muß. Man könnte auch einfach von dysfunktionalen anstatt von (eu)funktionalen Zusammenhängen sprechen, wo die Bezogenheit so wäre, daß jeder sich und dem anderen genügend Spielraum ließe und jeder in sich und dem anderen seine eigenen guten und negativen Seiten, Vor- und Nachteile achtete - anders ausgedrückt, eine "positive Gegenseitigkeit" im Gegensatz zu einer "negativen Gegenseitigkeit". 

       

    Ein weit verbreiteter Spaltungsmechanismus betrifft die Geschlechtszugehörigkeit, nicht im biologischen sondern im sozialpsychologischem Sinne, Mann und Frau, männlich und weiblich.  Im Konstrukt des "Penisneides" wird die Spaltung in Haben (Penis) und Nichthaben aufgeteilt in Stärke, Härte, Überlegenheit versus Schwäche, Weichheit und Unterlegenheit, so als ob nicht jedes Geschlecht beide Seiten verkörpere, schwache und starke Eigenschaften und die Frau anstelle eines Penis eine Vulva besitze. Oft wird gerade mit der Schwäche der andere dominiert, weil man ja bei Schwächen unbedingt helfen muß, so daß Schwäche gleich Stärke ist. Dazu ein Versprecher einer Mutter "...seitdem ich mit meiner Depression die Familie regiere". Das Leben mag dann aus der Schwäche- und Unfähigkeitsposition leichter und angenehmer sein. Modernere Untersuchungen schufen den Begriff des "Gebärneides" in der Umkehrung des Penisneides, wobei umgekehrt die Männer nicht sehen, was sie haben und können, sondern nur was sie nicht können. Als paradoxe Reaktionsbildung findet teils eine Umkehrung statt. Männer werden schwach, weiblich, Frauen stark, männlich bis zur Geschlechtsumwandlung in der Transsexualität. 

        

    Wie oben bereits dargestellt führt das Spaltungsdenken zu schwer auflösbaren zwischenmenschlichen Verstrickungen und Konflikten. Der wesentlichste der Auflösungs- bzw. Erlösungsversuche ist die Spaltung selbst. Das Ziel ist, in diesen Verstrickungen aus mehr- und vieldeutigen Tatbeständen Klarheit und Eindeutigkeit zu schaffen. Das Streben gilt dem einzig Guten, Wahren und Richtigem, dem Freisein von Sünden, Fehlern und Schwächen. Ursache, Folge und Lösung sind also ein und dasselbe und beinhalten Widersprüche und Paradoxien. Diese Freiheit ist folglich paradoxerweise ein einziges Gefängnis. Durch die Unterdrückung von Teilaspekten und ganzen Personen fühlen diese sich übergangen, können sich nicht entfalten und melden sich erst recht zu Wort - in welcher Form auch immer. Es ergeben sich die beschriebenen Kreisläufe.  

       

    Ein weiterer Versuch aus subjektiven Tatsachen objektive Tatbestände zu schaffen, ist die Verwissenschaftlichung von Menschen und Dingen. Die Gefahr der Objektivierung ist die der aufspaltenden Gleichsetzungen. Oftmals wird die Wissenschaft wiederum nicht ernsthaft anerkannt, weil bekannt ist, daß vorherige Annahmen durch die Versuchsanordnungen nachher im Ergebnis wieder gefunden werden (sich selbst erfüllende Prophezeiung). Dann kann sich ein Kreislauf von Beweisen und Widersprüchen und erneuten Beweisen ergeben - ähnlich den Kreisläufen bei der Gleichsetzung von subjektiv und objektiv.

Hier soll der Wert der Wissenschaft keineswegs in Frage gestellt werden, sondern nur auf den Einfluß der Spaltungsmechanismen hingewiesen werden.

       

    In der Medizin ist ein (Er)Lösungsversuch, die verdrängten, verschwiegenen und unreflektierten zwischenmenschlichen Konflikte, also den ganzen zwischenmenschlichen, so angesehenen "Schmutz" in einer sauberen, klaren, naturwissenschaftlichen, technokratischen Diagnose und Behandlung münden zu lassen. Die Klagen über die unmenschlichen Folgen sind allgegenwärtig. Um Klarheit und Eindeutigkeit im Ergebnis vorwegzunehmen, besteht die Neigung zu überlangen Ausbildungen (z.B. in der Psychoanalyse), wobei das Größenbild des perfekten Psychoanalytkers, der allein schon durch den Aufwand und die Länge seiner Ausbildung dem Wissen verpflichtet ist, geschaffen wird, perfekten Vorbereitungen wie z.B. einer Trainingsvorbereitung im Sport. Beim Sport werden gerade durch die Überhöhung des Zieles, der Angst vor dem Versagen und den Verhinderungsstrategien die Ängste bestätigt.  



        Klinische Implikationen

        Sind die Bedrohungen nicht so tiefgreifend und existentiell, können sie integrativ mehr oder weniger in einer Person verarbeitet werden, d.h. eine Person nimmt seine verschiedenen, auch widersprüchlichen Bilder, Gefühle und Reaktionsweisen - das wäre auch das Ziel einer psychoanalytischen Arbeit - in sich wahr. Sind die Realitätskonstruktionen der Bedrohungen existentiell und tiefgreifend, besteht die Neigung zu aufspaltenden Mustern wie Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung, Introjektion und digitalen Verhaltensweisen mit Entdifferenzierungen in der Zeitdimension (früher = heute und heute = immer) und der Aufspaltung der Eigenschaften auf verschiedene Personen. Mehrere Personen gehören dann wie eine Person zusammen, bilden eine narzißtische Einheit und sind voneinander existentiell abhängig.

        Dazu möchte ich 2 Beispiele aus meinen Psychiatrieerfahrungen anführen. Mir ist noch deutlich ein trauriges Bild vor Augen, nämlich eines seit seiner Jugend hospitalisierten inzwischen über 50 jährigen Langzeitpatienten, der täglich als fettes, hilfloses Wrack am Arm seiner 80 jährigen, sehr robust und gesund wirkenden Mutter durch den Klinikpark geführt wurde. Wie in den Akten minutiös nachzulesen war, war sein jugendliches, damals als psychotisch definiertes Aufbegehren systematisch mit Elektro- und Insulinschocks und Medikamenten niedergeknüppelt worden. Es wurde genau beschrieben, wie er winselnd sich unter dem Bett zu verstecken suchte. Trotz auftretender Fettsucht und Spritzendiabetes und entgegen der Verbote der Ärzte, war er heimlich von der Mutter zusätzlich zur Klinikkost gefüttert worden. Ich halte dies für ein trauriges Beispiel einer Aufspaltung von psychischer und körperlicher Krankheit auf zwei, eng miteinander verwobenen Personen, die gemeinsam eine Einheit bilden.
       

    Bei einer ca. 50 jährigen sogenannten Jammerdepression, um die jeder wegen ihrer ewigen Jammerei ohne jegliche Hilfsmöglichkeiten einen größtmöglichen Bogen schlug, war ein knapp kirschgroßer, gutartiger Tumor am Hals festgestellt worden. Nach der kleinen Operation bis zum Ziehen der Fäden 1 Woche lang war sie völlig umgewandelt, zugänglich und gesprächsbereit. Danach war alles beim alten. Offenbar fühlte sie sich endlich als Kranke ernst genommen. Dieses Beispiel mag erklären, warum viele lieber körperliche Erkrankungen, Operationen, ja einen lebensbedrohlichen Herzinfarkt in Kauf nehmen, denn dabei sehen sie sich ernst genommen und sind in ihrem psychischen, narzißtischen Gleichgewicht, als sich und anderen psychische Schwierigkeiten einzugestehen, die darüber hinaus als existentielle Schmach und Schande bewertet würden. Die psychische Stabilität hat häufig Vorrang vor der körperlichen Gefährdung. Außerdem werden die Ängste und Sorgen im Abspaltungsmechanismus an die Umgebung delegiert und von ihr als Sorge um die Gesundheit des Kranken ausgelebt, die sich wesentlich mehr Sorgen macht als der Kranke selbst, wie ich bei organischen Erkrankungen erlebt habe.

        Je existentieller die narzißtische Entwürdigung erlebt bzw. infolge der Verleugnung nicht erlebt wird, desto höhere kompensatorische Größenbilder dienen als Maßstab des Selbst, so daß die (in den Augen anderer) kleinsten Schwächen als tiefe Abstürze erlebt werden. Gerade der tief narzißtisch Gekränkte erhebt das Bild von Souveranität und Unabhängigkeit zum Idealselbstbild. ( Z.B. wirbt die Zigarettenindustrie mit diesem Bild für ihre Produkte und verkauft damit nach allgemeiner ärztlicher Überzeugung Krankheit. Oder die sogenannte Phallische Frau verzichtet um des Unabhängigkeitsbildes willen auf libidinöse Genüsse. ) Das frühkindliche existentielle Ausgeliefertsein wird als die größte Kränkung erlebt. Das Größenselbst wird dadurch bei der Konfrontation mit den unausbleiblichen normalen Anpassungs- und Verinnerlichungsvorgängen der Sicht- und Reaktionsweisen der Primärpersonen, dem totalen Ausgeliefertsein an diese, zutiefst getroffen. Es würde als innere Korruption, verbunden mit tiefen Scham- und Kränkungsgefühlen aufgefaßt, sozusagen um des Preises des Verlustes der Würde basale Sicherheit und gleichzeitig Abhängigkeiten gesucht zu haben. Eine meiner Patientinnen sprach mir gegenüber von ihrer eigenen Auslegung von Anbiederung, Kapitulation als Schwächeeingeständnis - wobei sie anfangs projektiv ihre Ängste vor den Auslegungen anderer äußerte. Der an sich normale Verinnerlichungsvorgang eines jeden Menschen wird somit zu einer mehr oder weniger grandiosen Kränkung und Scham. Das Größenbild lebt als oft unbewußte innere Realität fort. Zur Erhaltung der psychischen Würde und Souveranität werden dann sogar meiner Ansicht nach unbewußt körperlich existenzbedrohende Erkrankungen in Kauf genommen.

        Silvia Amati beschreibt ähnliche Vorgänge von ihren Analysen von Gefolterten. Der heftigste Widerstand wurde bei der Wahrnehmung der inneren Vertrautheit und des Paktes mit den Folterern, dem an der Grenze zwischen der Identifizierung mit dem Aggressor und der Individuation entstehendem Schamgefühl, entgegengesetzt. Offenbar wird das Individuum auf der Stufe des existentiellen psychischen und körperlichen Überlebenskampfes auf die Stufe des Kleinkindes zurückgeworfen, in der automatische Identifikationen, so als ob es keine eigenen Bilder und Identifikationen gäbe, mit den Überzeugungen anderer stattfinden. Man muß davon ausgehen, daß Folterer von der Rechtmäßigkeit ihrer Taten überzeugt sind. Ansonsten wären sie nicht so überzeugend. Anklingende Zweifel werden sie eher in eine Überhöhung der Rechtmäßigkeit, zu einem Bollwerk des Rechts, umwandeln. Möglicherweise lassen sich daraus als Teilaspekt die langjährigen Auswirkungen ähnlich wie bei einem Kleinkind erklären.

        Noch heftigere Widerstände gegenüber Aufdeckungen würde ich bei den die Grausamkeiten ausübenden Folterern vermuten, die in der Identifikation mit früheren Aggressoren ihre selbsterlebten Mißhandlungen, für wahr, rechtmäßig und richtig angesehen, als Rache an den Primärpersonen sozusagen stellvertretend an ihre Opfer weitergeben. Ebenso könnte man die Mißhandlungen von Eltern an ihren Kindern ansehen. Diese haben es somit entsprechend dem Gleichheitsgrundsatz in der diachronen Zeitfolge nicht besser als sie selbst.

        Schwere narzißtische und psychosenahe Persönlichkeitsstörungen werden häufig im Sinne einer Tatsachenzuschreibung (Vorstellung = Realität) als "Frühkindliche Störungen" angesehen. Dies wird als Gefühlsstörung gesehen, als Folge eines nicht verinnerlichten basalen Sicherheits- und Geborgenheitsgefühls gedeutet, zurückgeführt auf Trennungen, wechselnde Primärobjekte, übermäßige Ängstlichkeit und Zwanghaftigkeit der Primärperson, meist der Mutter. Da dies im vorerinnerbaren Alter stattfindet, sind konkrete Erfahrungen und Bilder nicht faßbar und somit nicht korrigierbar, höchstens durch eine längerfristige, stabile korrigierende emotionale Beziehungserfahrung wie z.B. in einer Psychoanalyse. Diese Vorstellungen spielen sicherlich eine Rolle als Erklärungsmodus.
       

    Nach meiner Erfahrung gehen von Angst-, Sorgen- und Aggressionsbildern verursachte Spannungen der Primärpersonen in den Säugling und das Kleinkind über. - Selbst bei Erwachsenen gehen Spannungen des einen in den anderen oder in Gruppen über, auch ohne die zugrunde liegenden Bilder, oft sogar dann vermehrt, weil sie nicht konkret faßbar und korrigierbar sind. - Das Kind erlebt nur die Spannungen, nicht die zugrunde liegenden Bilder. Diese sind ihm unbekannt und im frühen Alter auch kaum verständlich. Bei ihm liegt noch keine eigene Bilderwelt vor, die erst mit zunehmender Reifung aus eigenen Erfahrungen und synonym mit der vermittelten Bilderwelt entsteht. Auf diese Spannungen mag es mit Strampeln oder Schreien reagieren und, falls es nicht die Ruhe findet, mit Essensverweigerung oder Krankheitssymptomen wie Pylorospasmus oder Magen-, Darmverkrampfungen und -entzündungen oder von seiten der Haut wie Neurodermitis. Es mag sich ein symmetrischer, sich gegenseitig steigernder Kreislauf einspielen. Die Mutter nimmt zwar das Schreien und die Symptome des Kindes wahr, kann aber die Gründe im Kind nicht finden - da diese ja nicht beim Kind, sondern bei ihr liegen - oder mag Fehlerklärungen wie Hunger, falsches Essen oder Zuwendungsbedürfnis heranziehen. Das Fehlschlagen ihrer Bemühungen beunruhigt sie vermehrt, und das Kind gerät in vermehrte Spannungen - ein tragischer Kreislauf. So kann das Kind der Symptomträger der unterdrückten Spannungen der Primärpersonen sein, die oft aus ganz anderen Bereichen wie Konflikten der Mutter oder der Eltern in sich selbst, etwa falsch zu handeln, in den Partnerkonflikten oder Konflikten zu den Groß- oder Schwiegereltern, etwa um die richtige Erziehung stammen. Ähnliche Kreisläufe und gegenseitige Beeinflussungen, wobei einer der Symptomträger anderer sein kann, können meines Erachtens in jedem Alter stattfinden. Da die Primärpersonen sich später nicht wesentlich ändern und ihre Bilder weiterhin artikulieren, bestehen noch später Möglichkeiten, diese und somit die Hintergründe der Spannungen zu erfassen.

        Trotzdem führe ich persönlich diese Störungen noch mehr auf ein verinnerlichtes Spaltungsdenksystem zurück und als Folge einer inneren Zerrissenheit in den einzelnen Primärpersonen und zwischen ihnen, das kaum basale Sicherheit vermitteln kann. Dadurch bleiben die Kinder extrem von den Primärobjekten oder entsprechenden Ersatzobjekten und umgekehrt diese als ebenfalls Basal-Gestörte von ihnen abhängig, also eine gegenseitige Abhängigkeit. Da sich die Denk- und Handlungssysteme ohne fundierte Betrachtung kaum verändern, findet die erneute Etablierung und gegenseitige Beeinflussung immer wieder statt. Eine Mutter mag dann als Retterin ihrer Tochter erscheinen für die Ängste, die sie selber hervorgerufen hat und durch die Rettung hervorruft - oder umgekehrt. Da aus diesem Teufelskreis kaum herauszukommen ist, macht sich Hilfs- und Hoffnungslosigkeit hinsichtlich eines ruhigen, geachteten autonomen Lebens breit.
       

    Infolge des als Reaktionsbildung auf Entwertungen vorhandenen Größenbildes bzw. Idealselbstbildes können Betroffenheit und Gefühle sich selbst und der Umgebung kaum zugestanden werden. Äußerlich tritt ein Bild von Souveranität und Unabhängigkeit in Erscheinung, fern von allen menschlichen emotionalen Schwächen. So mag ein Herzinfarktpatient den Interviewer auf der Intensivstation in königlicher Würde empfangen und vorübergehend gnädig sein Ohr den Wünschen des Arztes entleihen, wie ich hörte und las. Oder ein Aidskranker scheucht das Personal mit seinen Extrawünschen über die Station, das in der obligatorischen Helferhaltung zähneknirschend den Ärger unterdrücken und zusätzliches Personal anfordern muß. In einer derartigen Situation und mit soviel Krankheitsgewinn wird sich der Kranke kaum seine in seinen Augen entwürdigen Konflikte eingestehen - lieber sterben, als das Gesicht verlieren - ein Beispiel für Gefühlsdelegation und -abspaltung in existentieller Not.

        Im folgenden möchte ich Beispiele anführen, wie sie wohl jeder Analytiker kennt, daß bei Betrachtung der Hintergründe und Zusammenhänge Entwertungsbilder in Aufwertung umgewandelt werden können.
Eine Studentin - sie war in ihrer Herkunftsfamilie stark entwertet worden und hatte ihre Autonomie nach der Trennung vom Elternhaus mit Alkohol, depressivem Rückzug und Studienversagen sabotiert, andererseits hatte sie zur Kompensation eine phallische Linie eingeschlagen mit Motorradfahren, männertypischem Studium und dem Bestreben, größere und stärkere Männer unter den Tisch zu saufen - berichtete mir von ihrer Überzeugung, daß ihr Freund sie deshalb nicht zu seinen Freunden mitnehme, weil er dann ungestört über sie "herziehen" könne. Während ich das recht hübsche Persönchen betrachtete und eingedenk dessen, was sie mir von ihm und seinem familiären Hintergrund berichtet hatte, kam mir der Gedanke, daß wohl eher im Gegenteil Freunde an ihr Interesse haben könnten, und er sich infolge seiner Unsicherheiten, etwa aus Verlustangst und Eifersucht, die er allerdings ins äußere Gegenteil umwandelte, sich ihrer nicht sicher sein konnte. Naturgemäß war es unter anderem dadurch zu Zerwürfnissen gekommen. Sie besprach das mit ihm, er gestand dies zu und beide lachten sich an - er allerdings recht unsicher. Bei dem Beispiel kommt ebenfalls zum Ausdruck, daß sie mit ihrer Selbstentwertung seine Selbstentwertung kompensierte, sozusagen mit sich selbst den Defekt des andern stopfte, weswegen er vorher nicht seine Karten offen gelegt hatte. Weiterhin zeigt sich, daß durch eine differenzierte Hintergrundsbetrachtung wie in einer Therapie die Schwächen des anderen bloßgestellt werden können. Deswegen haben Partner und Eltern oft etwas gegen eine Therapie, versuchen oft durch Fragen die Therapie zu kontrollieren, weil ihre Schwächen und Fehler aufgedeckt werden könnten. So mag der Kampf weitergehen, wenn der andere nicht ebenfalls in seinen Schwächen durch Differenzierungen gestärkt wird, etwa durch eine eigene Therapie oder durch eine verständnisvolle und akzeptierende Haltung des Patienten, der in der gegenseitigen Akzeptanz große Fortschritte gemacht hat. Darin sehe ich eine potentielle Schwäche der Einzeltherapie und Möglichkeiten der Allparteilichkeit in der Paar- und Familientherapie.

        Eine Sozialpädagogin sah sich in der neuen gemeinsamen Eigentumswohnung völlig entrechtet, da ihr Partner infolge höherer Einkünfte und eines besseren finanziellen Familienbackgroundes einen höheren Beitrag beim Erwerb leisten konnte. Durch ihre Einfälle kam sie auf die Wiederholung der Position ihrer Mutter, die in das Haus des 2.Ehemannes eingeheiratet hatte, sich dort als Eingeheiratete völlig rechtlos sah und ewig in ihren Augen erfolglos um ihre Rechte kämpfte. Besonders ungerecht empfand die Patientin, daß nach dem Tode der Mutter die nächste nicht geehelichte Partnerin des Vaters als Mitbesitzerin und Erbin eingetragen wurde. Sie sah nicht, daß ihre Mutter als Ehefrau und Erbin alle Rechte besaß und überflüssigerweise kämpfte, dagegen die nächste Partnerin ungeehelicht eingetragen werden mußte. Auf meinen Einwand, warum der Stiefvater möglicherweise mit dem Rücken an der Wand das Haus als Trumpf einsetzte, gestand sie zu, daß die Mutter ihn als "Waschlappen" und "Muttersöhnchen" aufgrund des bestehenden Einflusses durch die Schwiegermutter betrachtet hatte.

        Bei der Partnersuche und -findung wird häufig die Desinteresse oder sogar Mißachtung des anderen als Entwertung der eigenen Person gedeutet und empfunden. Bei Betrachtung des potentiellen Hintergrundes sieht es oft umgekehrt aus. Der andere mißachtet sich oft selber, sieht sich in einer unteren, schwächeren Position und versucht durch die Abwertung des anderen sich selbst aufzuwerten. Die so empfundene Kränkung wandelt er in eine Kränkung des Gegenübers um. Mißachtung kann  also Hochachtung bedeuten. Dieser Zusammenhang spielt sich oft schon bei kleinsten Begegnungen wie bei Blickkontakten auf der Straße ab, so daß jemand bei Kontaktaufnahmeversuchen völlige Desinteresse vorgibt, wenn er sich selbst als uninteressant in den Augen des anderen ansieht. Bei der Frau-Mann-Beziehung spielt das Pars-pro-toto-Entwertungsdenken bei vielen Frauen "der will sowieso nur das Eine!" zusätzlich eine gravierende Rolle. Dazu ist sie sich zu schade, auch wenn sie noch so sehr wollte. Wenn ich mit meinem fröhlich herum springenden Hund joggte, ist es mir mehrfach passiert, daß eine junge Frau lächelnd mit Wohlgefallen auf den Hund schaute. Sobald sie zu mir guckte, verschwand abrupt das Lächeln, und ich dachte, sie dachte, ich solle nicht denken, daß sie was von mir wolle.

    Gravierende Rollen- und Loyalitätskonflikte erlebte ich wiederholt bei Aufsteigern aus sogenannten niederen zu höheren Gesellschaftsschichten wie Akademikern aus Arbeiter- oder Handwerkerfamilien.
Die Mutter eines Patienten mißachtete ihren Ehemann als Handwerker und beanspruchte für ihren Sohn nur das Beste. Wenn er das Beste, nämlich ein Eins in der Schule nicht erbrachte, antwortete sie mit einem "leidenden" Gesicht und heftigsten Vorwürfen. Der Vater wiederum mißachtete den akademischen "Spleen" seines Sohnes infolge der erzeugten Rivalität und bewies diesem, so gut er nur konnte, seine Unfähigkeiten vor allem im handwerklichen Bereich, so daß der Sohn sich dort nichts zutraute. Nach einer vorübergehenden Phase der schulischen und Studienerfolge und des intellektuellen Triumphes über den Vater versagte er beim Studienabschluß völlig. Der massive Erfolgsdruck, die provozierte Verweigerungshaltung - Druck gleich Gegendruck - , der widersprüchliche elterliche Auftrag und die verinnerlichten Ängste vor dem Versagen bei gleichzeitiger Anspruchshaltung als Mutters Größter, die sich in massiver Mißachtung von erfolgreicheren Studienkollegen äußerten, mußten früher oder später, meist an der Grenze zum nächsten Autonomieschritt zu einer Paniklähmung führen. Im Wechselspiel der Beziehung zum Schwiegervater, ebenfalls eine Handwerkerfamilie, wurde das Achtung- und Mißachtungsverhältnis analog zum Vater deutlich. Der Schwiegervater beschimpfte ebenfalls zur Kompensation seiner Neidgefühle alle Akademiker. Auf dem Hintergrund der Schichtloyalität wurde als Kompromiß eine Arbeit bei der Gewerkschaft gewählt.

        Im folgenden möchte ich auf verbreitete typische Idealbilder eingehen, die zu Opferhaltungen und brisanten Konflikten führen. Einmal das "Gute-Mutter-Bild": Die Gute Mutter ist für alle immer da, zu allen Opfern um ihrer Familie und Kinder willen bereit, liebt alle im guten wie im bösen um jeden Preis und vergißt ohne Grenzen sich selber. Sie kommt zuallerletzt. Aufgrund ihrer Sorgen und Besorgnis, die sie für Fürsorge und Liebe hält, läßt sie ihr Kind, das aufgrund der Sorgen der Mutter - die um ihr narzißtisches Idealbild und die potentiellen Vorwürfe der Umgebung fürchtet -, die als Ängste und Sorgen in es übergehen, nicht zur Ruhe kommt und sich vor dem Alleinsein fürchtet, Nacht für Nacht in ihrem Bett möglichst noch zwischen sich und ihrem Mann schlafen. Sie muß auf ihre Nachtruhe und Sexualität verzichten. Sie kann nicht arbeiten und abends nicht ausgehen. Als Ausgleich für ihre Aufopferung erwartet sie dasselbe von Mann und Kindern, wobei sie die Inhalte bestimmt, so wie die Inhalte ihrer Aufopferung vorbestimmt waren. Wehe! Die geringste Kritik oder nur Infragestellung weist sie mit heftigsten Vorwürfen zurück und beantwortet sie mit eigenem Leiden wie z.B. Herzbeschwerden. Sie erntet Trotz und heftigste Autonomiekämpfe und muß aufgrund der Enge und Zerstrittenheit fortwährend den Zerfall der Familie fürchten und mit verstärktem Leid zusammenhalten - eine oft lebenslange Tragödie.
       

    konnte bei einer Patientin herausgearbeitet werden, daß ihr Kinderwunsch infolge der Aufopferungsrealitätskonstruktion ihrer Krebsangst entsprach. Durch das Kind und ihre vermeintliche ewige Sorge und Verantwortung wurde sie sozusagen wie vom Krebs von innen aufgefressen.
       

    Das Aufopferungsbild führt zum Familienmythos der gegenseitigen Aufopferung. Es gilt nicht das Motto "jeder sorgt für sich, dann ist für alle gesorgt", sondern "einer für den anderen", wobei jeder die Verantwortung für sich dem anderen zuschiebt bzw. an ihm erlebt, so wie er die Verantwortung für den anderen übernimmt. Scheidet einer aus diesem symbiotischen Zusammenhang aus, besonders in einer Dualunion, ist der Lebensaufbau gefährdet oder der Lebenssinn verloren. Sein Leben ist in höchster Weise gefährdet wie z.B. bei alten Ehepaaren, wo einer dem anderen nachstirbt. - Häufig ist auch, daß der andere nach dem Tode auflebt, jetzt endlich die Freiheit zu haben. Ein vorweggenommenes Resultat müssen Todeswünsche sein. - In diesem Kontext lernt niemand, ein autonomes Leben zu führen, da jeder die Verlustängste verinnerlicht hat. Das Alleinsein wird als schrecklichster Zustand und als größte Angst erlebt, und im Sinne einer Realitätskonstruktion wird häufig danach gelebt.

       

    Eine häufige Verhinderungsstrategie der Verlustangst, die Anklammerung, beinhaltet den Doppelmechanismus der gleichzeitigen Abstoßung, und stellt für beide eine Falle dar. Schließlich wird es dem Umklammerten zu eng, und er muß das Weite suchen. Die Abhängigkeit vom anderen wird oft als eine Demütigung erlebt und die Unabhängigkeit, nach der ewig erfolglos gestrebt wird, erfolglos, weil sie aus Angst vor der Einsamkeit nicht wirklich angestrebt wird, als das höchste Ziel. Man könnte das Abhängigkeitsbild auch als eine Art der Personenverwechslung ansehen. Man wähnt sich von anderen oder einer bestimmten Person abhängig, wobei der andere lediglich ein Auslöser für die Abhängigkeit von den eigenen Bildern ist, die am anderen erlebt werden - insofern ein projektives Geschehen. Seine Anwesenheit ist eine Beruhigung für die ansonsten entstehenden Ängste. Falls in diesem labilen Gleichgewicht der Verlust erlebt oder auch nur als Realitätsvortstellung phantasiert wird, kann Krankheit, vor allem chronische körperliche und psychische Erkrankungen, und Tod die Folge sein.
       

    Im typischen gesellschaftlichen Opferkontext opfern sich die Frauen für Heim und Familie - die drei großen K - Kirche, Kinder, Küche -, die Männer für Volk und Vaterland auf.
       

    Der Opferkontext liegt dem Anpassungskontext nahe bzw. stellt denselben Inhalt mit verschiedenen Wörtern und Bedeutungen dar. Häufig ist es z.B., daß Frauen meinen, sich total ihren Männern angepaßt zu haben, und ihrerseits daraus eine Rückzahlung der Anpassung beanspruchen. Meist haben sie die Männer gar nicht gefragt, sondern haben sich ihren eigenen Realitätskonstruktionen angepaßt, die oft über Generationen vererbt sind. Es liegt also keine Anpassung an die Männer vor, sondern an sich selbst, ihre verinnerlichten Bilder und Traditionen. Männer sehen u. U. nur die nach ihren Vorstellungen handelnden Frauen und können gar nicht die Ursache der Ansprüche und Enttäuschungsaggressionen verstehen. Meistens kennen sie jedoch diesen Anpassungszusammenhang von ihrer eigenen Entwicklung und wehren sich mit "jetzt erst recht nicht!" gegen diese Bevormundung.

        Betreffs des Wechselspiels von Opfer, Rache, Trotz und anderen Mechanismen möchte ich das Beispiel einer Patientin anführen, die mich wegen Bulimie, Depressionen und diversen psychosomatischen Symptomen aufsuchte. Sie hatte langjährig unter einer lebensbedrohlichen Anorexie mit vielen Krankenhausaufenthalten (u. a. in der Psychiatrie zwangseingewiesen mit Sondenernährung) gelitten. Nach dem Auszug aus dem Elternhaus aus beruflichen Gründen war dies Krankheitsbild beseitigt. In ihrer jetzigen Ehe fühlte sie sich auf ihre Trennungsdrohungen hin von ihrem Ehemann ignoriert und verascht. Sie sah dabei nicht, daß er diese verleugnen mußte aufgrund eigener Trennungsängste, vor allem bedingt durch die narzißtische Kränkung und Schande, daß er, der Größte und stärkste Bodybuilder, von seiner Frau verlassen wurde. Ihre Empfindlichkeit führte sie auf die Beziehung zu ihrem Vater zurück: Wenn z.B. der Bruder Geld geklaut hatte, beschuldigte der Vater sie, weil der Bruder von der Mutter gedeckt so überzeugend lügen konnte. Sagte der Vater "du enttäuschst mich, daß du mich angelogen hast" gab sie den Diebstahl zu, obwohl sie es nicht gewesen war. Auf die Entschuldigung des Vaters, nachdem er den Bruder beim Stehlen erwischt hatte und dieser alle Diebstähle zugegeben hatte, warte sie noch heute. Die Aussage des Vaters "du bist nicht mehr mein Schatz" sei das allerschlimmste gewesen. Sie hätte nicht mehr essen und schlafen können, und das sei mit Kriechen und Demütigung "bitte, bitte, lieb' mich doch!" verbunden gewesen. Heute noch gebe sie aus Angst vor Streit etwas zu, was sie nicht getan habe. Ähnlich empörte sie sich über in ihren Augen ungerechtfertigte Beschuldigungen des Intensivstationpersonals, z.B. die Schläuche zur künstlichen Ernährung heraus gerissen zu haben. Auf ihre Klage über ihre Einsamkeit, auf der Intensivstation von den Eltern im Stich gelassen worden zu sein, und meine Frage, ob es nicht eine andere Vertrauensperson gegeben habe, antwortete sie prompt und trocken "Wie soll man Vertrauen haben, wenn 12 Magersüchtige mit allen Tricks Eltern und Personal reinzulegen versuchen?" Sie erlebte sich als Opfer und Sündenbock zur Erhaltung des Familienfriedens. Die Mutter habe immer behauptet, sie sei trotzig, zickig und egoistisch, und sie habe es immer geglaubt. In der Anorexie sei sie es gewesen, vorher nicht. Überhaupt nehme sie alle Zuschreibungen an. Erst bei näheren Darstellungen kommt heraus, wie sie den Eltern und dem Ehemann mit gleicher Münze heimzahlt, und alle in einem gemeinsamen Rachezyklus und Versteckspiel gefangen sind.

        Zur Opferhaltung möchte ich ein makabres und tragisches Beispiel schildern: Einen Patienten verabschiedete ich von der Therapie mit unguten Eindrücken und Gefühlen. - Damals griff ich noch viel zu wenig ein bzw. blendete zurück. - Bei seiner Helferhaltung und unterdrückten Emotionalität schien ich ihm wenig helfen zu können. Von seinen originellen Bildern und Tagträumen habe ich noch eines in guter bzw. schlechter Erinnerung. Er sah einen Kreis von Menschen vor sich, in dem jeder seinen Kopf in den "Arsch" des anderen steckte. Diesen Traum behielt ich so gut, weil ich ihn für eine zutreffende, wenn auch makabre Symbolik für manche zwischenmenschlichen Zusammenhänge sah. 2 bis 3 Jahre später rief er mich aus irgendeinem Grund an und erzählte beiläufig, er sei an Nasenkrebs erkrankt. Ich dachte spontan "kein Wunder bei diesen Darmgerüchen!". Dieses Beispiel erzählte ich 2 Medizinern beim Bier. Sie hielten dies für den eindeutigen Beweis der Psychogenese des Krebses.

        Eine Konfrontation mit potentiellen und partiellen Zusammenhängen kann manchmal zu "Wunderheilungen" führen. So konnte die Ehefrau eines Patienten ihre ersten beiden Kinder wegen der Gefahr einer Fehlgeburt nur mit einer Cirklage und nach langen Krankenhausaufenthalten gebären. Beim dritten traten die Blutungen noch früher und heftiger auf, und es drohte noch frühzeitiger ein Abort. Als ihr Mann sie auf therapeutische Hinweise hin auf die Möglichkeit von Ambivalenz gegenüber den Kindern und Ablehnung des Kindes ansprach, war sie froh, endlich einmal über ihre Aggressionen auf die Kinder reden zu können. Dies reichte, um dies Kind ohne weitere Komplikationen zu gebären. Bald entwickelte das Kind eine Neurodermitis, und Vater und Mutter waren sich in den schlimmsten Ausmalungen der zukünftigen Leiden des Kindes einig. Auf ihre verstärkten Bemühungen hin verschlimmerte sich die Krankheit. Als über potentielle Zusammenhänge gesprochen wurden, vor allem der Übergang der Ängste und Sorgen in das Kind und dessen Hautreaktion als mögliche Folge, taten die Eltern gar nichts mehr, und die Haut heilte schnell ab.
       

    Eine Patientin erzählte mir, daß sie mit ihrem jüngeren Sohn bis zu seinem 9.Lebensjahr von Arzt zu Arzt gelaufen sei, da er unter ständigen Halsentzündungen, schweren Durchfällen litt und allgemein ganz krank aussah, bis ein Arzt meinte, ob sie nicht eine allzu enge Beziehung zu ihrem Sohn haben könne. Darauf stellte sie fest, daß sie die ewige Schmuserei mit ihrem Sohn eigentlich schon lange leid sei, der Sohn es sowieso nur ihr zuliebe tue. Sie hörte damit auf, der Sohn sei aufgeblüht und gesund geblieben.

        Therapeutische Implikationen

        Ein in entwertenden Bildern aufgewachsener Patient wird infolge seines Größenbildes eine Therapie als eine Entwürdigung, Schmach seiner Person, eventuell als selbstverschuldet und Unfähigkeitsbescheinigung erleben. Die Bloßstellung und Aufdeckung seiner Anpassungsmechanismen, die ungeprüfte Übernahme der Bilder und Konstruktionen der Umgebung, die er bei genauerer Überprüfung als verrückt und unsinnig ansieht, seiner Autoritätsgläubigkeit, von der er sich schon lange losgesagt glaubte und die er als lächerlich empfindet, ruft jedesmal erneut Peinlichkeit und Scham hervor, die er seinem Therapeuten persönlich übel nimmt. Er mag sich durch Schweigen erneuten Bloßstellungen entziehen oder sich rächen zur Korrektur des Selbstbildes, indem er den Therapeuten zu Hilflosigkeit verdammt, zugleich als Strafe und Rache, so wie er es immer getan hat und ihm selbst widerfahren ist.
       

    Eine Patientin schilderte mir, daß sie jede Stunde fürchte, weil ihre Verachtung und Selbsthaß herauskomme. Genau das könne sie nicht vertragen, daß sie hier nicht gehaßt und verachtet werde. So könne sie ihr altes Spiel, was ihr auch Sicherheit verliehen habe, der andere verachte sie oder verlange etwas verächtliches von ihr, nicht mehr spielen, und alles liege an ihr selbst.

        Die Umgebung wird ebenfalls die Bloßstellung ihrer Bilder, vor allem ihrer Schuldbilder befürchten und dementsprechend gegen eine Therapie arbeiten. Schließlich kennen sie es in ihrem Denken und Glauben nicht anders, als daß die Anteile verschiedener Personen in einer Person zusammengeführt werden und dieser Eine der Schuldige ist. Dieser Eine könnte einer von ihnen sein, sodaß durch die Therapie die Rollen neu ausgehandelt werden müßten, und das schafft Unsicherheit. Außerdem werden sie den Verlust des Angehörigen - schließlich ist das zwischenmenschliche Klima unerträglich und ein Trennung nur gar zu verständlich - und ihre eigene Einsamkeit fürchten. Deshalb sehe ich ein Therapieziel weniger in der Trennung von den Angehörigen - Trennung nur im Falle, daß überhaupt keine Konsens- und Dialogmöglichkeiten mehr bestehen -, sondern in der Individuation, d.h. einer inneren Autonomie innerhalb einer zwischenmenschlichen Bezogenheit.
       

    Falls ein Patient in der Therapiesituation in Verwirrung oder Zerrissenheit gerät oder/ und die Verwirrung auf mich übergreift, erlebe ich es häufig wie eine Erlösung, wenn ich mir in diesem Moment den Zusammenhang zwischen Spaltung und Verwirrung klar mache, nämlich daß der Patient neben- und nacheinander verschiedene Anteile in sich nicht zusammenbringt. Vermittele ich ihm diesen Zusammenhang und frage, welche Anteile es sein könnten oder zähle die mir momentan gegenwärtigen auf, versteht er dies, ist es für ihn ebenfalls wie eine Erlösung, falls er die Zusammenhänge verstehen und akzeptieren kann, bzw. falls dieser Zusammenhang überhaupt Raum in seinem Weltbild hat und in seinen Kopf paßt.
 

    Wenn ich Kriterien versuche zu gewinnen, wann eine Therapie ungünstig oder hoffnungslos verläuft, so fallen mir außer einer fortbestehenden Diffusion oder der Kehrseite der Diffusion, der einzementierten Blockadenbildung bzw. Bollwerkes des Welt- und Selbstbildes zuerst die Mütter ein, die meinen, sich für ihre Kinder und ihre eigenen Mütter aufgeopfert haben und unter keinen Umständen bereit sind, sich die Freiheit zu geben, weil sie dann ebenfalls ihren Kindern die Freiheit geben müßten - überhaupt jeder, der meint, einen hohen Preis gezahlt zu haben und im Sinne des Gleichheits- und Gerechtigkeitsprinzips eine Rückzahlung des Preises nicht nur erwartet, sondern beansprucht. Anders beleuchtet sehe ich es auch so, daß er durch die Fixierung an den anderen nicht in der Lage ist, sein eigenes Leben konstruktiv in die Hand zu nehmen. Solch ein Bollwerk der Gerechtigkeit besteht auch häufig bei kriegerischen Auseinandersetzungen wie aktuell im Golfkrieg. Was die einen als Verbrechen am Menschen und der Umwelt bezeichnen, müssen die anderen um so heftiger als Kampf um Frieden, Freiheit und Gerechtigkeit, von beiden Seiten als Heiliger Krieg gesehen, feiern.
        

    Einzeltherapeutische Möglichkeiten sehe ich in der genauen Betrachtung der aufspaltenden Sichtweisen, Realtitätskonstruktionen, gefühlsmäßigen und Verhaltensimplikationen mit ihren Folgen. Schwer wird die Arbeit bei Patienten, die sich kaum festlegen, sodaß kaum konkrete Inhalte zu eruieren sind, immer vor ihren Ängsten auf der Flucht sind, ohne diese zu definieren, im Extremfall vor der Angst durchdrehen "alles falsch" zu machen, sodaß Konkretisierungen und Alternativbilder kaum möglich sind. Ebenso, wenn jemand seine Realität als Bollwerk der Wahrheit verteidigt und den Zusammenbruch seines Weltbildes gleich seiner selbst vernichtend fürchtet. Die Vorstellungen und Überzeugungen des Therapeuten üben wiederum eine große Prägekraft aus, sind aber nur integrierbar, wenn sie in die derzeitigen Bilder und Integrationsmöglichkeiten des Patienten passen. So stellt eine Patientin nach längerer Betrachtung fest, daß sie nur vor den Gedanken anderer Angst hat und alles tut, diese zu vermeiden, die sie selber als abgrundtief schlimm bewertet. Potentielle andere negative Gedanken würden ihr gar nichts ausmachen.

        Die Wirksamkeit der Therapie tritt ein, wenn der Patient von seinen Sichtweisen mit den dazu gehörigen Gefühlen und Handlungen - sie müssen nicht immer positiv und vollbewußt sein - als rechtmäßig überzeugt ist, insofern mit sich eins und kongruent ist, und sich nicht allzu sehr von alternativen Sichtweisen und Realitätsvorstellungen beirren läßt. Man könnte die Wirksamkeit mit der von Placebomedikamentengaben vergleichen, zu der verkürzt nach Levi-Strauß 3 Faktoren gehören: 1. daß der Arzt glaubt, daß die Medikamente wirksam sind, 2. daß dies der Patient glaubt und 3. daß dasselbe die Umgebung des Patienten glaubt. Die Überzeugungen des Therapeuten müssen also in die derzeitigen Überzeugungen und Integrationsöglichkeiten des Patienten passen. So geschieht es oft, daß der Patient bei akut auftretender Symptomatik überzeugt ist, nur eine Medikamentenbehandlung könne ihm helfen, einen Schulmediziner aufsucht und den aktuellen Konflikt unbearbeitet läßt. Der Psychotherapeut mag frustriert zurückbleiben und dies als Verrat an seinen Überzeugungen und Möglichkeiten sehen. Die Dissonanzen zu den Überzeugungen der Umgebung stellen ein gravierendes Therapiehindernis dar, weswegen eine Einzeltherapie nur bei einer partiellen Autonomie möglich ist.
        - Dazu ein trauriges Beispiel, daß eine vielleicht richtige Überzeugung durch die Dissonanz mit den Überzeugungen der Behandler nicht weiter führen kann: Ein mit bizarren Realitätskonstruktionen für mich als Borderline diagnostizierter Patient hatte eine längere Behandlung beendet, wobei ich ihm nach meinem Eindruck nur begrenzt helfen konnte. Etwa 1/2 Jahr später rief seine Ehefrau an mit der Bitte um Weiterhilfe. Sie berichtete, daß sie an einer lebensbedrohlichen Thrombocytopenie ( Blutblättchenmangel) erkrankt sei und alle Medikamente wie Cortison nichts nützten. Wenn sie hart angefaßt werde, fange sie sofort an zu bluten. Auf ihre Einwände bei den behandelnden Ärzten, daß die Krankheit "psychisch" bedingt sei, hätten diese nur gelacht. Ich habe sofort gedacht, unter diesen Umständen kann die Medikamentenbehandlung nicht helfen.-
       

    Als wichtigen Maßstab des Therapiefortschrittes sehe ich die Anerkennung des Einflusses des Elternhauses, der Familie bzw. der Primärbeziehungen, die Verinnerlichungen und Macht der Bilder, Realitätskonstruktionen und vorgelebten Überzeugungen. Die Verleugnung dieses Einflusses geht sogar soweit, daß sogar Analytiker meinen, das neurotische Leben ihrer Patienten seien Produktionen ihrer eigenen Phantasien und Bilder. Erst wenn diese Zusammenhänge voll anerkannt sind und vor allem die Wiederholungen (Wiederholungszwang) realisiert werden, können Alternativen anerkannt werden. Ansonsten kann an andere Inhalte, zumindest tief im Inneren nicht geglaubt werden, und die eigene Person wird als falsch, unglaubwürdig bzw. alle Erkenntnisse als außen "angeklatscht" gesehen.
       

    Als das wichtigste therapeutische Instrument des Therapeuten sehe ich die Gegenübertragung an, die es jederzeit genau zu kontrollieren gilt, also die eigenen Vorstellungs- und Gefühlsreaktionen des Therapeuten, genauso die Handlungsimpulse und tatsächlichen Handlungen, dem Handlungsdialog, auf die verbalen, noch wichtiger nonverbalen Mitteilungen des Patienten. - Natürlich stehen diese im Zusammenhang mit der Persönlichkeit des Therapeuten, seiner Kindheit, seinen Sichtweisen und Konstruktionen. Insofern ergibt sich ein Dialog zwischen 2 Vertretern von 2 Familientraditionen. - Die Gegenübertragung stellt die aktuelle Einbezogenheit in die Konflikte des Patienten dar. Von dieser Einbezogenheit gilt es eine Außenposition zu gewinnen, diese spiegelbildlich als Konflikterlebnis in inneren und äußeren Zusammenhängen des Patienten selbst zu reflektieren und - wenn möglich - dem Patienten mit Hilfe einer therapeutischen Ich-Spaltung zu vermitteln. Insofern stellt der Therapeut mit seiner Person, seinen Vorstellungen und Gefühlen eine Art Hilfs-Ich für den Patienten dar.
       

    Es mag passieren, daß der Therapeut wütend wird auf die Eltern oder Partner des Patienten, also sich innerlich mit ihm solidarisiert, oder umgekehrt auf ihn, also sich automatisch mit den anderen solidarisiert - dabei ist die Tragik des Patienten, daß er mit seinen Klagen und Vorwürfen an die Adresse der Eltern oder des Partners die anderen gegen sich einnimmt -, Angst bekommt um ihn oder einen Angehörigen, Mitleid, Überdruß, Langeweile bis zu einer Lähmung und bleiernden Müdigkeit verspürt, kaum noch die Augen aufhalten zu können oder sogar einzuschlafen, Schadenfreude und Rachegefühle empfindet. Im Rachehandlungsdialog mag er den Patienten unbewußt mit Deutungen abblitzen lassen. Ein häufiger Hintergrund ist, daß der Patient sich in der Behandlungssituation in der schwächeren Position sieht, die Umkehr erzwingen muß, indem er z.B. dem Therapeuten in allem sofort recht gibt, diesen scheinbar narzißtisch aufbaut, ohne die Inhalte selbst zu überprüfen, und den Therapeuten in eine hilflose Schwächeposition bringt und abblitzen läßt. Oft gelingt dem Patienten eine Rollenumkehr in Identifizierung mit der Elternrolle, und der Therapeut fühlt sich trotzig, maulig oder muffig an Kindes statt. Ähnlich mag der Patient dem Therapeuten die Verantwortung für die Therapie zuschieben, seine Eigenverantwortlichkeit abschieben, indem er diesem zugewandt seine Geschichten erzählt, auf dessen goldene Worte hört und seine eigene Befindlichkeit und Vorstellungswelt beiseite schiebt, so wie ihm Verantwortlichkeiten zugeschoben wurden.

        Der Patient mag hoffnungslose Gefühle im Gegenüber, die sich auf die Therapie und die Veränderungsmöglichkeiten des Patienten beziehen, oder sogar Hoffnungslosigkeit betreffs des eigenen Lebens im Therapeuten hervorrufen, für die dieser den Auslöser nicht im Patienten abzugrenzen vermag und selber hoffnungslos und depressiv wird. Ähnlich mag der Therapeut den eigenen Überdruß nicht als den des Patienten im Spiegel wahrnehmen. Problematisch und belastend kann es für den Patienten werden, wenn der Therapeut sein Grinsen und Lächeln über die Realitätskonstruktionen des Patienten, die er für naiv, weltfremd und kindisch hält, unkontrolliert nach außen trägt. Der Patient fühlt sich der Lächerlichkeit preisgegeben, wie so oft in seinem Leben, und nicht ernst genommen, wobei gerade dies das Ernsthafte ist. In der Rückspiegelung dieses Tatbestandes besteht aber gerade die Chance, und im fortgeschrittenen Stadium der Therapie, wenn der Patient diese Zusammenhänge bei sich selber verstehen und darüber lächeln kann, kann gemeinsam gelacht werden.               

       

    Behandlungsstillstände können vorkommen, wenn der Patient seine gefühlsmäßige Betroffenheit in der Therapie ebenso wie außerhalb in seinen zentralen Beziehungen in die Betroffenheit des anderen umwandelt. Z.B. mag der Patient seine Wut über die Lügen des anderen, sozusagen an der Nase herumgeführt und verascht zu werden, was eine Niederlage bedeuten würde, in die Wut des anderen überführen, in der Demonstration, daß das ihm alles und der andere egal sei - ein Kampf um Sieg und Niederlage und ein Kreislauf ohne Ende. Dabei mag die Beachtung der Langeweile und des Überdrusses im Therapeuten nützlich sein. Überdruß spüre ich besonders häufig bei Angstpatienten, wenn sie über die zermürbenden, sich wiederholenden und verstrickten Streitigkeiten innerhalb der Familie berichten und spiegele dabei den noch größeren Überdruß des Patienten wieder.
       

    Zu Schwierigkeiten führt häufig, daß der Patient potentielle Sichtweisen und Alternativen des Therapeuten als absolute Realitäten auffaßt, gegen die er sich zur Selbstbewahrung dann wehren muß. Dann mag ein Rechtsstreit entstehen, wer nun recht hat. Oft genug passiert es auch, daß der Therapeut seine Sichtweisen für Realitäten hält und sie dem Patienten als solche verkauft. Dies muß nicht immer ungünstig sein, da unter Umständen situativ der Patient durchaus das bessere Integrationvermögen besitzen mag, und sieht, daß auch Therapeuten Fehler und Schwächen haben und eventuell mehr "spinnen" als er. Das baut ihn dann auf und stabilisiert ihn.
       

    Ohne die stringente Beachtung der Gegenübertragung und Rückblendung auf das Innenleben des Patienten mag die Therapie ein hartes Brot für beide Beteiligten werden - deswegen das Kennenlernen und die Abgrenzung von eigenen Konflikten in der Lehranalyse und Behandlungssupervision.

        Hinsichtlich der Therapie halte ich die Erinnerung der Kindheit wichtig für das Verständnis und als Zugang für die heutigen Bilder und Handlungsweisen und als Perspektive für das zukünftige Leben. Langes Schwelgen in traumatischen Kindheitserinnerungen, Schuldzuweisungen und Anklagen an die Adresse der Eltern oder der damaligen Umstände sehe ich als verschwendete Zeit und als Abwehrmechanismus gegenüber heutigen realen Abläufen an, in denen der Patient seine Kindheit unreflektiert fortlebt. Ebenso sehe ich die Schilderung von endlosen Träumen an, für deren Deutung sowieso nie genügend Zeit ist und in die unter Umständen der Therapeut seine eigenen Realitätskonstruktionen hineinsieht. - Träume können als Symbole für ansonsten nicht wahrgenommene Realitäten nützlich sein. Man könnte das ganze Leben durch Hineinsehen eigener Konstruktionen in die Wirklichkeit als Traum mit Realitätsaspekten ansehen.- Falls der Therapeut dies länger mitmacht, landet die Therapie in einer Sackgasse. Es ergibt sich ein Handlungsmonolog, der zwar ebenfalls konstruktiv umgewandelt werden kann.

        Ich halte es für von zentraler Bedeutung, daß der Patient sich selbst seine Sichtweisen und seine Gefühls- und Handlungsimplikationen in seinem Kopf klar macht. Wegen der vielen unbewußten und nicht sichtbaren Anteile ist dies jedoch nur begrenzt möglich. Der Therapeut kann ihm nur dabei behilflich sein mit seinen Eindrücken und Erfahrungen von Zusammenhängen. Inkonkrete, diffuse oder allgemeine Darstellungen von Gefühlen und Zusammenhängen sind wenig nützlich, weil sie die Tatsache außer acht lassen, daß das Leben aus einer Aneinanderreihung von konkreten Situationen mit komplexen, teils widersprüchlichen Inhalten besteht. Falls der Patient dies sich selbst nicht klar macht, hat er wenig oder gar keinen Nutzen. Möchte er nur seine Gedanken los sein, unter denen er leidet und die er für unsinnig hält, kommt er nicht weiter. Die Anerkennung und Überprüfung dieser Gedanken und die Zusammenhangsicht mit den gefühlmäßigen und Verhaltensfolgen ist von zentraler therapeutischer Bedeutung.
       

    Nach meiner Erfahrung kommen die seit der Kindheit und oft über Generationen sozusagen eingeimpften und eingefleischten Sichtweisen und Realitätskonstruktionen, also in der Geschichtsdimension, in den verschiedensten Gewändern immer wieder und müssen unter anderen Gesichtspunkten erneut betrachtet und be- und verarbeitet werden. Dabei heißt Verarbeitung die Realisierung der Vorstellungen als Vorstellungen, die zunächst in ihrem Ausgang offen, und erst durch die Handlungsumsetzung Realität werden, zusätzlich mit der Vorstellung von Alternativorstellungen und alternativen Realitätsausgängen. Die Resultate mit all ihren ambivalenten und komplexen Implikationen offen sein lassen zu können und erst mal abzuwarten, nicht im Sinne einer panikartigen Lähmung, bedeutet Integration, Therapiefortschritt und Nachreifung. Körperliche und psychische Symptome stellen Hinweise für Störungen des intrapsychischen wie zwischenmenschlichen Beziehungssystems und Gleichgewichts dar und können somit konstruktiv verwertet werden. So sagte ein Patient mit chronischem Asthma "mein Weltbild ist ganz anders als das, was ist. Der einzige, der das gecheckt hat, ist mein Körper".

        Je länger ich an dieser Arbeit sitze, desto mehr Aspekte fallen mir ein und werden mir bei meiner täglichen Arbeit freihaus geliefert. Sicherlich geht es dem Leser genauso. Ich versuche den derzeitigen Stand meiner Sichtweisen darzulegen. Die Auslegungen von Mythen, Geneseerklärungen und Krankheitsbildern bedürfen ausführlicher Untersuchungen und Belegungen, für die mir bisher die Zeit, Lust und das Material fehlte. Ich möchte auch nicht von psychischen oder psychogenetischen Zusammenhängen sprechen, sondern eher von psychologischen, wobei jeder seine eigenen Auffassungen und Sichtweisen vertritt, also sein eigener Psychologe ist. Über den zwischenmenschlichen Kontext redet jeder in der Psyche des anderen mit und zwar nicht nur in der Kindheit, sondern während des ganzen Lebens. Mir geht es genauso, bei allem, was ich lese und höre, verändert sich meine Psyche, zumindest in Randbereichen.
       

    Vor der Entblößung von Scham und Lächerlichkeit im inner- und zwischenmenschlichen Bereich schützen "Gott sei Dank" andere Wissenschaften und deren Erkenntnisse wie die Medizin, Theologie, Philosophie und die Psychologie und Tiefenpsychologie selbst, wenn deren Erkenntnisse auch vielfach andere sind als die meinigen, und wie ich meine, vielleicht auch teilweise ein potentieller Leser und dabei Millionen an Forschungsgeldern an den falschen Stellen ausgegeben werden, nur dort nicht, wo die Gründe zu finden sind. Die Medizin sieht ausschließlich den Körper und nicht die übergeordnete Steuerung vom Kopf durch Erfahrungen, Prägungen und zwischenmenschliche Einflüsse. Die Erkenntnisse der Philosophie gehen nicht über den Kopf hinaus. Die Folgen für den Körper werden nicht gesehen. Und bei den Theologen kommt alles von Gott. Aber wer weiß schon, was richtig ist - außer den Wissenden und Eingeweihten. Mein Motto ist folglich "die Kunst des Nichtwissens".

        Bibliographie

Amati, S. (1990): Die Rückgewinnung des Schamgefühls. Psyche, 44, 724-740
Eitinger, L. (1990): KZ-Haft und psychische Traumatisierung. Psyche, 44, 118-132
Kernberg, O. (1975): Borderline-Störungen und pathologischer Narzißmus. Frankfurt (Suhrkamp) 1978
Klüwer, R. (1983): Agieren und Mitagieren. Psyche, 37, 828-840
Kogan,I. (1990): Kinder von Holocaust-Überlebenden - vermittelte und reale Traumen. Psyche, 44, 533-544
Lachauer, R. (1990): Der "Handlungsdialog" im therapeutischen Prozeß. Psyche, 44, 1082-1099
Ryn, R. (1990): Der Alptraum geht weiter. Psyche, 44, 101-117
Stierlin,H., G.Weber, G.Schmidt, F.B.Simon (1986): Zur Familiendynamik bei manisch-depressiven und schizo-affektiven Psychosen. Familiendynamik 11, 265-282