Die Couch von Sigmund Freud im Freud-Museum,

Hampstead, London

 

Freud und kein Ende - Über die Weiterentwicklung der Psychoanalyse 151 Jahre nach Freud

 

Vom Intrapsychischen zur Intersubjektivität und Interpersonalität

 

Frankfurt am Main (Weltexpress) -Ein Angstpatient und Computerspezialist musste häufig zu Instruktionen in fremden Städten mehrere Nächte in Hotels übernachten und hatte nachts wiederholt Angstzustände. Diese grenzten seine Arbeitsfähigkeit ein. Eines Tages berichtete er, er habe sich diesmal im Hotel wohl gefühlt, aber je näher er auf der Heimfahrt nach Hause kam, desto mehr sei er in Spannungszustände geraten. Zuhause habe er seiner Frau vorgeschlagen, zur Spannungslösung ihm rechts und links eine runter zu hauen. In mir tauchte das Bild eines kleinen Jungen auf, der sich von der Mutter zur Strafe (und Wiedergutmachung) Ohrfeigen abhole. Ich sagte spontan „Was haben Sie denn angestellt?“, er erwiderte ebenfalls spontan, „Ich habe mir im Hotel Pornofilme angesehen und solche Schuldgefühle  gehabt!“.

Analytiker bei der Arbeit“ und „Ihre Theorien und ihre Praxis“ – so heißen die Überschriften in einem dicken Sonderheft der renommierten psychoanalytischen Zeitschrift „Psyche“, 61. Jahrgang, September/Oktober 2007. Im Editorial schreibt Werner Bohleber, die Psychoanalyse sei heutzutage mit Anforderungen konfrontiert, sich gemäß geltenden wissenschaftlichen Kriterien zu legitimieren und mit heutigen Identitätsentwürfen sowie gesellschaftlichen Einstellungen und Normen auseinander zu setzen. Als Behandlungsmethode innerhalb des Gesundheitssystems müsse sie den Nachweis der Effiziens erbringen und sich gegenüber anderen nicht-psychoanalytischen Therapieverfahren behaupten. Kürzere Therapieverfahren beherrschten das Feld und die hochfrequente (drei bis fünf mal pro Woche) Behandlungsmethode der Psychoanalyse mit ihrem Anspruch, nicht nur Symptome zu behandeln, sondern dauerhafte strukturelle Änderungen und Entwicklungen der Persönlichkeit zu erzielen, drohe als nicht mehr zeitgemäß marginalisiert zu werden.

 

Neben unterschiedlichen Therapiemethoden in verschiedenen Settings (Behandlungsformen) bleibe die klassische Standartmethode - liegend auf der Couch, den Analytiker im Rücken - nach wie vor das zentrale Behandlungsverfahren, mit dem wichtige Erkenntnisfortschritte erzielt werden könnten für das Studium der psychischen Realität in ihrer unbewussten Verankerung und Ausgestaltung intrapsychischer und intersubjektiver Konfliktdynamiken, die das Selbst und seine Strukturen prägen, sowie der Untersuchung von seelischen Entwicklungsdefekten und Traumatisierungen. Jedoch seien die Psychoanalytiker sich über klinische Theorie und Behandlungsregeln nicht mehr einig. Dies habe Fragen und kontroverse Diskussionen ausgelöst, was die Psychoanalyse heute sei und ob es noch eine gemeinsame Basis gebe.

 

In der klassischen Definition habe Freud in der therapeutischen Beziehung die „Übertragung“ und den „Widerstand“ in den Mittelpunkt gestellt und diese Beziehung durch die Abstinenz- und Neutralitätsregel, freie Assoziation, die Traumdeutung als via regia, den Königsweg zum Unbewußten und die „gleichschwebende Aufmerksamkeit“ nach dem Vorbild des Chirurgen und in der Spiegelmetapher sicher zu stellen gesucht. Dadurch bestehe eine klare Trennung zwischen Beobachter und Beobachtetem. Dies setze den  Analytiker in die Lage, die Welt des Patienten objektiv zu betrachten und sei lange Zeit zum erkenntnisleitenden Ideal des Analytikers geworden, analog dem Ideal in der naturwissenschaftlichen Medizin, wo der Arzt seinen Patienten objektiv diagnostiziert. Seit ca. 50 Jahren setze sich empirisch die Erkenntnis der wechselseitigen Beeinflussung von Patient und Therapeut durch. Seine Autorität im klassischen Modell, durch die Deutung die unbewußte Determinierung des Materials des Patienten aufzeigen zu können, schwinde zunehmend.

 

Moderne intersubjektive Theorien sähen in ihren Konzepten eine Gegenseitigkeit und ein Aushandeln als Interaktionsform in einer Subjekt-Subjekt-Beziehung, wodurch sich die asymmetrische Beziehung in eine nahezu symmetrische verwandele, in der der Therapeut eingebunden sei und nicht heraustreten könne. Der Analytiker trete als Mensch mit all seinen Unsicherheiten und Verletzlichkeiten in den intersubjektiven Prozeß. Sich dieser Situation auszusetzen ohne Rückgriff auf fertige Konzepte, das Nicht-Wissen als Haltung zu praktizieren, und dadurch offen zu sein für die Wahrnehmung unbewußter, bisher nicht erkannter Interaktionsmuster, stelle wiederum seine Stärke da. Gegenübertragung, Enactment und projektive Identifizierung werden zu Leitbegriffen. Vor allem die Gegenübertragung rücke in das Zentrum der Aufmerksamkeit.

 

Theorie, Konzepte und Behandlungstechnik hätten sich immer wechselseitig beeinflusst. Die alten Freud’schen Regeln seien nicht aufgehoben worden, bilden immer noch den Rahmen. Die freie Assoziation sei von Freud ursprünglich als eine Art Monolog eingeführt worden. Heute habe sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß es eine von der aktuellen Beziehung unabhängige Produktion von Einfällen nicht geben könne. Ähnlich sei die Traumdeutung allein schon durch das Erzählen in die Beziehung eingebunden, werde eher auf seine Bedeutung im Hier und Jetzt hin interpretiert und habe als rein intrapsychischer Aspekt in seiner komplexen Struktur seine Bedeutung verloren. Die Befunde der psychoanalytischen Ergebnis- und Prozessforschung, sowie die Entwicklungs- und Bindungsforschung hätten die Schwerpunkte von den Inhaltstheorien zu den Prozesstheorien verlagert. In der Inhaltstheorie bestehe die Gefahr, daß nur noch das gesehen wird, was die Theorie vorgebe.

 

Der Analytiker arbeite nun nicht alleine nach den offiziellen Theorien, sondern verwende diese entsprechend seiner Persönlichkeit in seiner subjektiven Art und Weise. Diese subjektiven und privaten Theorien würden oft unreflektiert in den Behandlungsprozeß im Sinne des Enactment einfließen. Durch Introspektion und durch Rückschlüsse aus dem Verlauf  konkreter analytischer Interaktionen könnten sie rückblickend erschlossen werden. Werden sie bewusst konzeptualisert, könnten sie kreative Innovationen in Konzeptbildung und Behandlungstechnik darstellen. Die konkrete Arbeit eines Analytikers ist also nicht alleine durch die Zuordnung zu einer bestimmten Schule oder Theorietradition bestimmt.

 

Bisher wurden überwiegend die Ausführungen von Werner Bolander im Vorwort wieder gegeben. Im Folgenden sollen Ausführungen von Autoren in diesem Heft kurz skizziert werden:

 

Jörg M. Scharff  charakterisiert in seiner Arbeit „Psychoanalysieren und die Kunst der Balance“ den Arbeitsraum, in dem sich Patient und Psychotherapeut begegnen, insofern als multidimensional, als sich das Beziehungsgeschehen unter einer potentiell unbegrenzten Anzahl von Aspekten verstehen lässt. Vereinfachend lassen sich die Phänomene in der analytischen Situation entlang diverser Achsen konzeptualisieren, die jeweils ein bi- oder multipolares Spannungsfeld konstituieren. So betrachtet, kann man die Arbeit des Psychotherapeuten als eine Kunst der Balance beschreiben, in der, kaum dass eine bestimmte Position gefunden worden ist, diese schon wieder durch ein gegenläufiges Moment aufgehoben und relativiert wird. Dies wird jeweils an einem Beispiel veranschaulicht entlang einigen ausgewählten Themenkomplexen.

 

Stefano Bolignini beschäftigt sich mit der psychoanalytischen Einfühlung und kennzeichnet diese als einen komplexen Zustand, der sich durch eine assoziative Vertrautheit mit dem Vorbewussten auszeichnet. Sie ermöglicht, ein reichhaltiges und mobiles Feld der Wahrnehmungen, Repräsentanzen und Erfahrungen des Selbst im Blick zu haben und in der Schwebe zu halten, um sich in die inneren Bereiche des Patienten hinein versetzen zu können.

 

Für Jorge Ahumada steht im Zentrum seiner analytischen Arbeit, wie der Patient in der Behandlung seine unbewussten Theorien über die Beziehung zu seinen Liebesobjekten erfahren kann. Es geht um die Erarbeitung von klinischen Evidenzen, in deren Licht der Patient seine unbewussten Überzeugungen selbst als widerlegt erleben kann.

 

Ein weiterer Block von Arbeiten beschäftigt sich mit dem Verhältnis von Praxis und Forschung: Heinrich Deserno stellt anhand der Entwicklung der Traumdeutung die heutige Position der prozeßorientierten Deutung dar und zeigt, wie sich Traum und Übertragung entsprechen.

 

Ulrich Stuhr untersucht die heutige Stellung der Fallgeschichte im psychoanalytischen Diskurs. Diente sie früher zur Begründung der Theorie und didaktisch zur Ausbildung, so ist heute ihre Begründungsfunktion stark in Frage gestellt und bedarf einer Ergänzung durch empirische Forschung.

 

Marianne Leuzinger-Bohleber plädiert dafür, Forschung und Therapie wieder vermehrt zusammen zu denken, weil beides in der spezifischen Wissenschaft der Psychoanalyse zusammen gehört. Eine forschende Grundhaltung kann eine Haltung gegenseitiger Akzeptanz und Wertschätzung von Forschern und Therapeuten entstehen lassen.

 

Weitere Arbeiten beschäftigen sich mit der Verwendung von Theorien, wobei der Analytiker nicht nur auf die offiziellen Theorien, sondern implizit und oft vorbewußt auf private Theorien zurückgreift, die sich gegenseitig beeinflussen.

Werner Bohleber selbst beschäftigt sich mit diesem Thema und stellt ein Modell einer Arbeitsgruppe vor.

Jorge Canestri untersucht Stellenwert und Funktion der Supervision (Fallbesprechungen von Ausbildungskandidaten unter Leitung eines Lehranalytikers, neben theoretischer Ausbildung und Lehranalyse das dritte Standbein) in der Ausbildung im Zusammenspiel von Lehranalyse und theoretischen Seminaren. Das Modell der impliziten Theorien dient ihm als Instrument zur Analyse eines Beispielfalles aus der Supervision.

 

David Tuckett geht von der Tatsache aus, dass in Falldiskussionen unter Analytikern die Diskutanten oft darstellen, wie sie den Fall verstanden haben oder sie gearbeitet hätten, anstatt zu versuchen, die Arbeitsweise des vorstellenden Kollegen von innen heraus zu verstehen. Er beschäftigt sich mit der Frage, wie wir zu verlässlichen Standards bei der Beurteilung der klinischen Arbeit kommen, die uns helfen, die impliziten Regeln und Erklärungsmodelle, die der Arbeit von Analytikern zugrunde liegen, zu verstehen.

 

Mir selbst kam dieses Sonderheft über die Entwicklung der Psychoanalyse sehr gelegen. Da ich früh in meiner Weiterbildung mit der interpersonellen Dynamik von Schizophrenen und deren Entwicklungsdeterminanten konfrontiert war, mich früh mit Familiendynamik und –therapie, Gruppendynamik und – therapie und  Systemtheorie beschäftigt hatte, waren mir die Positionen und die Theorie der Psychoanalyse zu statisch, theoretisch abstrakt und trotz Übersetzungshilfen für den klinischen Alltag nicht ausreichend verständlich. Seit etwa zwanzig Jahren, anfänglich angeregt durch die Psychologie im Sport aus tiefenpsychologischer Sicht - ich sprach nicht von psychoanalytisch - fing ich an, meine privaten subjektiven Vorstellungen und Theorien aufzuschreiben, dadurch für mich und einen potentiellen Leser zu formulieren, anders ausgedrückt, mir selbst die Welt des Menschen und seiner zwischenmenschlichen Beziehungen und Determinanten zu erklären.

 

Wichtige Etappen waren für mich die Beschreibung der Herrschaft der Mechanismen und Automatismen - später erklärte ich mir diese als Folge der Psychotraumatisierung -, die zentrale Bedeutung des Zukunftsentwurfes im Krankheitsgeschehen und in der Therapie und die Beschäftigung nicht nur mit dem Inneren der eigenen Person und des jeweiligen Patienten, sondern auch mit dem Inneren der Umgebungspersonen, etwa der Eltern oder Partner und deren inneren Motiven. Von der Familientherapie und Gruppendynamik, außerdem von der Kulturbetrachtung und der Übersetzung von Märchen und Mythen auf unseren heutigen Alltag, war mir die Transgenerationalität vertraut

 

Bei Patienten hatte ich mir immer Gedanken gemacht, warum, aus welchen inneren Faktoren heraus sich etwa Eltern in dieser Weise traumatisierend gegenüber ihren Kindern verhalten und oft genug diese Gedanken Patienten zu erklären versucht. Die Beschäftigung mit den inneren Gründen anderer für ihr Verhalten erscheint mir auch als ein guter Zugang, zu sich selbst zu kommen, da der Mensch von den Eltern geprägt ist und diese sozusagen als innere Mutter oder als inneren Vater in sich trägt. Die Gefahr ist, daß sich jemand nur noch ausschließlich mit anderen und nicht mehr mit sich selbst beschäftigt. Deswegen vermutlich war oder ist es in der Psychoanalyse ein Tabu, sich mit anderen zu beschäftigen, während im Alltag dies oft üblich ist, etwa „Das tut er doch nur, weil…!“ Ähnlich ist es in der Eltern-Kind-Beziehung ein Tabu, die inneren Motiven der Eltern zu hinterfragen. Ich erinnere an das Buch von Alice Miller „Du sollst nicht merken!“.

 

Objektive Deutungen waren mir immer fremd. Dafür fehlte mir auch die Verführung und die Etablierung eines anscheinend geschlossenen Systems in einer langen psychoanalytischen Ausbildung, so daß ich mich zwangsläufig offener halten mußte. In meinen Therapien bringe ich mehr meine Eindrücke, Gedanken, Phantasien und Assoziationen ein, eventuell auch meine Gefühle, weise darauf hin, wie ich das Geschehen aus meiner Erfahrung von mir, meinem Umfeld und anderen Patienten her kenne, weise gerne auf Kulturdeterminanten und auf Märchen und Mythen, übersetzt auf unseren Alltag, hin, so wie es mir im Hier und Jetzt einfällt.

 

Ohne dass ich es will, schleicht sich die Asymmetrie als Übertragung oft von den Patienten selbst in die Therapie, indem sie mein Subjektives als Objektives auffassen, ich also für sie der Wissende bin, dessen Aussagen sie kritiklos übernehmen oder gegen den sie dann trotzen, protestieren und sabotieren, weil sie sich als die Unwissenden hingestellt sehen. Ich weise gerne darauf hin, daß Aussagen und Verhalten in bestimmter, für jeden typischer etablierter Weise aufgefasst werden und sich wiederum als Folge Reaktionen und Handlungen in einem Wechselgeschehen ergeben.

 

Wenn ich nach Ursachen und Gründen frage, sagen Patienten oft „Weiß ich nicht!“ Animiere ich zum Phantasieren und Assoziieren, fallen ihnen oft die Gründe wie von selbst zu. Das Wissen ist wie eine Blockade, das Phantasieren öffnet die Beweggründe. Sicher komme ich mir nur ab und zu auf die Spur, wie ich mich mit dem Patienten in einen Handlungsdialog verstricke und meine Distanz verloren geht. Die spätere Wahrnehmung dieses Handlungsdialoges kann nun weitere Rückschlüsse ermöglichen, insofern fruchtbar genutzt werden. Aber das gehört zu jeder Therapie.

 

Bei mir setzte sich der Erkenntnisprozeß durch, je nachdem welche Seite der Patient dem Analytiker zeigt, können sich verschiedene Wahrnehmungen und Diagnosen und als Folge Interaktionen ergeben. Welche Seite das ist, hängt wiederum davon ab, wie der Patient durch verschiedene Einflüsse auch außerhalb der Analyse gerade aufgelegt ist, welche Wahrnehmung von diesem Analytiker er gerade hat, abhängig von dessen Persönlichkeit, und wiederum davon, wie dieser gerade aufgelegt ist, auch wenn der Therapeut noch so distanziert und anonym zu erscheinen sich bemüht. Ebenso wie in jeder Arzt-Patienten-Beziehung treffen verschiedene Therapeuten und Ärzte abhängig vom jeweiligen Zeitpunkt zwangsläufig verschiedene Diagnosen, die die Behandlungsverläufe mitprägen.

 

Dem Anspruch der Psychoanalyse auf dauerhafte Strukturveränderungen in einer hochfrequenten langdauernden Therapie konnte ich nicht entsprechen, lernte auch einige Patienten kennen, wo das wohl wenig gebracht hatte. Auch bei meiner Arbeit führten manch längere Therapien nach meinem Eindruck wenig weiter. Aber das kann man nie wissen, denn zum Therapieende hin hinterläßt mancher Patient in der Gegenübertragung einen ungünstigen Eindruck, ich vermute, um besser von der übertragenen Mutter im Therapeuten los zu kommen.

 

In meinen Augen tragen viele Patienten in sich unbewußt begrenzte Therapieaufträge an die Behandlung heran. Dazu drei Beispiele: Ein Patient quälte sich furchtbar mit Arbeitsaufträgen herum, kriegte aber immer noch zum Schluß die Kurve. Er war nicht froh, dass er es doch noch geschafft hatte, sondern diese regelmäßige Quälerei machte ihm schwer zu schaffen, und wir beide rätselten an den Gründen. Alle meine Deutungen nutzten nichts. Bis es ihm eines Tages wie Schuppen von den Augen fiel „Die Angst vor dem Misserfolg!“ Damit war das Problem gelöst und die Therapie beendet.

 

Eine Patientin erzählte von ihren Problemen mit ihrer Chefin. Ich sagte einige Worte und Sätze dazu. Plötzlich meinte sie „Ach, Sie wollen wohl sagen, es gibt manchmal Menschen, mit denen kann man einfach nicht! Das sollte man akzeptieren!“ Das war nach einer halben Stunde in der ersten und letzten Sitzung. An so etwas hatte ich noch nicht einmal ansatzweise gedacht. Sie legte es in mich hinein und las es aus mir heraus. Ihre möglichen Mutterprobleme, auf die Chefin übertragen, zu besprechen, war nicht ihr Anliegen bzw. Auftrag. Ihr reichte es wahrscheinlich, sich jetzt mit der Chefin nicht mehr lange auseinander setzen zu müssen, einen Punkt zu setzen und – fertig!

 

Bei einem ziemlich gestörten Patienten war die Therapie nach einiger Zeit befriedigend zu Ende, als ich ihm bestätigte, daß es so etwas wie ein inneres Regime gebe. Ich schließe aus diesen drei Fällen, in denen mir dies besonders deutlich wurde, dass es wohl häufig sehr begrenzte Therapieaufträge gibt und höhere analytische Ansprüche hinsichtlich Strukturveränderungen fehl am Platz sind. Dabei denke ich beispielsweise an die vielen Schmerzpatienten, die ihre Schmerzen durch das Gespräch beseitigt sehen wollen, ohne sich mit den auslösenden Ursachen zu beschäftigen. Ich rede gerne von „Ohne-Das-Therapie“, „Wasch mich, aber mach’ mich nicht naß“. Manchmal klappt das auch einfach dadurch, dass sie sich im Gespräch angenommen fühlen.

 

Das Tolle für mich in der Psychotherapie ist der Paradigmenwechsel. Die Arbeit ist nicht mehr entfremdet wie sonst im Arzt-Patienten-Verhältnis, wo es nur um den Patienten, dessen Diagnose und Therapie geht, und die Befindlichkeit des Arztes keine Rolle spielt, sondern im Rahmen der Gegenübertragung geht es gerade um mich, den Therapeuten, was ich denke und fühle, und das ist auch noch dazu in der Interpersonalität das wichtigste therapeutische Instrumentarium. Ein Wermutstropfen ist, dass sich reichlich Spannungen übertragen und diese oft nicht abzubauen sind, dadurch die Arbeit oft ganz schön anstrengend wird, und diese geistig-seelische Arbeit im Kassensystem schlecht bezahlt wird. Im Gesundheitswesen ist es halt so, dass die Bereiche die höchsten Gewinne davon tragen, die die höchsten Unkosten haben, also viel teuere Technik und Personal verwenden.

 

Das anfangs angeführte Beispiel aus einer Behandlung zeigt, wie spontane aus der Situation sich ergebende Einfälle und Aussagen tiefer ins Konfliktgeschehen führen können. Ohne meinen spontanen Einfall bzw. mein Bild und meine spontane Frage hätte ich kaum etwas von der Ursache der Schuldgefühle und Ängste des Patienten direkt erfahren können, höchstens vermuten und durch seine bekräftigenden Aussagen belegen können. Wie ein kleiner Junge hatte er sich seine Strafe von seiner Mutter in der Gestalt der Ehefrau abgeholt. Er ist in einem strengen, verurteilenden und bestrafenden Umfeld aufgewachsen und dieses Trauma lebt er fort und hat davor Angst. Seine Partnerin hatte er sich unbewusst nach dem erfahrenen Muster ausgesucht. Er verdient das Geld für ein Zuhause, in dem seine Frau mit den Kindern ihre Ängste und demzufolge ihre Kontrollen (oft ging es um die Hausaufgaben) auslebt und er wenig zu sagen hat. In den einsamen Nächten im Hotel wäre er am liebsten zu Prostituierten gegangen – im Sinne einer Reaktion auf Einsamkeit -, solange sich wenig Kommunikation und Abwechslung vor Ort mit MitarbeiterInnen der jeweiligen Firmen ergibt, versagt sich dies, genehmigt sich aber wenigstens Pornofilme, für die er bitter mit Ängsten und Schuldgefühlen bezahlen muß.

 

Glossar:

 

Paradigma    an sich Beispiel, aber häufig im Sinne eines vorherrschenden Denkmusters, allgemein anerkannter Konsens, z.B. der Therapeut oder Arzt hat mit all seinen Fähigkeiten für seine Patienten da zu sein. Er selbst als Mensch in seiner Befindlichkeit spielt nur eine geringe Rolle.

 

Übertragung     die Übertragung der Erfahrung mit früheren Bezugspersonen wie Mutter oder Vater auf spätere Personen. In diese werden diese Erfahrungen hinein gesehen bzw. in diesen wieder erkannt und gelebt, ein allgemein menschliches Phänomen in allen Lebenssituationen. Der Mensch nimmt die Umwelt mit inneren Bildern wahr. Deswegen sind frühe positive Erfahrungen so wichtig, um positive Beziehungen eingehen zu können und nicht überall das Negative wieder zu erkennen. In der Analyse die Übertragung von Elternaspekten auf den/die Therapeuten/in.

 

Gegenübertragung    die Reaktion des Therapeuten auf den Patienten, sowohl mit inneren Bildern, Gefühlen als auch Reaktionen, sozusagen als Spiegel für den Patienten. Da jeder Therapeut eine eigene Kindheit hat, überträgt er ebenso auf den Patienten. Die Gegenübertragung ist also ein gemeinsamer Spiegel für Patient und Therapeut.

 

Enactment oder Handlungsdialog   Kommunikation und Umsetzung in Handlungen auf der Ebene unbewusster Motive, über die schwer Aufschluß gegeben werden kann oder deren Motive durch rationale Begründungen nach der jeweiligen inneren Logik ersetzt werden. Unter Analytikern wird auch von Gegenübertragungsagieren gesprochen, einem Behandlungstabu. Die Erfassung des Enactments kann tiefer gehende Auf- und Rückschlüsse auf das unbewusste interpersonelle Geschehen ermöglichen.

 

Projektive Identifizierung    der teuflischste Abwehrmechanismus innerhalb enger und intimer Beziehungen, meist zwischen Eltern und Kindern. Beispielsweise projiziert eine Mutter negative entwertende Eigenanteile ihres Selbstbildes zu ihrer Entlastung in ihr Kind, häufig die Tochter, und diese identifiziert sich, da sie noch kein eigenes Weltbild hat, mit diesen Entwertungen, etwa böse, schlampig, egoistisch, rücksichtslos, hartherzig zu sein. Sie gerät in den Zwiespalt, das Gegenteil zu beweisen, tritt also besonders gut auf, oder sie lebt nach dem, wie sie glaubt, wie sie ist, und lebt diese Entwertungen. Die projektive Identifizierung ist ein unbewusster automatischer Vorgang. Bei Erwachsenen greifen Projektionen nur, wenn parallele Bilder im Empfänger vorherrschen, etwa wenn ein Arbeitsloser gekränkt ist, wenn ihn jemand als Faulenzer oder Schmarotzer bezeichnet.

 

Transgenerationalität   die Weitergabe und Überlieferung von Werten, Normen, Glaubensinhalten und Verhaltensweisen über Generationen hinweg

 

Inhaltstheorie   im Kopf eines jeden Menschen befinden sich vorstrukturierte Inhalte, Wahrnehmungen, Glaubensinhalte und Reaktionsweisen

 

Prozeßtheorie    diese Inhalte werden im zwischenmenschlichen Prozeß unterschiedlich angesprochen, wodurch sich verschiedene Prozesse ergeben.

 

Freie Assoziation und gleichschwebende Aufmerksamkeit    die freie Assoziation auf Seiten des Patienten, Gedanken, Bilder, Gefühle frei, unvoreingenommen, unkontrolliert und absichtslos kommen zu lassen, auf Seiten des Analytikers die gleichschwebende Aufmerksamkeit, in gleicher Weise im Sinne eines ungerichteten Zuhörens sich dem Patienten zuzuwenden.

 

Spiegelmetapher   Metapher - Worte nicht in der wörtlichen, sondern in der übertragenen Bedeutung. Der Spiegel stellt eine Metapher dar. In der übertragenen Bedeutung spiegelt der Analytiker den Patienten wieder.

 

Abstinenzregel   der Analytiker enthält sich in der Therapie seiner privaten und persönlichen Seiten und ist dem Patienten nur beruflich zugewandt.

 

Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 26.11. 2007
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 26.11. 2007