Trauma und Alltag im Spiegel von Mythen (Ödipussage, Bibel)

    Bei der Arbeit mit Patienten kommen mir immer wieder jahrtausende alte Mythen in den Sinn, und je mehr ich sie von verschiedenen Seiten betrachte, desto mehr drängt sich mir der aktuelle Wahrheitsgehalt in den verschiedensten Facetten und Schattierungen auf. Ich halte Mythen für aktuelle, harte Realität im alltäglichen Konflikt- und Krankheitsgeschehen. Sie zeigen mir, wie sehr der Mensch über die Jahrtausende hin sich in seinen urmenschlichen Grundkonflikten treu geblieben ist. Meiner Ansicht nach spiegeln Mythen die Folgeerscheinungen und -zustände der Traumatisierung wieder und sind für mich eine Parabel der Angst und Bedrohung. Wegen der Kürze der Zeit kann ich mich nur auf einige Aspekte beschränken. Sie sollen Anregungen zu weiteren Einfällen sein. Mir selbst fallen immer neue Aspekte ein.

            Ödipussage

            Die Blinden Seher stellen im menschlichen Leben den Zusammenhang zwischen katastrophalen Vorerfahrungen, der Traumatisierung, und dem darauf basierenden Zukunftsentwurf dar. Die Vergangenheit hat sich dermaßen stark in die Neurone eingeprägt, daß sie hellseherisch in die Zukunft geworfen, in ihr prophezeit und antizipiert wird, jegliche Differenzierungen verloren gehen und gegenüber anderen möglichen hoffnungsvolleren Ausgängen und Ereignissen unter anderen, späteren Umständen Blindheit besteht. Zur Verhinderung der prophezeiten Katastrophe ist jedes Mittel notwendig, hier der versuchte Sohnesmord, wobei die Mittel bedrohlicher als die zu verhindernden Katastrophen sein können und somit eine weitere Bedrohung darstellen

            Der weitere Verlauf der Ereignisse zeigt sehr schön, wie im menschlichen Leben gerade durch die Verhinderungsversuche die Bedrohung sich erfüllt. Vatermord und Inzest wären ohne die Verhinderungsstrategie des Vaters von Ödipus wohl kaum passiert.

Irgendwo habe ich mal gelesen, daß im großen sozialen Kontext der Sohnesmord eine wesentlich größere Rolle spielt als die Umkehrung, wie im Ödipuskonflikt postuliert, etwa wenn Söhne in Kriegen fallen, die die Väter angezettelt haben.

            Das Rätsel der Sphinx zeigt die tödliche Bedrohung der Lösung des Rätsels des menschlichen Seins, entweder im Falle der Lösung für die Sphinx oder im Falle der Nichtlösung für den Rätselratenden. Wir Psychos werden im Gesundheitswesen bei unseren Lösungsversuchen heftig attakkiert, wobei weite Bereiche wie der psychosoziale Kontext tabuisiert sind. Millionen Forschungsgelder werden bei vielen Volkskrankheiten dort ausgegeben, wo die Lösungen garantiert nicht zu finden sind. Scham, Schande und Schuld sind zu große existentielle Bedrohungen.

            Die Blendung des Ödipus hat laut Patzer den zentralen Aspekt, daß er seine Schande in den Augen des Umfeldes nicht sehen will und kann. Er sieht sich selbst, seine Bewertungen und Bedeutungen im Umfeld, sich selbst im Anderen, und kann nicht mehr sehen, daß sich oft ganz anderes abspielt, das tragische Schicksal vieler differenzierungslos Geblendeten. Ödipus muß so traumatisch rigide erzogen worden sein, deswegen wohl sein Jähzorn, daß er nichts anderes mehr sehen kann.

Bibel

            Während im griechischen Mythos die katastrophalen Vorereignisse noch erwähnt sind, wenn auch das Wesentliche der Erzählung in den Folgen geschildert wird, sind in der Biblischen Schöpfungsgeschichte die katastrophalen Vergangenheitserfahrungen von Gott völlig verleugnet, aus welchen Gründen Gott zu seinem Wort kommt. Dies entspricht dem Alltag, daß traumatisierte Eltern die Gründe ihrer Gebote und Verbote nicht benennen. Sie sind verleugnet, unaussprechlich und unhinterfragbar. Falls sie die Gründe benennen würden, wären unter anderen Umständen und in anderen Zeiten ihre Gebote und Verbote infrage gestellt.

Existentielle traumatische Erfahrungen prägen sich derart stark in die Neurone ein, daß sie eine allumfassende Vorherrschaft übernehmen und in aller Zukunft gefürchtet werden. Im Angesicht und der Erwartung der Bedrohung ist naturgemäß alles auf die Verhinderung ausgerichtet. Die Folge sind absolute Kontrolle, das unantastbare Wort, die Gebote und Verbote, die zum Göttlichen und zur Religion erhoben werden, und die Spaltung in Gott und den Teufel, das Paradies und die Hölle. In Selbstbestimmung, eigenen Erkenntnissen wird Ungewißheit und die existentielle Bedrohung gefürchtet, und sie sind somit das Böse. Neben der Bedrohung, personifiziert im Teufel, stellen diese externalisiert das Werk des Teufels dar.

Und wie im Alltag  wird der Teufel in und an alltäglichen Dingen und Vorgängen und in analogen Situationen (sog. Triggersituationen im PTBS) erkannt und festgemacht und diese dadurch zur Bedrohung hochstilisiert. In der Bibel ist es das Essen eines Apfels, wobei dieser Tat frevelhafte, teuflische Eigenschaften zugeschrieben werden wie frevelhafte Gottgleichheit und der Baum zum Baum der Erkenntnis (Hinweis von Mentzos) hochstilisiert wird. In der Bedrohung können unterschiedliche Interessen, Wünsche und Handlungen nicht als gleichberechtigt nebeneinander stehen und zugelassen werden und werden deshalb als frevelhafte Gottgleichstellung interpretiert. Im Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts, wieder gespiegelt in den meistgelesenen pädagogischen Büchern von Schreber, galt der Wille des Kindes (bzw. Trotz) als etwas um jeden Preis zu Brechendes, also der Teufel. Ich denke, deswegen ließen Generationen von gebrochenen Menschen ihre Wut auf ihre Eltern an Randgruppen wie den Juden aus. 

Lustvolles und Verführerisches animieren besonders zur Selbstbestimmung und werden deswegen als Bedrohung gesehen. Fundamentalistische Christen sind deswegen sehr lustfeindlich. In meiner katholischen Erziehung galt Onanie noch als Todsünde, laut Mythos im Todesfalle mit der Hölle bestraft, normalerweise für den Jugendlichen der einzige Grund zur Beichte und somit Existenzberechtigung des Beichtvaters, heute laut Sexualwissenschaftlern notwendig zur psychosexuellen Reifung.

Die fehlende Förderung und Verurteilung eigener Wünsche, Absichten und Ziele, also der Selbstbestimmung und Freiheit, sehe ich als eine grundlegende Traumatisierung an. Als Folge ist es zum Selbsterhalt eine menschliche Eigenschaft, gegen Verbote, deren Sinn nicht erklärt wird, die in der gegenwärtigen Realität unsinnig sind und die überhaupt die menschliche Anlage der Selbstbestimmung übergehen, zu verstoßen. Darüber  hinaus  werden das Verbotene und die Übertretung selbst besonders reizvoll. Das Kind wird wie Eva also regelrecht zur Übertretung und zum Verstoß provoziert bzw. verführt.

Da ein Kind aber noch kein eigenes Weltbild aufgrund eigener Erfahrungen, Bewertungen und Bedeutungen besitzt, ist es mit den Verboten der Gotteltern identifiziert und verinnerlicht die eigenen Verstöße als Schuld und Sünde, wofür es bestraft wird. Die Gründe der Sünde werden bei Eva und nicht bei Gott gesehen. Die Eltern sehen sich im Kind. Es gibt diese an die Nachfolgegenerationen weiter, der Erbsünde. Die Selbstaufgabe und Strafen erlebt es als Demütigung und Niederlage, einer erneuten Traumatisierung.

Im Angesicht vielfältiger Bedrohungen wird das Leben wie im biblische Mythos zum Irdischen Jammertal, das der Erlösung harrt. So wie als Folge einer ursprünglichen Traumatisierung Sünde und Schuld von Gott geschaffen wurden, kann die Erlösung nur durch Gott stattfinden.

Eltern, deren Kinder die Verbote übertreten, sehen die Gründe als Verführung der Außenwelt. Es sind Einflüsterungen des Teufels. Daß das Weib die Böse ist, beschreibt die Tatsache, daß in den meisten Kulturen die Frau und Mutter als hauptanwesende Person die Prägerin des heranwachsenden Menschen ist und somit sie infolge ihrer teuflischen Einflüsterungen als Folge ihrer eigenen Traumatiserungen die Böse ist. Meiner Ansicht nach fanden deswegen die Hexenverbrennungen statt - das Symbol Hexe stellvertretend für die böse Mutter. Man könnte die Stigmatisierung der Frau auch als Rache an den Müttern ansehen.

Ein alltägliches Beispiel der Spaltung stellt die Geschichte von Kain und Abel dar. Ich sehe die Schuldzuweisung unter dem Aspekt der Abwehr von Scham. In einem für alle Seiten peinlichen Geschehen erlöst die Schuld von Scham.

 Während im normalen Alltag Sünden durch Strafen ausgeglichen werden können, sind in der existentiellen Bedrohung diese und die tragischen, unauflöslichen Folgekreisläufe so eingefahren und eingeprägt, daß sie im Mythos nur durch die Erlösung aufgelöst werden können. Die biblischen Erlösungsmythen finden sich vielfältig im Alltag wieder. Einer der wichtigsten ist der der Heiligen Familie, ein anderer und zentraler, der Kern der christlichen Religion, der der Kreuzigung und Selbstaufopferung des Menschgottes zur Erlösung der Menschheit.

 Die Heilige Familie ist das Ideal- und Gegenbild, weil es in traumatisierten Familien gegenteilig zugeht.  In unserem Kulturkreis werden die heilige Familie und der Mutterkult vor allem zu Weihnachten, Muttertag und Mutters Geburtstag gefeiert. Da die Heilige Familie den Idealtyp auf gegenteiligen Hintergrund darstellt, häufen sich an diesen Tagen die Konflikte, die dem Altar der Harmonie geopfert werden müssen. Sie werfen ihre Schatten im voraus und nachhinein. Der Mutterkult stellt eine Abwehr der Bedrohung durch die Mutter, von Eva und dem Teufel dar.

            Die Bibel sagt aus, daß für unsere christliche Kultur die Jungfräulichkeit Leitbild ist, nicht nur außerhalb, sondern gerade innerhalb der Ehe und Familie. Im Sinne der Selbstbehauptung und -bestimmung wird diese oft genug durchbrochen. Es entsteht eine Spaltung in Gegenbilder der Nonne und  Hure. Bei den Huren können die Männer all das machen, wofür ihre Frauen sich zu schade und sie ihnen zu schade sind. Schließlich wollen die Männer auch anständige Ehefrauen. In manchen Kulturen, vor allem im mittleren afrikanischen Gürtel, werden die Frauen für mannstoll und sexbesessen gehalten, deswegen werden sie zur Aufrechterhaltung ihrer ehelichen Treue und Anstand  grausam beschnitten.

            Erlösung, Kreuzigung und Auferstehung

        Im biblischen Mythos findet die lang ersehnte Erlösung in der Kreuzigung und Selbstaufopferung von Jesus Christus statt, einem Zwitterwesen wie der traumatisierte Mensch, der das Göttliche und Menschliche in sich vereint. Dies muß zur unantastbaren Religion erhoben werden, da im realen traumatisierenden Leben auch im Nachhinein von der Erlösung wenig zu spüren ist.

Einen Hintergrund der Kreuzigung sehe ich in der Strafe für die Hybris, daß ein Mensch sich zum Gott erhoben hat. Wenn jemand die absolute Wahrheit verkündet, wird er von den Einen, den total Verunsicherten und Traumatisierten, als Gott verehrt, von Anderen verurteilt. Die absolute Wahrheit bedeutet eine Todesbedrohung für Mannigfaltigkeit und Selbstbestimmung, verursacht Kampf, Zwist, Streit und als Folge Krankheiten. Insofern ist sie kreuzigungswert. Andererseits hatten Jesus und seine Gefolgschaft vom Zeitpunkt der Verkündigung an schon weite Bereiche ihres selbstbestimmten Lebens verloren  - für sie eine weitere Traumatisierung. Jesus war Opfer und Funktion der Erlösungserwartungen des Umfeldes. Insofern ist der Verlust des körperlichen Lebens nur konsequent. Ich sehe bei vergleichbaren Hintergründen darin eine Theorie des Selbstmordes. Dies im Sinne einer göttlichen Verherrlichung zu tun, ist ein ungeheurer narzißtischer göttlicher Gewinn, kostet aber das Leben. Und gleichzeitig wurde er noch von diesem aufopferungsvollen Leben erlöst. Dieses Märtyrertum wird von vielen als göttliches Heldentum mit Belohnungen im Jenseits (siehe die Selbstmordattentäter) verehrt. 

Nun kann ja ein Gott nicht so schmählich und demütigend umkommen. Das kann nur ein Mensch. Die Geschichte wäre zu Ende. Er muß wie in einem Groschenroman in Glorie als Gott wieder auferstehen. Dadurch bleibt uns das Wort als Abwehrstrategie der Angst und Bedrohung  und somit die Traumatisierung durch die Abwehrstrategie erhalten, wie die weitere Geschichte der Menschheit zeigt. Die Erlösung geht weiter und findet immer neue Götter, und wenn diese auch nur Geld, Macht, Schönheit oder anderes sind. Diese Erlösungen tragen wiederum den Teufel in sich, wenn sie zur Absolutheit erhoben werden und nicht im zwischenmenschlichen Kontext von gegenseitiger Achtung und gemeinsamen Genuß eingebettet sind.