Revolte auf dem Cover des Buches von Daniel Cohn-Bendit und Dammann

 

 

Der Vernichtungswahn und die Übertragung von Schuld

 

Serie: Die „33er“, die Väter der 68er? (Teil 2/3)

 

Während im ersten Artikel die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der „33er“ und 68er überwiegend die in der Frankfurter Rundschau veröffentlichten Aufsätze auszugsweise referiert wurden, wollen wir uns den Gemeinsamkeiten zuwenden, die aus Alys Sicht zu einer Jugendrevolte führten, und versuchen diese aus einer tiefenpsychologischen oder sogar psychiatrischen Perspektive zu betrachten: Tief verunsicherte und gedemütigte Menschen neigen wie in Religionen nun einmal dazu, sich Idolen, denen, die Stärke, Überlegenheit und Schutz versprechen, und dem Göttlichen, Absoluten, Totalitären und Radikalem anzuschließen und sich in einem „Wir-Gefühl“ mit diesen zu vereinen. Das verleiht ihnen auf dem Wege der Identifikation Stärke, Selbstbewußtsein und Macht. Das bewirkt etwas Rauschhaftes. Teile der Nation, gerade die Verunsicherten und Gedemütigten, fielen in einen Rauschzustand und verfielen der Macht und dem Gleichschritt. Schwäche, Andersartigkeit, Pluralismus, Kompromisse und Differenziertheit wurden ausgeklammert und aus der eigenen Schwäche heraus in andere projiziert, beziehungsweise an andere delegiert und dort bekämpft.

 

So feierten die „33er“ nach Aly den Abschied vom bürgerlichen Individualismus „den Übergang von der Ich-Zeit zur Wir-Zeit“. Infolge ihres Ausgeschlossenwerdens aus ihrer bisherigen Klasse und dem Bürgertum zum einen und dem Versagen dieses Bürgertums im 1. Weltkrieg und in der Weltwirtschaftskrise zum anderen, richtete sich ihr Haß und ihre Wut gegen dieses Bürgertum, in ihren Augen des Spießbürgertums, „diesen schwammigen, fettgepolsterten und kahlköpfigen Rundbäuchen“ und geißelten sie die differenziert argumentierenden, pragmatischen Liberalen als „zerstreute Kompromißmenschen“.

 

Durch die tiefe Verunsicherung und Demütigung waren weiten Teilen der Bevölkerung, vor allem den aufstrebenden Studenten, ihre Wurzeln von Sicherheit, Geborgenheit und Selbstachtung genommen Die Rückkehr zu den Wurzeln symbolisierte die Verherrlichung des Ariertums als überlegener Rasse und als weitere Abwehr ihrer Verunsicherung und Umkehrung ins Gegenteil fungierte das Elitedenken und die Utopie eines besseren Menschen. Insofern übte die nationalsozialistische Propaganda eine starke Anziehungskraft aus. Dieser Generation von Gedemütigten wurde dadurch ihr Stolz zurückgegeben.

 

Der Kampf der Söhne gegen die Väter entspricht der klassischen These und dem Kern der Psychoanalyse in der Ödipussage. Die im Ödipuskomplex zusätzlich vorhandene Mutter-Sohn-Ehe ist in dem Mutterkult der Nazis wieder zuerkennen. Aber auch in der Ödipussage war dem Vatermord der versuchte Sohnesmord und diesem die Prophezeiung des Orakels vorausgegangen: entweder – oder. Entweder ermordet der Vater den Sohn oder der Sohn den Vater. Dieser Sohnesmord entspricht dem klassischen Kriegsmodell, in dem die Väter die Kriege anzetteln und vorwiegend die Söhne umkommen, also einem kulturell und gesellschaftlich verbreiteten Sohnesmord. Und die Mütter weinen ihren Söhnen nach, die sie selbst in den Krieg geschickt haben.

 

Zur weiteren Vorgeschichte wollen wir den Zeitgeist des 19. Jahrhunderts einbeziehen und an die meist gelesenen pädagogischen Bücher des 19. Jahrhunderts des Orthopäden Schreber erinnern, der auch die Schrebergärten kreiert hat, laut deren Prämissen der eigene Wille des Kindes, sprich der Trotz, um jeden Preis zu bekämpfen ist. Diese Bücher dienten einer total verunsicherten Elternschaft als Leitlinie und Ratgeber. Schreber hat ebenfalls grausame Apparate zur geraden Haltung und Züchtigung konstruiert. In diesem damals sehr verbreiteten autoritären Erziehungsstil ist insofern symbolisch ein Sohnesmord zu sehen, als der Vater alles zu sagen und der Sohn nichts zu sagen hat, der Vater immer recht hat, der Sohn unrecht, nur der Vater gilt, der Sohn nichts gilt. Dadurch wird der Sohn als eigene Persönlichkeit entwürdigt und seine Identität vernichtet.

 

Andererseits werden durch den fehlenden Respekt gegenüber dem Kind, das fehlende Eingehen auf dessen Wünsche und die Unterdrückung des Kindes Trotz und Verweigerung zu dessen Selbsterhaltung erst erzeugt, die dann in einem tragischen Endloskreislauf wieder bekämpft werden müssen. Die Kämpfe, Demütigung und Erniedrigung und vor allem die Unterlegenheit und Ohnmacht des Kindes erzeugen ohnmächtige Wut und Haß. Die Wut kann wegen des in allen Kulturen vorhandenen Sittengesetzes - in unserer christlichen Kultur dem 4. Gebot „Du sollst deine Eltern ehren, auf daß es dir gut gehe auf Erden!“ - und wegen der kindlichen Unterlegenheit und Schwäche nicht gegen den Vater gewendet werden. Es sei denn, der Sohn wird erwachsen, dann ist er vom Vater zu fürchten und deswegen muß er vor allem durch die verinnerlichten Gebote und Verbote schon in seiner Kindheit klein und durch die Verinnerlichung auch für sein späteres Leben klein gehalten werden. Ein zentrales und häufiges Argument der Eltern ist beispielsweise „Es ist alles nur zu deinem Besten, damit aus dir ein anständiger Kerl wird!“. Durch die Verinnerlichung dieses Besten sind den Kindern und Söhnen die Hände gebunden. Oft genug glauben sie auch, daß Schläge, Demütigung, Erniedrigung und Gehorsam zu ihrem Besten sind.

 

Durch diese existentielle psychologische, das heißt im Selbstbild und Selbstwert, in ihrer anerkannten Identität, also narzißtischen Vernichtung, entstehen vernichtende Aggressionen, die wie erwähnt nicht gegen die Urheber gewendet werden können. Eine unterdrückte vernichtende Aggression, die dazu mit Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergeht, muß irgendwo ihren vernichtenden Ausfluß haben. So müssen für Generationen von Geknechteten und Gedemütigten Sündenböcke herhalten, besonders dort, wo traditionell schon Vorurteile und Aggressionen bestehen. Bei den Nazis waren es die Juden, deren Vermögen sich die Benachteiligten und raffgierigen Bürgerlichen noch dazu aneignen konnten, Zigeuner; Homosexuellen und Geisteskranken, die im nationalen Rassenwahn das Rassenerbgut gefährden sollten und als „unwertes Leben“ galten. Da in den besiegten Völkern oft ähnliche Vorurteile und Aggressionen bestanden, waren diese leicht als Helfershelfer zu mißbrauchen. Die Wut auf die eigenen Väter wird also auf Sündenböcke umgeleitet. Diese werden als das Böse in der Welt angesehen und müssen in gleicher Weise ausgerottet werden, wie sie als Kinder und Söhne selbst ausgerottet wurden. Die Wut und der Haß auf die Eltern entsprechen der Wut und dem Haß auf die eigenen Eltern. Hier ist ein wesentlicher Unterschied der „33er“ zu den 68ern, die sich gerade mit ihren Vätern angelegt und nicht verdrängt haben.

 

Als Ausdruck des Verlustes der narzißtischen Identität bzw. der Vernichtung unter den Nazis ist auch die Sehnsucht und Utopie nach „Blut und Boden“, nach einem neuem Land, sozusagen einer Erweiterung und Erneuerung der Identität anzusehen, die zum Russlandfeldzug und zum Scheitern des Naziregimes führte. Der Arierdünkel des Naziregimes verhinderte auch, daß die westlichen Völker auf dem Weg ins russische Kernland, die die Deutschen zuerst als Befreier begrüßten, gegen sie aufgebracht wurden.

 

Woher stammt die Wut der Väter auf die Söhne, so daß sie keine eigene Persönlichkeitsentwicklung zulassen und diese sozusagen ermorden, statt stolz auf selbstbewußte Söhne zu sein? Die wesentlichste Ursache ist, sie kennen es gar nicht anders, sie wurden von ihren Vätern ebenso behandelt und behandeln ihre Söhne, wie sie selbst behandelt wurden. Die Söhne haben zu büßen, was ihren Vätern deren Väter angetan haben. Weitere Gründe stammen aus dem Neid der Väter auf die Söhne, deren Jugend, Attraktivität und Zukunftschancen, während sie bei sich selbst nur das Negative, die zunehmende Unattraktivität, Alterung und Verfall, statt der Vorteile des Alters sehen. Hinzu kommt in vielen traumatisierten Familien das Hochjubeln der Söhne zu Göttern und Erlösern durch die Mütter, die ihre Söhne wesentlich wichtiger nehmen und mehr anerkennen als die Väter, wodurch Rivalität, Neid und Eifersucht der Väter gegenüber den Söhnen erzeugt werden. Diese Väter entsprechen nicht dem biblischen, christlichen Idealbild der Heiligen Familie, das deswegen als Gegenbild geschaffen wurde, und in dem der Sohn der Gott ist, die Mutter jungfräulich und der Vater asexuell als Beschützer und Bewahrer im Hintergrund steht. Diese Ikone der christlichen Kultur weist auch auf das Göttliche im Menschen und das Menschliche im Göttlichen, die Problematik der Sexualität und die vernichtende Rivalität zwischen Vater und Sohn hin.

 

In ihrer Erfahrung tief verunsicherte und gedemütigte Menschen erleben Verunsicherung und Demütigung nach den Gesetzen der Psychotraumatisierung weiterhin in Gegenwart und Zukunft. In ihrem Zukunftsentwurf muß dies mit allen Mitteln verhindert werden. Jegliche Selbstbestimmung würde Veränderung schaffen, deswegen der absolute Gehorsam, und alles schon vorhandene Fremde und Unbekannte diese Unsicherheit und die Ängste verstärken. Auch deswegen wurde und wird zu allen Zeiten das Fremde und Unangepaßte, bei den Nazis in den Juden, Zigeunern und Geisteskranken symbolisiert, vernichtend bekämpft.

 

Insofern stehen die Väter für den Erhalt, die Konservierung, das Establishment, da diese ihre Macht konsolidierten und garantierten. Die Söhne stehen für Veränderung, Freiheit und Selbstbestimmung. Der Aufstand der Söhne und deren Veränderungswillen sind die revolutionären Bewegungen. Kriege gehen von den Vätern aus wie der 1. Weltkrieg und viele andere, dienen deshalb nach dem klassischen Muster ihrem Machterhalt und laufen gemäß ihren Interessen ab. Überwiegend werden die Söhne geopfert.

 

Kommen wir zu den wahnhaften Elementen im Vernichtungsfeldzug der Nationalsozialisten. Ein wesentliches Element des Wahns und der Psychose ist die Verdinglichung oder Vergegenständlichung der Symbolik. Es gilt nicht das Als-Ob, sondern, es ist so und wird so mit allen Sinnen, also als handfeste Realität, wahrgenommen. Dazu zur Illustrierung kleine Beispiele: Ein Psychotiker sah im Raum wahrhaftig als optische Halluzination lauter Scheißhaufen, bis diese verschwanden und die Großmutter auftauchte. Das Symbol „die Großmutter ist Scheiße“, wurde als Scheiße gesehen. So sah er auch Ratten als Symbolik des Rattenhaften des Menschen herumlaufen. Ein anderer deckte sein Haus ab, wurde deswegen in die Psychiatrie eingewiesen und erklärte allen Ernstes, er wolle den Mief von Generationen heraus lassen. Wieder ein anderer wurde als Splitternackter auf einem Autobahnparkplatz aufgelesen. Er hatte sein Uni-Examen gemacht und beabsichtigte zu heiraten. Die Nacktheit erklärte er später dadurch, er habe sich aller Dinge entledigen und ein neues Leben anfangen wollen.

 

Die Symbolik des Bösen ist der Teufels, der den Söhnen und Töchtern in ihrer Erziehung auszutreiben versucht wurde, wurde dadurch in sie hinein plaziert und steckte in ihnen. Das war so furchtbar und vernichtend, daß das Böse unbedingt weitergeleitet, externalisiert und projiziert werden mußte. Dabei wurde das Böse wahnhaft wie bei einem Psychotiker in einem tödlichen Vernichtungsfeldzug verdinglicht, in Menschen vergegenständlicht und diese körperlich ermordet. Diese Verkörperlichung des Bösen und die Folgen der Exkorporation, von dem einen Körper in den anderen, kann man also als psychotische Phänomene und Handlungen ansehen. Eigentlich ist diese Folge auf dem Hintergrund der Erfahrung des Bösen in körperlichen Schlägen und Züchtigungen psychologisch kein Wunder.

 

Eltern prägen ihre Kinder nach ihren Wünschen und zur Vermeidung ihrer Ängste. Das ist ja der Sinn der Erziehung. Ihr Geist geht auf die Kinder über. Der pädagogische Geist des 19. Jahrhunderts, aus dem heraus sogar ein Günter Grass, um der Enge und dem Mief des Elternhauses zu entkommen, sich zur Armee meldete, wie er kürzlich eingestand, war natürlich deswegen nach dem Krieg nicht verschwunden. Dieser Zeitgeist lebte in den Elternhäusern fort. Verstärkend kamen die Traumatisierungen des Krieges, die gefallenen Väter, zerbombten Städte mit vielen Toten, Vertreibungen und die geschädigten rückkehrenden Kriegsgefangenen hinzu. In diesen traumatisierten Familien wurde deshalb weiterhin auch nach dem Krieg absoluter und vorauseilender Gehorsam gefordert. Dort, oft auch noch in den Schulen, wurde geschlagen, manchmal sogar täglich prophylaktisch zur Warnung für die anderen Kinder, um den Gehorsam zu fördern. Mief, Entwertung und Enge lebten fort und fanden dadurch eine gute Generation später einen erneuten Nährboden für revolutionäre Tendenzen der Befreiung und Emanzipation.

 

Die Prägung der Kinder durch ihre Eltern findet auch in Scham und Schuld statt. Nicht nur die Eltern für ihre Kinder, auch die Kinder fühlen sich wie ihre Eltern schuldig und für sie schuldig oder schämen sich ihrer. Dadurch geraten die Kinder in eine Stellvertreterposition. Die Kinder sind so etwas wie ein Aushängeschild für ihre Eltern und umgekehrt die Eltern für sie. Zum Verständnis der transgenerationellen Übertragung von Schuld soll ein Beispiel beitragen: Ein Bekannter war fest überzeugt, daß sein Vater ein Naziverbrecher war. Dieser hatte das aber nie zugegeben. Deshalb hat er über Jahre hin seinen Vater nicht angeschaut und nicht mit ihm gesprochen. Erst als er sich eines Tages vergegenwärtigte, daß dies Sache des Vaters sei und nicht seine, konnte er wieder mit dem Vater reden. Diese Trennung von Verantwortung und Schuld war für ihn eine Befreiung. Als Bestätigung und Wiedergutmachung ihrer Schuld und, um ein Zeichen für den Frieden zu setzen, leisten deshalb seit 50 Jahren im Rahmen der „Aktion Sühnezeichen“ junge Leute Friedensdienste. Für sie gibt es den Judenmorden gegenüber eine gesellschaftliche Verantwortung des heutigen Deutschland und damit seiner Bürger. Dann muß man zwar nicht in Sack und Asche gehen und stündlich „mea culpa“ rufen, aber wissen muß man um diese Kollektivschuld. Die transgenerationelle Übertragung von Schuld wird in der biblischen Schöpfungsgeschichte als die „Erbsünde“ beschrieben und vielfach als Kollektivschuld, die von den Eltern auf die Kinder übergeht, moralisch akzeptiert.

 

Ein Freund erzählte mir spontan, als ich ihm vermittelte, daß ich über dieses Thema schreibe, Kinder, von denen bekannt wurde, daß ihre Väter an Naziverbrechen beteiligt waren, wurden von den Mitschülern geächtet. Ein anderer Freund erzählte mir ebenso spontan, seine Frau, eine Finnin, sei in den Niederlanden geächtet worden, weil sie einen Deutschen geheiratet hat. Diese beiden Reaktionen zeigen durch deren Spontaneität, wie sehr dies Thema noch unter der Haut brennt und wie sehr die Kollektivschuld im In- und Ausland, vor allem in England, Holland, Norwegen und Finnland, jetzt noch aktuell ist.

 

Aus dieser Perspektive der Übertragung von Schuld und Verantwortung sind der Befreiungskampf der 68er und die Konfrontation mit ihren Vätern zu sehen. Die Väter sollen sich endlich zu ihrer Schuld bekennen, zu dem, was sie getan und verbrochen haben. Die 68er sehen sich noch in der Kollektivschuld. Wenn ihre Väter sich bekennen, sind sie, die Kinder, von ihrer Schuld befreit. Die nächste Generation sieht sich durch die Gnade der späten Geburt nicht mehr so schuldig. Und was sehen die 68er, was tun ihre Väter? Sie tun so, als ob nichts geschehen wäre – eine Mauer des Schweigens und Vergessens -, sitzen in ihren Ämtern, bauen auf den Trümmern einen prosperierenden Staat mit der Hilfe ihrer ehemaligen Feinde auf und werden auch im neuen Ost-West-Konflikt als starker und nicht als schuldbeladener, gebeugter Partner gebraucht. Als sie, die Studenten mit viel Lärm und Getöse protestierten, wurden sie sogar gesellschaftlich geächtet und ausgegrenzt und trotz ihrer kleinen Minderheit mit Notstandsgesetzen, Radikalenerlassen und in ihren Berufswegen als Linke gebremst. Die Notstandsgesetze zeugen eher vom Notstand der Politiker als von der Bedrohung durch die Revoltierenden, die durchaus ihre Berechtigung hatten. Nach anfänglicher Entnazifizierung war auch bei den ehemaligen Feinden im Westen das Thema erledigt, weil der neue gemeinsame Gegner der Kommunismus hieß und der Eiserne Vorhang abschirmte.

 

In meiner Selbstbetrachtung habe ich mich ab und zu gefragt, ob ich als Deutscher wegen der Nazi-Verbrechen Schuldgefühle haben müsse. Zu meinem Glück stamme ich aus einer nazi-feindlichen Familie. Die Erzieherin meiner Mutter, meine Großtante, war stolz, daß ihr der Hitlergruß nie über die Lippen gekommen ist. Mein Vater hatte sich 1932 bei einer Veranstaltung der Nazis als Gegenredner gemeldet, war aber nach dringendem Abraten zurück getreten. Trotzdem verfolgten ihn die Akteneinträge. Später ist er aus beruflichen Gründen der NSDAP beigetreten. Ich selbst soll als kleiner Junge einen Bildband zu einer Autobahneinweihung mit abgebildeten Nazi-Honorationen das „Böse-Männer-Buch“ bezeichnet haben. Auf meine Frage, was der Unterschied zwischen Gassen- und Straßenjungen sei, soll ich auf die Erklärung hin „kleine böse Jungen sind Gassenjungen, größere sind Straßenjungen“ gesagt haben „und wenn sie ganz groß sind, sind sie Hitlers!“.

 

Trotzdem, bei tiefer gehender innerer Betrachtung war ich früher stolz als Deutscher einer höheren Rasse anzugehören. So sehr steckte der Rassendünkel in mir. Die Kriegsniederlage empfand ich als Schmach. Mir wurde klar, wenn ich früher geboren wäre, hätte ich vielleicht nicht anders gehandelt. Wenn ich mich trotz mancher Nazi-Ressentiments als Maßstab eines braven, obrigkeitshörigen jungen Mannes sehe, könnte mancher spätere 68er unter diesen Umständen, Einflüssen und unter der Herrschaft des damaligen Zeitgeistes 3o Jahre früher vielleicht ähnlich verstrickt worden sein. Bei der Entwicklung einer kleinen Gruppe radikaler, gewaltbereiter Nachfolger der 68er, der RAF, die durchaus die Sympathie einer etwas größeren Gruppe genoß, hatten sich ja schon lebensverachtende Tendenzen in durchaus bester Absicht, nämlich die Nation vom Kapitalismus und deren herausragenden Vertretern zu befreien – vielleicht in Analogie zu den Nazis, in den Juden die Welt von dem Bösen zu befreien – breit gemacht.

 

Im nächsten Artikel versuchen wir uns mit den Hemmnissen und Schwierigkeiten der Aufarbeitung unserer schwierigen, sogar entsetzlichen Geschichte, die nach den Maßstäben des Vernunftsmenschen bei der Konfrontation mit dem Ungeheuerlichen und Unfaßbaren zwangsläufig auftreten, auseinander zu setzen.

 

Weiterführendes ist in den mythischen Übersetzungen auf den Alltag in der Ödipussage und biblisch in der Schöpfungsgeschichte und Heiligen Familie und den Artikeln über die Psychotraumatisierung zu finden. Im Archiv: Unter Suchen „Bernd Holstiege“ eingeben.

 

Autor: Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 24.02. 2008

Verwertung: Weltexpress

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 24.02. 2008