Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen

Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft:

Eröffnungsvortrag des 43. Deutschen Historikertags am 26.09.2000 in Aachen

Wolf Singer

Dem Programm des Historikertags zu entnehmen, daß ein Neurobiologe, also ein Vertreter einer sogenannten exakten naturwissenschaftlichen Disziplin den Eröffnungsvortrag einer kulturwissenschaftlichen Tagung hält, war für Sie vermutlich genauso überraschend wie für mich der Anruf von Prof. Fried, in welchem er mich zu diesem Abenteuer anstiftete. Nehmen Sie also bitte das, was ich Ihnen jetzt vortragen werde, als das Ergebnis meines kollegialen Bemühens zu erraten, was die Intentionen des Programmkomitees gewesen sein könnten.

Daß die Geschichtswissenschaften sich mit der Analyse von Vergangenem, mit der Aufklärung von Prozessen befassen, die sich durch Nicht-Wiederholbarkeit auszeichnen und sich somit dem experimentellen Zugriff entziehen, ist kein Privileg dieser Disziplin, sondern allenfalls eines der epistemischen Probleme, mit denen auch die exakten Naturwissenschaften umzugehen haben. Denken Sie nur an die Kosmologie oder die Evolutionsbiologie. Auch hier muß im Nachhinein ergründet werden, wie es sich vollzogen hat und warum so und nicht anders. Freilich sind die Vorgänge, für die Sie sich interessieren, erst mit dem Menschen in die Welt gekommen, als dieser begann, der biologischen die kulturelle Evolution hinzuzufügen, - als das, was wir als Geschichte bezeichnen, seinen Anfang nahm. Aber auch diese Besonderheit teilen Sie mit einigen Disziplinen, die sich den Naturwissenschaften verbunden fühlen, wie der Paläontologie und der Anthropologie, und natürlich teilen Sie diese Besonderheit mit allen anderen kulturwissenschaftlichen Disziplinen, die allesamt damit beschäftigt sind, die Phänomene aufzuarbeiten, die über die spezifisch menschlichen Bemühungen der Daseinsbewältigung zu erforschbaren Wirklichkeiten wurden. Und an dieser Stelle meines Nachdenkens über die Intention der Programmgestaltung war die Versuchung groß, Antworten auf einige Fragen zu suchen, die vermutlich nicht an mich gerichtet waren, die Sie aber vermutlich gleichermaßen bewegen: Wann genau schlug Evolution in Geschichte um, wie sehr wirkt das eine im anderen immer noch nach, wodurch unterscheiden sich die beiden historischen Prozesse, welche Prinzipien der Selbstorganisation wurden abgelöst, welche neuen traten hinzu? Ich hätte gerne bei diesen Fragen verweilt, weil sie vehement nach interdisziplinärer Behandlung verlangen, und das nicht erst, seit Naturwissenschaftler die Möglichkeit einer Wiederannäherung von Natur- und Kulturwissenschaften erwägen oder gar laut den Traum einer Einheitswissenschaft träumen. Aber da ich annehmen durfte, daß das Programmkomitee meine Kompetenz richtig einschätzt, konnte es ein derartiges Abenteuer nicht im Sinn gehabt haben.

Was also ist das Besondere an der Geschichtswissenschaft, das die Einmischung der Hirnforschung rechtfertigen könnte. Ich vermute, daß es in den Quellen zu suchen ist, aus denen die Geschichtswissenschaft schöpft. Dabei sind nicht die direkt faßbaren Spuren gemeint, die Geschichte hinterläßt, die Bauwerke, Kulturlandschaften, Schlachtfelder, Ruinen und Gräber – diese bedürfen zwar der Interpretation und Einordnung wie alle Objekte wissenschaftlicher Nachforschungen,

aber sie sind wiederholter Begutachtung zugänglich wie Fossilien auch und können im Streitfall erneut untersucht werden, da die Interpretierenden leben. Gemeint sind vielmehr die Zeugnisse, die bereits ihrerseits Ergebnis menschlicher Wahrnehmung, Erinnerung und Deutung sind, - die in bild– und Schriftsprache formulierten Berichte über Vorgefallenes, die Protokolle von Dabeigewesenen, die in Schriften und bildern festgehaltenen Erinnerungen von Augenzeugen und schließlich die weitererzählten, die zunächst mündlich überlieferten und dann irgendwann festgehaltenen Berichte, die von Menschen verfaßt wurden, die selbst nicht dabei waren. Wenn ich recht verstehe, sind diese Überlieferungen eine wesentliche Grundlage historischen Forschens und dann gibt es hier in der Tat Besonderheiten, welche die Geschichtswissenschaften von anderen Disziplinen unterscheiden. Zwar untersuchen auch die Literaturwissenschaftler Texte und die Kunsthistoriker bilder – aber für diese Wissensdisziplinen sind die Texte und bilder selbst Forschungsobjekt. Es geht um die Strukturen der Erzeugnisse selbst und um die Motive des Urhebers. Interpret und Produzent bilden ein geschlossenes System, über dessen Objektivierbarkeit trefflich und relativ folgenlos zu streiten ist. Nicht so in den Geschichtswissenschaften. Hier erfüllen bilder oder Schriften die Funktion von Berichten, die auf vermutete Wirklichkeiten verweisen, die es zu ergründen gilt. Es geht nicht um die Berichte selbst, sondern um das Geschehen, über das berichtet wird, und es geht darum, eine möglichst zutreffende, manche würden auch sagen, objektive Rekonstruktion zurückliegender Vorgänge zu erzielen.

Wir sehen, was zu sehen nützlich ist

Um dies zu erreichen, müßte eine ganze Kaskade von Voraussetzungen erfüllt sein. Zuvorderst müßte der Exeget die Sprache des Berichters so gut verstehen, daß er das Gemeinte tatsächlich erschließen kann. Dazu benötigt der Exeget nicht nur perfekte Beherrschung der jeweiligen Sprache, sondern er muß auch um den Kontext wissen, in welchem der Bericht entstand, für wen und warum der Zeuge schrieb oder malte und welche Idiosynkrasien ihm eigen waren. Oft dürfte diese Beurteilung gerade das Wissen um damalige Bedingungen erfordern, das es zu erlangen gilt. Der Exeget ist also in einem hermeneutischen Zirkel gefangen – aber ich will diesen übergehen und mich den weiteren Voraussetzungen für zutreffende Rekonstruktionen zuwenden.

Auch der Berichterstatter selbst muß seine Sprache beherrschen und in der Lage sein, das von ihm Wahrgenommene möglichst zutreffend und unmißverständlich auszudrücken. Und auch hier gibt es Übertragungsprobleme. Wir haben zwar nur fragmentarische Vorstellungen darüber, wie Wissen, wie Erinnerungen im Gehirn repräsentiert sind, aber soviel scheint gewiß: die Struktur der Engramme ist nicht sonderlich gut geeignet, um in Sätze rationaler Sprache umgesetzt zu werden. Wahrnehmungen und Erinnerungen haben holistischen Charakter, was in zeitlicher Abfolge erfahren wurde, liegt meist als gebündelter Gesamteindruck vor, dessen verschiedene Komponenten aufs innigste assoziativ miteinander verknüpft sind. Doch selbst wenn dem inneren Auge dieses komplexe Geflecht von Fakten, Beziehungen und Bewertungen klar und transparent erscheint, - was längst nicht immer der Fall ist - erweist es sich in der Regel als schwierig, dieses parallel organisierte Wissen in eine Sequenz von rationalen, logisch konsistenten Aussagen zu übersetzen. Für sprachliche Fassungen müssen Inhalte in die Reihe gebracht werden, die im Gehirn nicht seriell, sondern parallel repräsentiert sind. Dies erfordert

Auswahl, Prioritätensetzung, Auflösung assoziativer Verknüpfungen und Reihung nach seriellen Ordnungsprinzipien. Wie schwer dies fällt und wie weit das, was schließlich auf dem Papier steht, hinter dem zurückbleibt, was dem inneren Auge so deutlich war, das haben Sie, die Sie wie auch wir zur schreibenden Zunft gehören, längst und schmerzlich an sich selbst erfahren. Und so nimmt nicht wunder, daß Menschen, wenn sie wirklich verstehen oder zu verstehen geben wollen, was wirklich war, auf Begegnungen bestehen. Diese eröffnen dann die Option, parallel zur rationalen Sprache auch die anderen Ausdrucksmöglichkeiten zu nutzen: Prosodie, Mimik und Gestik. Und dies nicht nur, weil komplementäre, in Sprache schwer faßbare Information über diese Kanäle ausgetauscht werden kann, sondern auch, weil der Wahrheitsgehalt rationaler Aussagen so am besten zu überprüfen ist. Historikern ist diese Möglichkeit meist genommen, weil die Zeitzeugen nicht mehr leben. Es bleibt dann nur das Vertrauen darauf, daß der Berichterstatter sich redlich verhalten hat, daß es ihm gelungen ist, das was seinem innerem Auge vorlag, als er zur Feder griff, gut zu Papier zu bringen - und daß er sich an das Wahrgenommene getreu erinnerte, als er schrieb - und daß er ein sorgfältiger Beobachter oder Zuhörer war, als er wahrnahm, was er - meist erst nach geraumer Zeit - schriftlich festhielt.

Und damit bin ich bei meinem eigentlichen Thema angelangt und bei den, wie mir scheint, in diesem Kontext drängendsten Fragen nach der Verläßlichkeit unserer Wahrnehmungen und Erinnerungen.

Was wir wahrzunehmen in der Lage sind und wie wir wahrnehmen, ist durch die Natur der kognitiven Prozesse in unserem Gehirn festgelegt. Unser Gehirn wiederum ist Ergebnis eines evolutionären Prozesses, der über zufällige Mutationen und Wettbewerb Strukturen hervorgebracht hat, die sich in ihrem jeweiligen Biotop behaupten konnten. Dies macht zwar wahrscheinlich, daß sich dabei kognitive Systeme herausgebildet haben, die Vorgänge in der Welt draußen möglichst genau zu erfassen erlauben, es ist jedoch keine Garantie dafür, daß die Systeme daraufhin optimiert wurden, eine möglichst objektive Beurteilung der Welt zu liefern. Neurobiologische Erkenntnisse über die Organisation unserer Wahrnehmungssysteme lassen hierüber Zweifel aufkommen. Unsere Sinnessysteme wählen aus dem breiten Spektrum der im Prinzip bewertbaren Signale aus der Umwelt einige ganz wenige aus und dabei natürlich solche, die für das Überleben in einer komplexen Welt besonders dienlich sind. Aus diesem wenigen wird dann ein kohärentes bild der Welt konstruiert und unsere Primärwahrnehmung läßt uns glauben, dies sei alles, was da ist. Wir nehmen nicht wahr, wofür wir keine Sensoren haben, und ergänzen die Lücken durch Konstruktionen. Erst die Verwendung künstlicher Sensoren lehrt uns dann, daß es da weit mehr wahrzunehmen gäbe.

Noch mehr eingeschränkt wird das, was wir von Augenblick zu Augenblick wahrzunehmen in der Lage sind, durch die begrenzte Kapazität jener Prozesse, auf denen bewußte Wahrnehmung beruht. In unserem Gehirn kommen fortwährend weit mehr Signale von den Sinnesorganen an als uns bewußt ist. Viele von diesen Signalen werden auch bearbeitet, aber das Ergebnis dieser Analysen gelangt nicht ins Bewußtsein. Dies bedeutet natürlich nicht, daß diese unbewußten Prozesse nicht verhaltensrelevant sind. Im Gegenteil, vieles von dem, was wir tun oder lassen, verdankt sich solcher unbewußter Erkennungsleistungen. Diese finden aber nicht den Weg in die Erinnerung. Und so kommt es, daß Menschen, wenn sie nach Motiven für bestimmte Handlungen befragt werden und die wirklichen Motive auf solchen unbewußten Prozessen beruhen, flugs und ohne zu zögern frisch erfundene

Motive anbieten, ohne sich gewahr zu werden, daß diese Begründung unzutreffend ist.

Hieraus ergeben sich zwei wichtige Schlußfolgerungen für unser Problem: Erstens, Begründungen von Handlungsmotiven muß mißtraut werden, und zwar nicht, weil der Befragte vorsätzlich lügen könnte, sondern weil er keine lückenlose, bewußte Kontrolle über seine Motive haben kann. Zweitens, Menschen haben das unwiderstehliche Bedürfnis, Ursachen und Begründungen zu finden für das, was sie tun. Diese fortwährende Suche nach Kausalbeziehungen prägt auch unsere Wahrnehmungsstrategien und ist nicht selten Ursache für Fehlwahrnehmungen. Dies wird uns in Kürze beschäftigen. Doch vorher noch einige Bemerkungen zur fragmentierten Wahrnehmung der Welt.

Weil, aus welchen Gründen auch immer, der Zugang zum Bewußtsein beschränkt ist, haben alle höher entwickelten Gehirne Mechanismen zur Steuerung der sogenannter "selektiven Aufmerksamkeit" entwickelt, mit denen sie aus der Fülle der ständig verfügbaren Signale jene auswählen können, die zu bewußter Verarbeitung gelangen sollen. Die Ergebnisse dieser bewußten Bearbeitung werden dann auch zu den Inhalten, die gegebenenfalls - aber nicht notwendigerweise - erinnert werden können. Welche Ereignisse in der Lage sind, die selektive Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und damit erinnerbar zu werden, hängt nun wiederum von einer Vielzahl von Faktoren ab. Hier sind, wie wir das nennen, "bottom up"- und "top down"-Prozesse eng miteinander verflochten. Zum einen ziehen auffällige Reize oder Ereignisse die Aufmerksamkeit ohne Zutun des Beobachters auf sich. Sie erzeugen besonders starke neuronale Antworten in der Hirnrinde und diese beeinflussen dann direkt, gewissermaßen von unten herauf, die Mechanismen, welche die Aufmerksamkeit steuern. Es besteht jedoch auch die Option, die Aufmerksamkeit von sich aus zu lenken, wobei sowohl bewußte, also absichtsvolle, als auch unbewußte, also nicht willkürlich beherrschbare Faktoren zusammenwirken. Bestehen bestimmte Erwartungen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Sinneskanäle, welche die erwarteten Ereignisse übertragen werden. Diese kommen dann bevorzugt, aber natürlich auf Kosten anderer Vorgänge, zur Verarbeitung, die erwarteten Inhalte werden schneller verarbeitet, schneller identifiziert und gelangen dann meist auch bevorzugt ins Bewußtsein und in die Langzeitspeicher. Aber die zentrale Steuerung der Aufmerksamkeit unterliegt auch unbewußten Einflüssen. So können unbewußt gebliebene Reize oder Erinnerungen Erwartungen auslösen, die selbst unbewußt bleiben, aber dennoch dafür sorgen, daß sich die Aufmerksamkeit bevorzugt auf bestimmte Sinnessignale richtet. Da Fokussierung von Aufmerksamkeit immer mit dem partiellen oder manchmal auch vollständigen Ausschluß der Wahrnehmung von nicht mit Aufmerksamkeit bedachten Ereignissen einhergeht und vor allem mit einer Amnesie für diese Vorgänge - also dem "Nicht-Erinnern-Können" - wird deutlich, wie wenig objektiv und umfassend unsere Wahrnehmungen sind. Meist nehmen wir nur wahr, was wir ohnehin erwarten und oft vereiteln auffällige, aber möglicherweise unbedeutende Reize die Wahrnehmung der leisen aber vielleicht viel wichtigeren Vorgänge. Die eigentliche Kunst der Zauberer besteht darin, genau diesen Mechanismus der Steuerung von Aufmerksamkeit auszunutzen. Welche fatalen Auswirkungen dieser biologische Mechanismus auf die Zuverlässigkeit der Berichte von Augen- und Zeitzeugen hat, bedarf keiner weiteren Kommentierung. Dem Überleben von Organismen ist dieser Mechanismus dienlich - sonst hätte er sich nicht entwickelt, denn es ist zweckmäßig, plötzlichen Änderungen im Strom der Sinnessignale Aufmerksamkeit zuwenden zu können oder einen erwarteten Feind

schnell und sicher zu erkennen - aber für die Zuverlässigkeit von menschenvermittelten historischen Quellen hat er mitunter katastrophale Folgen.

Ich komme nun zurück zu den Wahrnehmungsprozessen selbst, denn diese sind nicht weniger eklektisch. Wahrnehmung ist alles andere als ein detailgenauer Abbildungsprozeß. Nur in pathologischen Fällen, wenn höhere Hirnfunktionen gestört sind, kommt es gelegentlich zu dem Phänomen der eidetischen Wahrnehmung, einer nahezu photographischen Erfassung komplexer visueller Szenen. Die Welt auf diese Weise wahrzunehmen, ist jedoch in hohem Maß unökonomisch, und deshalb sind die normalen Wahrnehmungsprozesse gänzlich anders organisiert.

Uns stellt sich heute Wahrnehmung als ein hochaktiver, hypothesengesteuerter Interpretationsprozeß dar, der das Wirrwarr der Sinnessignale nach ganz bestimmten Gesetzen ordnet, - trennt und zusammenfügt - und auf diese Weise die Objekte der Wahrnehmung definiert.

Auf diesen frühen Stufen der Informationsverarbeitung laufen die interpretativen und synthetischen Operationen bei allen Menschen noch nach sehr ähnlichen Regeln ab, da die Kriterien für das Zusammenbinden und Trennen von Merkmalen durch Verarbeitungsprozesse erfolgt, die weitestgehend genetisch festgelegt sind. Dies ist der Grund, warum unsere Wahrnehmungen von konkreten Gegenständen trotz ihres konstruktivistischen Charakters in der Regel ähnlich sind. Anders ist dies jedoch bei der Wahrnehmung sehr komplexer Konstellationen, die auf höheren Arbeitsebenen der Hirnrinde vermittelt werden. Hier erfolgt das Ordnen und Bedeutungszuweisen nach zunehmend abstrakten Kriterien, und es werden semantische und nicht nur figurale Parameter miteinbezogen. Ferner hängen die Ordnungskriterien auf diesen Ebenen weit mehr von früheren Erfahrungen und Lernprozessen ab und nicht mehr so stark von genetischen Vorgaben. Hier ist der Ort, wo Wahrnehmungen durch Seh- oder Hörerfahrungen, durch kulturelle Prägungen und Schulungen nachhaltig beeinflußt werden. Hier liegt der Grund, warum Menschen, die nie mit der Zentralperspektive in Renaissancebildern Seherfahrung sammeln konnten, in diesen bildern keine Tiefe wahrnehmen, aber aus dem gleichen Grund auch nicht auf optische Täuschungen hereinfallen, die für uns zwingend sind.

Hier liegt auch der Grund dafür, daß verschiedene Menschen Gleiches ganz unterschiedlich perzipieren. Wer nie mit moderner Musik zu tun hatte, wird Strukturen, die auch diesen Kompositionen zu Grunde liegen, schlicht nicht wahrnehmen, nicht erkennen können. Es fehlen dann die Ordnungskriterien, die es erlauben, Tonfolgen zu Gestalten zu binden.

Nun ließe sich mit der Tatsache, daß Vorhandenes nicht wahrgenommen wird, noch umgehen, weil in den Berichten dann zwar unvollständige Beobachtungen geschildert werden, aber keine falschen Tatsachen. Die resultierenden Wahrnehmungsdefizite würden dann lediglich denen ähneln, die durch selektive Aufmerksamkeit verursacht werden.

Viel problematischer wirkt sich dagegen aus, daß unser Wahrnehmungsapparat immer danach trachtet, stimmige, in sich geschlossene und in allen Aspekten kohärente Interpretationen zu liefern und für alles, was ist, Ursachen und nachvollziehbare Begründungen zu suchen. Wenn die verfügbaren Daten unvollständig oder die Konstellationen ungewohnt sind, so haben unsere kognitiven Systeme die Eigenart, zu extrapolieren und Gegebenheiten anzunehmen, deren

Vorhandensein dann einfache Erklärungen für die jeweiligen Konstellationen erlaubt. Und die Inhalte dieser Annahmen werden dann als durchaus real und dazugehörig wahrgenommen.

Aber nun stellen Sie sich vor, das Gleiche geschähe - und es geschieht mit großer Wahrscheinlichkeit fortwährend, wenn wir mit komplexen Wahrnehmungsaufgaben konfrontiert sind - stellen Sie sich also vor, solches geschähe auf der Ebene der Bedeutungszuweisung oder der Zuschreibung von Kausalbezügen. Es würden dann aus gleichen Abläufen völlig verschiedene Schlußfolgerungen gezogen werden, oder schlimmer noch, es könnten Ereignissen Bedeutungen zugeschrieben werden, die sie in Wirklichkeit nicht hatten - wobei natürlich sofort zu hinterfragen wäre, was wir denn eigentlich mit Wirklichkeit meinen, da wir doch selbst auch nur interpretierende Wahrnehmende und keine objektiven Richter sind - oder es könnten Kausalbeziehungen in Abfolgen hineingedeutet werden, die tatsächlich gar nicht vorhanden waren. Ein triviales Beispiel ist unsere fast zwanghafte Tendenz, die zeitliche Kontingenz von Ereignissen als Ausdruck einer Kausalbeziehung wahrzunehmen.

Die Konstruktion solcher Beziehungen ist natürlich biologisch sinnvoll, da in der Tat die Wahrscheinlichkeit groß ist, daß Gleichzeitiges miteinander zu tun hat, entweder die gleiche Ursache hat oder sich wechselseitig bedingt. Es ist auch biologisch sinnvoll, unvollständige Datensätze zu ergänzen und die jeweils wahrscheinlichsten Konstellationen anzunehmen. Solange die Bedingungen in der Welt einigermaßen konstant sind, stehen die Chancen nicht schlecht, daß trotz aller Unsicherheiten zutreffende Interpretationen gefunden werden, und deshalb vermutlich hat die Evolution diese Ergänzungsmechanismen hervorgebracht. Aber fatal kann dieses Extrapolieren, Bedeutungszuweisen und Kausalbeziehungen Konstruieren werden, wenn diese Verfahren auf Prozesse angewandt werden, die anderen Gesetzen folgen als jenen, die der Beobachter und Interpret voraussetzt. In der vorkulturellen Welt ist solches vermutlich nur selten der Fall gewesen, weil sich alle Änderungen sehr, sehr langsam vollzogen. Aber seit es Geschichte gibt, sind solche perzeptiven Mißverständnisse wohl alltäglich geworden. Wegen der oft drastischen Unterschiede in der kultur- und schichtenspezifischen Prägung unserer kognitiven Funktionen scheint es geradezu unvermeidlich, daß Menschen bei dem Versuch, ihre eigenen Wahrnehmungen kohärent zu halten, zu Fehlwahrnehmungen kommen, wenn sie Fremdes wahrnehmen - es bleibt ihnen ja nichts anderes, als auf ihr eigenes, kulturspezifisches Regelwerk zu rekurrieren, um das was unverstanden oder lückenhaft erscheint in gewohnter Weise zu ergänzen.

Besonders problematisch ist in solchen Fällen, daß die Beobachter ihre Konstruktionen natürlich als zutreffende, unmittelbare Wahrnehmung erleben und nicht als relativierbare Interpretationen und es deshalb für den Exegeten nahezu unmöglich ist herauszufinden, was tatsächlich der Fall war. Es würde dies die vollständige Kenntnis der kognitiven Schemata des Beobachters und die vollständige Kenntnis der tatsächlichen Vorgänge erfordern - und da es gerade um deren Aufklärung geht, tut sich hier ein weiterer hermeneutischer Zirkel auf.

Bevor ich mich der zweiten wichtigen Voraussetzung historischer Forschung zuwende, dem Gedächtnis und der Erinnerung, lassen Sie mich diese Betrachtungen über die Eigenschaften menschlicher Wahrnehmungsleistungen mit einer wenig ermutigenden Bemerkung abschließen. Bislang war die Prämisse, daß unsere

Beobachter alle aufrichtig waren, nichts im Schilde führten und genau das zu Bericht gaben, was ihnen als direkt wahrgenommene Realität erschien – und schon dabei wurde offenkundig, daß den Idiosynkrasien der kognitiven Prozesse nur schwer beizukommen ist, selbst wenn alle Beteiligten, Akteure, Beobachter und Exegeten nach bestem Wissen und Gewissen handeln. Was aber, wenn die Akteure vorsätzlich täuschen, wenn die Berichterstatter lügen und die Exegeten ihrerseits bei der Bewertung der Berichte den idiosynkratischen Prägungen ihrer kognitiven Schemata zum Opfer fallen? Um die epistemischen Folgen solcher Konstellationen abzuschätzen bedarf es keines neurobiologischen Fachwissens.

Wie aber verhält es sich mit unserer Fähigkeit, Wahrgenommenes zu erinnern? Von den vielen Speicherfunktionen, die unser Gehirn erfüllt, interessieren hier vor allem zwei: das Kurzzeitgedächtnis, auch Arbeitsgedächtnis genannt und das episodische oder deklarative Gedächtnis. Vorweg sei gleich angemerkt, daß in diese Speicher nur Inhalte gelangen, die bewußt registriert wurden, die also mit Aufmerksamkeit bedacht wurden, als sie zur Verarbeitung gelangten. Damit gelten für das Erinnerbare vorab schon die gleichen Einschränkungen, wie für das bewußt Wahrnehmbare. Erinnerbar ist also jeweils nur eine kleine Auswahl der insgesamt verfügbaren Informationen. Im Kurzzeitspeicher, der im Frontalhirn verwaltet wird, halten wir vorübergehend fest, was uns für die gerade anstehenden Handlungsfolgen relevant erscheint, gerade nachgeschlagene Telefonnummern bis zur Beendigung des Wählvorganges, Ort und Gestalt von Objekten, die wir manipulieren wollen usw. Es ist diese Gedächtnisfunktion, die uns die Erfahrung der Kontinuität von Zeit vermittelt und die Unterscheidung zwischen "vorher" und "jetzt" ermöglicht. Bemerkenswert ist, daß die Kapazität dieses so wichtigen Speichers außerordentlich begrenzt ist. Es ist kaum möglich, mehr als etwa sieben verschiedene Inhalte gleichzeitig präsent zu halten, also etwa die siebenstelligen Telefonnummern in Großstädten. Eselsbrücken können hier helfen, weil über sie Einzelmerkmale zu Figuren gebunden werden, die dann als Ganzes nur einen von den wenigen Speicherplätzen beanspruchen - aber diese Brücken müssen jeweils neu gebaut werden und dafür fehlt in aller Regel die Zeit. Wir stützen uns also bei der Beurteilung der Abfolge von Ereignissen und der Beziehung zwischen diesen auf ganz wenige Fixpunkte, meist weniger als sieben, und sind auch hier darauf angewiesen, auf das zwischen den Fixpunkten Liegende zu extrapolieren, wobei wir wiederum das je Wahrscheinlichste annehmen. Dieses kann, muß aber natürlich nicht zutreffend sein. Kurzzeitspeicherung ist also noch eng mit dem Wahrnehmungsprozeß selbst verschränkt, hält gleichzeitig bereit, was sich nacheinander ereignete, und erlaubt so die Herstellung von Bezügen und die Einordnung der Geschehnisse in einen zeitlichen Rahmen.

Sollen aber die Ergebnisse dieses Wahrnehmungs- und Ordnungsprozesses auch noch nach Tagen oder Jahren erinnerlich sein, dann müssen sie in Langzeitspeicher überschrieben werden, und zwar in das episodische Gedächtnis, denn nur dieses macht es möglich, die Erinnerung an Ereignisse zusammen mit dem Kontext, in dem sie geschehen sind, wieder wachzurufen und so aufzubereiten, daß darüber berichtet werden kann. Die Gedächtnisspuren müssen wieder ins Bewußtsein gelangen. Ein viel zitiertes Beispiel für eine Leistung des episodischen Gedächtnisses ist die Fähigkeit, sich genau zu erinnern, wo man gewesen ist und was man gerade tat, als einen die Nachricht erreichte, Kennedy sei ermordet worden oder die Mondlandung sei geglückt. Die neuronale Organisation dieses Speicherungs- und Ausleseprozesses ist außerordentlich komplex, und entsprechend vielfältig sind die Fehler, die dabei auftreten können. Anders als beim einfachen Wiedererkennen von

Wahrnehmungsobjekten, bei dem das Objekt die Gedächtnisspur reaktiviert, ist es bei episodischen Gedächtnisleistungen erforderlich, daß Engramme, die weit verteilt in der Großhirnrinde abgelegt sind willentlich aktiviert, ins Bewußtsein transferiert und dann im richtigen Kontext miteinander verbunden werden. Erinnern ist also ein hochaktiver Vorgang, bei dem synthetische Prozesse eine ganz wichtige Rolle spielen, ähnlich, wie das schon bei der Primärwahrnehmung der Fall war. Entsprechend gibt es im Gehirn spezielle Strukturen, die mit der Organisation des Speicherprozesses, mit dem Abrufen von Speicherinhalten und mit der assoziativen Verknüpfung der einzelnen reaktivierten Inhalte zum erinnerten Gesamtbild befaßt sind. Sind diese Systeme gestört, kann weder Neues gespeichert noch Zurückliegendes erinnert werden. Wir alle, vor allem wir älteren, wissen um die Fragilität dieses Auslesesystems. Bemerkenswert und für unser Thema vermutlich bedeutsam ist dabei, daß die Festschreibung, die Konsolidierung von Spuren im episodischen Gedächtnis offenbar sehr langsam über Monate, ja sogar Jahre hinweg zu erfolgen scheint. Bei Teilschädigungen der Speicher- und Auslesemechanismen gehen vorrangig die Erinnerungen an die jüngere Vergangenheit verloren, nicht die weit zurückliegenden - entsprechend bleiben die jüngst abgespeicherten Erinnerungen suszeptibel für Modifikationen und Überformungen durch aktuell Erlebtes - ich werde auf diesen kritischen Punkt zurückkommen.

Evolutionsgeschichtlich sind die Strukturen des episodischen Gedächtnisses identisch mit denen, die es Tieren erlauben, sich in ihrem Habitat zurechtzufinden, zu wissen, wo in Bezug auf andere Objekte sich ihr Nest befindet, wo sie Futter versteckt haben und wo sie die Vorratslager bereits geleert haben. Auch für diese Leistungen müssen gespeicherte Informationen, in diesem Fall über die Merkmale von Orten, über deren räumliche Beziehungen und über vergangene Aktionen abgerufen und dann im richtigen Kontext miteinander verbunden werden. Somit findet unser episodisches Gedächtnis eine evolutionäre Deutung: Es war primär ein Gedächtnis für Orte und deren Beziehung zueinander. Dies ist auch der Grund, warum Simonides sich vorstellen mußte, wo die einzelnen Teilnehmer des Gastmahls saßen, bevor sie unter den einstürzenden Mauern begraben wurden, um sich an ihre Namen zu erinnern, und das ist auch der Grund dafür, daß mnemotechnische Verfahren darauf beruhen, sich zunächst Orte und räumliche Beziehungen vorzustellen und diese dann assoziativ mit den zu erinnernden Inhalten zu besetzen - wir nutzen damit Funktionen unseres episodischen Gedächtnisses, für deren Erfüllung es ursprünglich zuständig war und die es deshalb besonders gut erbringt.

Wie sehr die vermeintliche Wirklichkeit erinnerter Sachverhalte tatsächlich auf Rekonstruktionen von Beziehungen zwischen bruchstückhaften und voneinander getrennten Gedächtnisspuren beruht, läßt sich aus häufig vorkommenden Fehlern erschließen. Man erinnert sich an eine Aussage, weiß aber nicht, von wem sie in welchem Kontext geäußert wurde. Gelegentlich erlebt man sogar Einsichten als seine eigenen, obgleich man sie der Aufklärung durch andere verdankt, weil man keinerlei Erinnerung an den verursachenden Lernprozeß mehr hat. Bei kleinen Kindern ist dies die Regel, da bei ihnen die Hirnstrukturen für die Verwaltung des episodischen Gedächtnisses noch nicht voll entwickelt sind. Passiert so etwas bei Erwachsenen, nennt man es "trace amnesia", "Spurenamnesie". Gewisse Inhalte werden gewußt, also erinnert, aber die Erinnerung an die Umstände des Wissenserwerbs fehlt. - Eine vermutlich häufige Ursache für das, was dann als Plagiat angeprangert wird. Solche Dissoziationen können nun zwischen allen

Teilerinnerungen auftreten, die erst in ihrer Zusammenschau eine zutreffende Rekonstruktion des Gewesenen erlauben. Man erinnert sich an einen Ort, weiß aber nicht mehr, mit wem man dort war, erinnert ein Gespräch, aber nicht seinen Inhalt usw., usw. Dies muß jedoch nicht bedeuten, daß die einzelnen Komponenten tatsächlich vergessen sind. Sie können durchaus gespeichert und abrufbar sein, nur eben nicht in dem speziellen Kontext. Was ich damit belegen will, ist die Hypothese, daß Erinnern, ganz ähnlich wie die Wahrnehmung selbst, ein kreativer, konstruktivistischer Prozeß ist, bei dem das Gehirn versucht, aus den Gedächtnisspuren, die es ins Bewußtsein zu heben vermag, ein kohärentes Gesamtbild zu rekonstruieren. Damit ist Erinnerung für die gleichen Deformationsprozesse anfällig wie die Primärwahrnehmung selbst. Ich meine damit noch nicht das Vergessen, das dem "Nicht-Wahrnehmen" vergleichbar ist, sondern die Fehler, die beim Rekonstruktionsprozeß des Erinnerns unterlaufen können. Und dieser ist naturgemäß noch weit anfälliger, als die Primärwahrnehmung. Die Freiheitsgrade für die synthetischen Bemühungen des inneren Auges sind beträchtlich. Es stehen keine äußeren Zeitmarken zur Verfügung für die Reihung von Ereignissen. Auch kann unvollkommen Wahrgenommenes nicht durch nochmaliges Hinschauen ergänzt werden. Und so nimmt nicht wunder, daß beim Erinnern nur schwer zu trennen ist, welche Inhalte und vor allem welche Bezüge zwischen denselben bereits im Zuge des Wahrnehmungsaktes abgespeichert wurden und welche erst beim Auslesen und Rekonstruieren definiert oder gar hinzugefügt wurden. Auch hier ist das Problem, wie schon bei der Wahrnehmung, daß dem Erinnernden selbst meist nicht erkennbar ist, was von dem, was ihm als Erinnerung erscheint, tatsächlich wahrgenommen oder erst im Zuge des Rekonstruktionsprozesses hinzugefügt, umgeordnet und neu gedeutet wurde.

Jedes Erinnern findet in der Gegenwart statt

Wie nahe Erinnerung erneuter Wahrnehmung kommt, zeigen jüngste neurobiologische Entdeckungen auf beunruhigende Weise. Ich hatte oben erwähnt, daß Abspeichern langsam erfolgt und Engramme der Konsolidierung bedürfen. Dies hat zur Folge, daß Gedächtnisspuren vollkommen ausgelöscht werden können, wenn innerhalb von Stunden, ja sogar Tagen nach dem Lernprozeß der Konsolidierungsprozeß gestört wird. Dies läßt sich auf vielfältige Weise bewerkstelligen – auch unmäßiger Alkoholgenuß wäre ein effizientes Verfahren – aber im Experiment wird dies meist durch die Unterbrechung der Eiweissynthese in Nervenzellen erreicht. Und nun die völlig unerwartete Entdeckung: Tiere erlernten in einem Verhaltenstest, daß bestimmte Erkennungsleistungen belohnt werden, und wiederholte Testung bestätigte, daß sich die Tiere monatelang mit nur geringen Vergessensraten an den gelernten Zusammenhang erinnerten. Dann wurde nach einem dieser Tests die Eiweissynthese vorübergehend blockiert, und das überraschende Ergebnis war, daß die Tiere im Anschluß daran jede Erinnerung an das einmal Gelernte verloren hatten. Diese Auslöschung der Erinnerung trat jedoch nicht ein, wenn die Eiweissynthese ohne vorherige Testung und zum gleichen Zeitpunkt nach dem ursprünglichen Lernprozeß unterbrochen wurde. Dies bedeutet, daß durch das Erinnern, zu welchem die Tiere während der Testung angehalten waren, die bereits gefestigten Gedächtnisspuren wieder labil wurden und dann wieder der gleichen Konsolidierung bedurften, wie die ursprünglichen Engramme nach dem ersten Lernprozeß. Unter normalen Bedingungen fällt dieser erneute Konsolidierungsprozeß nicht auf, weil er ungestört und verläßlich abläuft. Es

bedeutet dies jedoch, daß Engramme nach wiederholtem Erinnern gar nicht mehr identisch sind mit denen, die vom ersten Lernprozeß hinterlassen wurden. Es sind die neuen Spuren, die bei der Testung, also beim Erinnern, erneut geschrieben wurden. Dies hat weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung der Authentizität von Erinnerungen. Wenn Erinnern immer auch einhergeht mit neu Einschreiben, dann muß die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, daß bei diesem erneuten Konsolidierungsprozeß auch der Kontext in dem das Erinnern stattfand mitgeschrieben und der ursprünglichen Erinnerung beigefügt wird. Es ist dann nicht auszuschließen, daß die alte Erinnerung dabei in neue Zusammenhänge eingebettet und damit aktiv verändert wird. Sollte dies zutreffen, dann wäre Erinnern auch immer mit einer Aktualisierung der Perspektive verbunden, aus der die erinnerten Inhalte wahrgenommen werden. Die ursprüngliche Perspektive würde überformt und verändert durch all die weiteren Erfahrungen, die der Beobachter seit der Ersterfahrung des Erinnerten gemacht hat. Und so könnte durch Erzählen und Wiedererzählen das ursprünglich Erinnerte ständig neue Modifikationen erfahren und den aktuellen Sichtweisen des Erzählenden immer aufs Neue angepaßt werden - und da der Erzähler nicht merkt, daß seine Erinnerung beim Erinnern labil wurde und in dem neu definierten Kontext wieder als - allerdings veränderte - Erinnerung konsolidiert wird, nimmt er seine Erinnerungen immer als authentische Ersterinnerungen wahr, obgleich sie sich gewandelt haben; ganz so wie man seine eigene Identität als unwandelbar und authentisch erfährt, obgleich man sich für Außenstehende kontinuierlich verändert. Noch wissen wir nicht, ob diese Labilisierung des Erinnerten durchs Erinnern für alle Gedächtnisinhalte gilt und ob z.B. die ganz alten davon ausgenommen sind. Es tragen diese neuen Erkenntnisse jedoch kaum dazu bei, das Vertrauen in die Authentizität von Erinnerungen zu stärken; sie bestätigen vielmehr den Gemeinplatz der Alltagspsychologie, daß jeder seinen eigenen Geschichten glaubt und daß dieser Glaube mit jeder neuen Erzählung sich verfestigt, selbst wenn sich die Geschichte im Lauf der Zeit immer mehr von der ursprünglichen entfernt.

Was schon für die Mechanismen der Wahrnehmung zutraf, scheint also in noch weit stärkerem Maß für die Mechanismen des Erinnerns zu gelten. Sie sind offensichtlich nicht daraufhin ausgelegt worden, ein möglichst getreues Abbild dessen zu liefern, was ist, und dieses möglichst authentisch erinnerbar zu halten. Vielmehr scheint es darauf anzukommen, auszuwählen, um sparsam mit Speicherplatz umzugehen und die Lücken durch Rekonstruktionen auszufüllen. Und wieder gilt, daß diese synthetischen Akte unproblematisch sind in einer Welt, die sich nur langsam ändert, weil dann der Kontext, vor dem die Rekonstruktion erfolgt, dem der Ersterfahrung ähnelt. Wenn sich aber Bedingungen und Sichtweisen rasch ändern, und dies ist der Fall, seit es Zivilisation und Geschichte gibt, wird dieses wohlangepaßte ökonomische Prinzip zum Problem, dem kaum begegnet werden kann.

Und nun zum Abschluß noch einige wenige Bemerkungen zum Vergessen. Die mit diesem Phänomen verbundene Problematik ist uns allen nur zu wohl vertraut. Ich möchte deshalb darüber nicht viel sagen. Ich möchte auch das Verdrängen als eine Sonderform aktiven Vergessen-Wollens oder -Müssens nicht thematisieren, da hierzu aus neurobiologischer Sicht nicht viel beizutragen ist. Wir wissen noch zu wenig über die zu Grunde liegenden Mechanismen. Vermutlich enttäusche ich damit viele Erwartungen, weil gerade das Phänomen des Verdrängens, des Vergessens durch Selbstzensur, natürlich in der historischen Forschung, einen zentralen Platz einnimmt - nicht nur als epistemisches Problem hinsichtlich der Verläßlichkeit von

Quellen, sondern auch und vor allem als Phänomen, das selbst Geschichte schreibt und umschreibt und uns in diesem Land besonders interessieren und umtreiben muß.

Aber vielleicht hat doch manches, was ich zur Erinnerung ausführte und was ich noch zum Vergessen sagen werde, mit diesem zentralen Problem der Erzeugung und Verarbeitung von Geschichte zu tun.

Die Natur der Speicherprozesse im Gehirn stützt die Vermutung, daß unter nicht-pathologischen Bedingungen einmal Gespeichertes nicht spurlos verschwinden kann. Das liegt daran, daß neuronale Speicher als Assoziativspeicher ausgelegt sind, in denen Inhalte als dynamische Zustände weitverteilter, miteinander vernetzter Nervenzellverbände definiert sind und nicht wie in Computern einen adressierbaren Speicherplatz belegen. Ferner geht das Einschreiben von Engrammen mit mikrostrukturellen Veränderungen einher, die immer eine sehr große Zahl von Nervenzellen und deren Verbindungen gleichzeitig betreffen. Es ist deshalb sehr unwahrscheinlich, daß durch den Ausfall einzelner Nervenzellen oder durch nachträgliche Veränderungen der Verbindungen bestimmte Gedächtnisinhalte selektiv gelöscht werden. Was jedoch bei Assoziativspeichern zum Problem wird, ist das Überschreiben des Alten durch Neues. In Assoziativspeichern werden durch Lernprozesse Gruppen von Neuronen in immer neuen Konstellationen zusammengebunden, deren gemeinsame Aktivierung dann die Repräsentation für den jeweiligen Gedächtnisinhalt darstellt. Die gleichen Nervenzellen beteiligen sich also an der Repräsentation sehr viel verschiedener Inhalte, was sich ändert, ist lediglich die Konstellation, in der sie aktiv werden. Dies aber hat zur Folge, daß mit der Zeit einzelne Nervenzellen an der Repräsentation von immer mehr unterschiedlichen Inhalten partizipieren müssen. Damit wird es immer schwieriger, die einzelnen Inhalte voneinander zu trennen. Auch können dabei die Stabilität und die Präzision bereits bestehender Repräsentationen abnehmen. Erinnerungen sind dann nur noch bruchstückhaft abrufbar oder verschwimmen wie defokusierte bilder, wenn zu viele Neurone aus diesen ursprünglichen Repräsentationen durch nachfolgendes Lernen in andere, neue Repräsentationen eingebunden werden. Besonders problematisch wirkt sich dieses Überschreiben dann aus, wenn die neuen Inhalte den bereits gespeicherten ähnlich sind. Dann können der Verlust an Trennschärfe und Auslöschungsphänomene gravierend werden. Wer verwandte Sprachen sequentiell erlernt hat, weiß wie sehr die neue die alte überdeckt, wie groß die Gefahr ist, daß es zu Konfusionen kommt, weil alte und neue Inhalte miteinander verschmelzen. Eine wichtige Qualität von Assoziativspeichern wird hier zum Problem: Assoziativspeicher haben die erwünschte Eigenart, Teilinformationen zu ergänzen und zu rekombinieren. Dies ermöglicht die Wiedererkennung von Objekten, auch wenn diese nur ausschnittweise wahrzunehmen sind. Solche Ergänzungs - und Bindungstendenzen können jedoch die fatale Folge haben, daß einmal Eingespeichertes durch jeden weiteren Speicherprozeß, vor allem wenn dieser ähnliche Inhalte betrifft, in seiner Struktur und kontextuellen Einbettung verändert wird. Im Extremfall kann das dazu führen, daß das Engramm überhaupt nicht mehr im ursprünglichen Kontext aktivierbar ist. Es scheint dann wie vergessen, kann aber dann dennoch, - und dann meist zur Überraschung der Beteiligten- , in einem veränderten Kontext über neue Assoziationen wieder aktiviert werden. Die Erinnerung lebt wieder auf, aber jetzt in einem anderen narrativen Kontext. Unter nicht-pathologischen Bedingungen geht also vermutlich nichts vollkommen und unwiderruflich verloren. Selbst wenn sich mehrfach überschriebene Engramme dem

Zugriff des in der Vergangenheit forschenden Bewußtseins entziehen, so können sie doch in vielfältiger Weise einflußreich bleiben. Sie werden die Struktur nachfolgender Engramme beeinflussen und somit als unbewußte Prägungen auf zukünftige Verarbeitungs - und Speicherprozesse einwirken. Einmal Erlebtes wird somit für immer über eine kontinuierliche Kette aufeinander aufbauender Veränderungen von Speicherinhalten den Kontext mitbestimmen, in den zukünftige Wahrnehmungen und Erinnerungen eingebettet werden.

Und nun habe ich lange gesprochen und Ihnen nichts anderes mitgeteilt, als das, was Sie alle auf Grund eigener Beobachtungen auf oft schmerzliche Weise selbst erfahren haben: Wahrnehmungen und Erinnerungen bauen notwendig auf lückenhaften, meist recht willkürlich ausgewählten Daten auf und haben wegen der synthetischen Leistungen unseres Gehirns den Charakter von Rekonstruktionen, die sich an gewissen Wahrscheinlichkeitsannahmen orientieren. Es sind datengestützte Erfindungen. Und weil diese Erfindungen konstitutiv sind für unsere kognitiven Prozesse und nicht Folge vorsätzlichen Täuschenwollens, ist es schwierig zu entscheiden, welchen Berichterstattern wir mit Nachsicht begegnen sollen. Doch lassen Sie mich zum Schluß noch einmal darauf zurückkommen, was all das für die Erforschung unserer Geschichte bedeutet. Nicht nur die Taten, sondern auch die Geschichten, die Menschen erfinden, machen Geschichte. Zur Geschichte gehören nicht nur die Wirklichkeiten, die aus der dritten Person Perspektive behandelt werden können, die Vorfälle selbst, sondern auch die Phänomene, die erst durch die reflektierende und konstruktivistische Tätigkeit unserer Gehirne in die Welt kommen - die Wahrnehmungen, Berichte, Erinnerungen und Beurteilungen von Zeitgenossen und deren Nachfahren, und nicht zuletzt auch die Feststellungen der nachforschenden Historiker. Auch wenn diese Wirklichkeiten erst über kognitive Prozesse entstehen, also mentale bzw. soziale Realitäten sind, so sind sie deshalb nicht weniger geschichtsbestimmend als die konkreten Vorfälle. Geschichte hat demnach die charakteristischen Eigenschaften eines selbstreferentiellen, ja vielleicht sogar evolutionären Prozesses, in dem alles untrennbar miteinander verwoben ist und sich gegenseitig beeinflußt was die Akteure des Systems, in unserem Fall die Menschen, hervorbringen - ihre Taten, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Empfindungen, Schlußfolgerungen und Bewertungen - und natürlich auch die Geschichten, die sie unwissentlich fortwährend erfinden. Ein Prozeß also, in dem es keine sinnvolle Trennung zwischen Akteuren und Beobachtern gibt, weil die Beobachtung den Prozeß beeinflußt, selbst Teil des Prozesses wird. Und so scheint mir, daß es weder die Außenperspektive noch den idealen Beobachter geben kann, die beide erforderlich wären, um so etwas wie die eigentliche, die wahre, die tatsächliche Geschichte zu rekonstruieren. Wenn dem so sein sollte, dann können wir im Prinzip nicht wissen, welcher der möglichen Rekonstruktionsversuche der vermuteten "wahren" Geschichte am nächsten kommt. Und so wird jeweils in die Geschichte als Tatsache eingehen, was die Mehrheit derer, die sich gegenseitig Kompetenz zuschreiben, für das Zutreffendste halten. Unbeantwortbar bleibt dabei, wie nahe diese Feststellungen der idealen Beschreibung kommen, weil es diese aus unserer Perspektive nicht geben kann.