Die wechselvolle Geschichte der Aufarbeitung zwischen Verdrängung und Aufdeckung

 

Serie: Die „33er“, die Väter der 68er? (Teil 3/3)

 

 

Wie alles anfing erklärt das Bürgertum

nicht nur in der Frankfurter Rundschau sondern auch in der Zeit

 

 

 

Frankfurt am Main (Weltexpress) - Bisher wurde in den vorangegangenen Artikeln auszugsweise der Aly-Essay als Initialzündung eines Sturmes der Entrüstung, der wahnartige Charakter der Massenvernichtung und die transgenerationelle Übertragung von Schuld auch im Sinne einer Kollektivschuld dargestellt. Jetzt soll zu den Schwierigkeiten der Aufarbeitung und deren Hemmnissen Stellung bezogen werden. Insofern hat dieser Essay, trotz allem, was dagegen zu sagen ist, seine guten Seiten, nämlich sich mit dem Thema der „33er“ und 68er zum wiederholten Mal auseinanderzusetzen. Für uns ist es ein Anlaß, unsere Gedanken erneut noch einmal mit tiefenpsychologischen Mitteln zu durchdenken und Zusammenhänge zu klären zu versuchen. Diese Auseinandersetzung kann nicht gradlinig auf einmal erfolgen, sondern verläuft in Etappen, einschließlich Aufdeckungen und wiederum Verdrängungen.

 

Hinter den Schuldgefühlen steckt für die Nazi-Täter die Scham, diese entsetzlichen Untaten und Greuel überhaupt begangen zu haben, für die übrige Bevölkerung liegt sie zusätzlich darin, durch Stillschweigen Mittäter zu sein. Die Scham schließt ein die dazu gehörenden emotionalen Zuständen Blamage, Peinlichkeit, Schande und Lächerlichkeit ein, die alle eine massive Verletzung des narzißtischen Selbst hervorrufen. Würden die Täter die vernichtende Tragweite ihrer Greueltaten realisieren, würde sie das blanke Entsetzen ergreifen und ein Weiterleben unmöglich machen. Zur Abwehr von Entsetzen, Scham, Schande und Schuld wird in der Regel die Rechtmäßigkeit des Tuns verteidigt. Deswegen haben die Verdrängung, Verleugnung, Umdrehung ins Gegenteil, also das gerechtfertigte Handeln eine Schutzfunktion zum Überleben. In dieser Verleugnung und Rechtfertigung ergab sich eine wahnhafte Realitätsverzerrung, die ganze Tätergruppen ergriffen hatte und von einer verleugnenden Mehrheit gestützt wurde, die die grausamen Verbrechen erst im traditionellen deutschen Obrigkeitsstaat ermöglicht hatte.

 

Dieser Scham liegt ein Größen- oder Souveränitätsbild zugrunde, eine Illusion, völlig unabhängig von prägenden Einflüssen zu sein und das Leben selbst konstruktiv gestalten zu können. Auf dieser Selbstverantwortung basiert auch als Folge des gesellschaftlichen Konsenses unser Rechtssystem. Man könnte in diesem Tatbestand auch eine erhebliche gesellschaftliche Realitätsverkennung sehen, da viele traumatisierte Menschen aufgrund ihrer Prägungen abhängig von äußeren Umständen und Einflüssen nicht Herr ihrer Handlungen sind, sondern ihrem Haß und ihren Aggressionen hilflos ausgeliefert sind. Diese Ohnmacht und Hilflosigkeit wird im Größenbild in Kontrolle und Macht umgewandelt. Je größer die frühere, vor allem kindliche Verletzung, Demütigung und Ohnmacht, also die Psychotraumatisierung ist, desto großartiger gestaltet sich das Größenbild bis zur göttlichen Omnipotenz. Das sind menscheneigene psychologische und im Gehirn fest verankerte Realitäten, die höchstens anders dargestellt oder verleugnet werden können. Die Scham ist im Hintergrund das wesentlich stärkere Gefühl und deren Bloßstellung eine stärkere narzißtische Verletzung als die Schuld. Das Größenbild stellt die Gegenreaktion und Abwehr der Scham und in ihrer Überhöhung einen illusionären Schutz vor dieser dar. In einem tragischen Teufelskreislauf wird es wiederum zu einer verstärkten Ursache der Scham. Im zweiten Teil dieser Serie haben wir an dem Sohn eines Naziverbrechers die Befreiung von Scham und Schuld durch die Abgrenzung, wer wofür schuldig ist, dargestellt.

 

Die Scham ist das Gefühl der Grenzverletzung, der Maßlosigkeit, sowohl im innerpsychischen als auch im zwischenmenschlichen Bereich. Am Apollotempel in Delphi steht die Inschrift „Gnothi s’auton“, „Erkenne dich selbst“, und bezieht sich auf den Menschen, nicht den Gott. Die gottgleiche Erhebung des Menschen wurde von den griechischen Göttern als Hybris (Frevel) bestraft. Peinlich ist es auch nach heutiger Auffassung, diese menschlichen Grenzen zu verlassen. Die ‚überlegene’ Rasse der Arier müßte vor Scham im Boden versinken, die sie wiederum im Größenbild abwehrt. Ebenso ist die andere Seite der Grenzverletzung, die Minderwertigkeit und Kleinheit, schamvoll und peinlich. Dahinter steckt nämlich der Maßstab eines Größenbildes. Ohne das Größenbild würde der Mensch sich anerkennen, so wie er ist und sich nicht in Minderwertigkeit entwerten.

 

Zwischenmenschlich ist die Übernahme von Größen- und Entwertungsbildern ebenfalls eine peinliche Sache: so dumm und naiv zu sein und das zu übernehmen, was andere glauben, und nicht ausreichendes Selbstbewußtsein zu besitzen, sich abzugrenzen und die Stirn zu bieten. Jedoch ist es menschliches Schicksal, in der Kindheit die Bilder von Erwachsenen, die in ihren inneren Realitäten von einer Sache völlig überzeugt sind, voll und ganz zu übernehmen. Auf diesem Wege erfolgt eine Übergriffigkeit oder Vereinnahmung. Es muß schon viele illusionäre Größenbilder voraussetzen, die wiederum als Illusionen hintergründig peinlich sind, diesen Tatbestand nicht zu realisieren. Diese Illusionen sind gesetzmäßig die Folge von Demütigungen und Ohnmacht.

 

In der griechischen Sage blendete Ödipus zusätzlich zur Selbstbestrafung sich selbst, um seine Schuld in den Augen der Bevölkerung nicht sehen zu müssen. Dadurch erzeugte er wegen der mangelnden Abgrenzung auf der tieferen Ebene in sich selbst Scham, beziehungsweise war diese in ihm schon vorhanden, da er durch seine Prägungen am Königshaus, dort wo er aufgewachsen ist, von vorneherein an seine Verbrechen glaubte. Durch seine Tat der Selbstblendung, seine Stigmatisierung zusätzlich durch eigenes Handeln zu bestätigen, konnte er sich umso weniger seinen Irrtum eingestehen. Er hätte nämlich Verständnis, Nachsicht und Mitleid, aber keine Verurteilung gesehen. So werden die Behauptungen von Götz Aly von anderen als Verblendung gesehen. Er gilt sozusagen in dem, was er sieht, als ein blinder Seher.

 

Kommen wir zu dem soeben Ödipus gegenüber erwähnten Mitleid. Im Größenbild ist Mitleid eine bloßstellende, verletzende und somit inakzeptable Tatsache. Im Mitleid kommt die Schwäche im Auge des Gegenübers zum Ausdruck. Bei vielen Leidenszuständen wie in Krankheiten führt deshalb das Mitleid, so paradox es klingt, zu einer weiteren psychischen Verletzung und kann kränker machen. Deswegen stehen viele Leidende und Kranke ihre Befindlichkeit nach außen tapfer durch, wobei sie durch ihre Überforderung umso kränker werden.

 

Die Größe, Tapferkeit oder Stärke muß jedoch nicht nur ein Anspruch an die eigene Person sein, sondern kann auch von außen herangetragen werden, oft schon in der Kindheit, so daß nur Größe, Stärke und Erfolg erwartet und Mitleid für Schwächen vom Umfeld abgelehnt wird. Sollte er/sie Schwächen zeigen, bedeutet das für ihn/sie eine massive Entwertung in den Augen des Umfeldes. Derjenige hat in seiner Schwäche im Größenanspruch keinerlei Geborgenheit, Aufgehobensein und Empathie zu erwarten, ist also ein Opfer seines Umfeldes und oft in seiner Rolle völlig überfordert. Für die Nazi-Größen wie Hitler waren derartige Größenansprüche möglicherweise schon in ihrer Kindheit, sicherlich aus Teilen der Nation, dem Teil der Entwerteten und Entrechteten, gültig. Aus den Außenansprüchen, denen sie gerecht zu werden versuchten, wird ein Teil ihrer Wut und ihres Hasses entstammen, der wiederum auf Sündenböcke umgeleitet werden mußte. Diese starke narzißtische Gratifikation stellt eine Verführung dar, die das Opfer der Größe und Stärke weiter auf diesem Weg gehen lassen wird.

 

Im allgemeinen wird der Mensch wie in jedem staatlichen Rechtssystem an seinen Taten und Handlungen gemessen. Umstände, Einflüsse, schwere Traumatisierungen in der Kindheit der Naziverbrecher, Weltwirtschaftskrise spielen eine geringere Rolle. Bei dessen Berücksichtigung hätten die Naziverbrecher eher Mitgefühl verdient, auch für ihre verleugnete Scham und Schuld. Im Angesicht ihrer Verbrechen ist das jedoch kaum möglich. Sie waren eben auch Opfer ihrer Umstände und machten in ihrer wahnhaften Exkorporation andere zu Opfern. Dadurch wurden die ursprünglichen Opfer zu Tätern. In ihrem Größenwahn würden sie sich gegen jedes Mitleid wehren, denn dies stellt ihre Schwäche und Hilflosigkeit, also die Scham und Peinlichkeit bloß. In dieser Abwehr des Mitleids und der hintergründigen Scham sehen wir ebenfalls Hintergründe für das Schweigen. Wir versuchen zu verstehen, warum das alles geschah, das heißt nicht, daß wir die grausamen Greueltaten entschuldigen oder gar akzeptieren. Verstehen wollen und Akzeptanz werden oft verwechselt.

 

Die Maßlosigkeit und das Elitedenken des dritten Reiches kommen in der aktuellen Diskussion in den maßlosen und schamlosen Managergehältern und in der schamlosen Steuerhinterziehung der sowieso schon Reichen zum Ausdruck und leben dort fort. Die Wirtschaftselite erhebt sich in ihrem Rechtsempfinden auf Kosten der Nation über alle Rechtsstandarts hinweg. Ihre Abwehr von Scham arbeitet Hand in Hand mit der politischen Elite zusammen, die ihnen den gesellschaftlichen Überflug durch großzügige Gesetzesanwendung erst ermöglicht hatte. Diesen Maßlosen fehlt das Bewußtsein des Ausgleichs innerhalb einer Gesellschaft, in der sie reich geworden sind, dieser ihren Anteil zurückzugeben, sie zu fördern, um weiterhin an diesem System zu profitieren. In ihrer materiellen Gier untergraben sie langfristig das System, beziehungsweise versuchen, das Steuervolumen auf dem Rücken der Armen zu kompensieren, so daß die ungerechte Einkommensschere immer weiter auseinanderklafft.

 

Scham, Schuld, potentielles Mitleid, das Überleben und das Größenbild, wie auch deren kollektive Verbreitung sind also die Hintergründe für die Mauer des Schweigens, Verdrängens und Vergessens. Diese Mauer versuchten die 68er lautstark – die Lautstärke und das Kämpferische wurden noch durch das Nichthörenwollen der Vorgeneration verstärkt - zu durchbrechen und ihre Väter zu einem Eingeständnis ihrer Schuld zu bewegen. Im Sinne der Übernahme von Schuld und somit der Kollektivschuld wehrten sie sich, da sie noch nicht geboren und unbeteiligt waren, versuchten, Grenzen einzuführen, die Schuld zurückzugeben, an den schuldigen Verursachern festzumachen und sich selbst dadurch zu entlasten. Dabei haben sie ihren Kampf und Protest gegen das Wirtschaftswunderland, zu dem in ihren Augen Deutschland verkommen war, auf den nackten Imperialismus, mit dem der Kapitalismus durch Asien stürmte, auf den kalten Krieg und den Zustand der Welt ausgeweitet. Die Rote Armee Fraktion (RAF) entstand aus dem moralischen Anspruch evangelischer Pfarrerhäuser.

 

Bei einigen besonders traumatisierten Mitgliedern unserer heutigen Gesellschaft, den Rechtsradikalen und Ultrarechten, führt dies sogar zu einer Verleugnung der Verbrechen als „Auschwitzlüge“; in ihnen leben die wahnhaften Größenbilder der Stärke fort. Die Geschichte der Aufarbeitung der Naziverbrechen und des Holocaust wird dadurch eine wechselvolle zwischen Verdrängung und Aufklärung. Aufklärung geschah etwa im Auschwitzprozeß oder der fiktiven, eindrucksvollen, vierteiligen Fernsehserie über den Holocaust und eine jüdische Familie „Die Geschichte der Familie Weiß“. Aber diese Aufklärungsbemühungen sind an weiten Teilen der Bevölkerung vorüber gegangen. Dazu trägt bei, daß durch die Erziehung und Prägungen auch die Verleugnung in die Köpfe eingepflanzt wurde, am meisten gerade im unmittelbaren Umfeld der Naziverbrecher. So trat eine Spaltung auf, daß die einen in der Nachkriegsbevölkerung erinnerten und ermahnten, gerade die, die am wenigsten in Verbrechen einbezogen waren, und die anderen Verstrickten verleugnen. Viele Mitglieder der Nation verspüren diese Verblendung mehr oder weniger als Leerstelle in ihren Köpfen, in dem es ihnen außerordentlich schwer fällt, die Greuel zu realisieren und das Entsetzen zu spüren. Dann hilft nur, immer wieder über die Medien zu konfrontieren und zu erinnern.

 

Viele in der Bevölkerung haben es satt, sind überdrüssig, immer wieder mit den „alten Kammellen“ belastet zu werden. Vor allem die jüngere Generation sagte und sagt sich „Wir haben doch nichts damit zu tun! Warum sollen wir uns das immer wieder anhören!? Die Dinge sind geschehen, lange vorbei. Heute ist eine andere Zeit.“ Die Mahner stoßen mit dem Hinweis, daß Kriege, Verfolgung und Terror überall in der Welt aktuell sind und jederzeit erneut auch in Mitteleuropa auftreten können und man sich die historischen Geschehnisse deswegen immer wieder vor Augen halten müsse, auf taube Ohren.

 

Sind es die Geschehnisse selbst? Nein, die Hintergründe führen zu den grausamen Verbrechen an Menschen und diese müssen erkannt und beseitigt werden, auf deren Boden erneut jederzeit Greueltaten entstehen können. Die Geschehnisse sind tatsächlich vorbei, sind Geschichte, aber manche Hintergründe sind noch aktuell und dort liegt die Gefahr. Dort muß angemahnt werden und liegt manches im Argen angesichts der Hetze gegenüber kriminellen ausländischen Jugendlichen, angesichts von Rechtsradikalen und der Wirtschaftsausbeutung armer Länder, so daß deren ohnmächtiger Terrorismus auf uns zurück schlägt. Aber das ist ungleich schwerer einzusehen und gesellschaftlich aufzuarbeiten als zu stigmatisieren, schärfere Gesetze zu erlassen und die Grenzen abzuschotten. In weit geringerem Maße als bei den Nazis findet erneut wiederum eine Exkorporation eigener Handlungen statt.

 

Weitere Faktoren kommen hinzu: Die Väter und Autoritäten, auch alte Nazis saßen trotz Entnazifizierung nach dem Kriegsende wieder an den Schaltstellen von Wirtschaft und Politik Ihre Fähigkeiten wurden beim Wiederaufbau gebraucht, sie hatten ihre Positionen und Einstellungen den neuen Verhältnissen in einer sich westlich konstituierenden Welt gegen den Kommunismus angepaßt. Man könnte auch von Wendehälsen sprechen. Von ihnen waren die Kinder autoritär im Gehorsam geprägt, und konnten es nicht wagen - bis auf einige Studenten, die heftig bekämpft wurden - aufzubegehren. Diese gerieten mit ihrem für sie berechtigten Protest noch dazu in einen Loyalitätskonflikt, sozusagen Verrat an ihren eigenen Wurzeln zu begehen. Zwar hatten die Väter versagt, aber mit amerikanischer Hilfe erfolgreich ein Wirtschaftwunder aufgebaut, so daß für die Masse der Bevölkerung die Voraussetzung des wirtschaftlichen Elends und des daraus resultierenden Aufbegehrens fehlte. Die Deutschen waren wieder wer und in Identifikation mit den Vätern fühlte sich die saturierte Jugend ebenfalls als wer. Außerdem wäre die Wahrnehmung und Aufarbeitung der katastrophalen Scham und Schuld der Väter für diese Jugend in den Fünfzigern zu vernichtend gewesen, so daß die zusätzlich im Gehorsam erzogenen Söhne eine echte Revolution nicht wagen konnten. Es wäre Vatermord gewesen.

 

Wir reden ständig von den Vätern, sie sind und waren entsprechend einem patriarchalischem System überwiegend im Vordergrund die Handelnden, oft als verlängerte Arme der Mütter. Die Mütter sind und waren im Hintergrund genauso beteiligt und wurden auch deswegen von den Nazis verehrt. Ohne sie funktioniert das ganze System nicht, auch nicht das nationalsozialistische System. An dieses System des Schweigens müssen sich alle halten. Kritik und Bloßstellung gefährden dieses System und werden deshalb vehement bekämpft. Die Kritiker gelten als Störenfriede, Nestbeschmutzer und Verräter. Und wer will schon als ein solcher gelten?

 

Da diese Menschheitsverbrechen Folge von schweren kindlichen Traumatisierungen und wirtschaftlichen Umgebungsfaktoren sind, denen sich kaum ein Mensch trotz größter Bemühungen entziehen kann, - im Gegenteil die Bemühungen und Gegenreaktionen verschärfen oft noch das Problem, da sie die Gründe bestätigen – können wir nicht mit Sicherheit wissen, ob wir damals nicht ähnlich reagiert hätten wie unsere Väter und Mütter. Sicher sind einige überzeugt, daß sie sich aufgrund ihres gefestigten Weltbildes nicht in die Greueltaten und in die ängstliche Schweige- und Verschweigehaltung hätten einbeziehen lassen. Günter Grass, der unentwegte Mahner, brauchte unendlich lange, sich selbst auch infolge seiner Verblendung und zu recht im Angesicht der Moralisten, der Nation seine Faszination vom Militär und seiner Meldung zur Marine - dadurch geriet er in eine mehr zufällige kurzfristige Waffen-SS-Zugehörigkeit - einzugestehen. Er ist ein gutes Beispiel des Wechselspiels von Verdrängung und Aufarbeitung. Infolgedessen könnten manche meinen, daß schon ein gerütteltes Maß an Realitätsverzerrung und Selbstgerechtigkeit dazu gehört, trotz sechs Millionen Judenermordungen mit Empörung und Entrüstung zu reagieren. Sigmund Freud sprach von einem menschlichen Todestrieb, meinte damit aber einen individuellen. Wir führen die gemeinsam verübte vernichtende Aggression des Deutschen Reiches gegenüber zu ‚Sündenböcken’ und ‚Ausgegrenzten’ Gemachten auf die nach dem ersten Weltkrieg zerrütteten gesellschaftlichen Verhältnisse, die frühkindlichen Prägungen in einer inhumanen obrigkeitsstaatlichen Erziehung und die negativen Wirtschaftsfaktoren zurück. Zwangsläufig allerdings waren diese Schandtaten nicht, sondern von den Herrschenden und ihrem Anhang selbst gemacht.

 

Deswegen konnten nach dem Aufbegehren der 68er weitere Schritte einer fundierteren Aufarbeitung der nationalen Schuld und ihrer Ursachen erst nach dem Tod der meisten Schuldigen, also erst 50 bis 60 Jahre später erfolgen. Dann ist niemand mehr aktuell zu beschämen, hat seine Schuld ins Grab mitgenommen, aktuelle Konflikte wie Loyalitätsverrat können nicht mehr stattfinden. Aber leider sind die alten oben beschriebenen Mechanismen infolge der Einprägungen weiter aktuell. Die Untaten der Väter fallen als Schatten auf ihre Kinder. Die Toten greifen noch im Grab nach ihren Kindern. Aber die Schatten haben auch aufgrund des zeitlichen Abstandes nicht mehr die Kraft einer lebenden Person - oder ist das eine Illusion? -, so daß neue Chancen der Aufarbeitung entstehen.

 

Die vorübergehende Faszination der Nazis durch Macht und Erfolg für eine traumatisierte Generation, der früheren Söhne und späteren Väter, war in einem Wahn und der Katastrophe geendet. Nur hatten sich später während des Wirtschaftswunders die Voraussetzungen geändert. So blieb die Revolution trotz der von den Vätern mit umgekehrtem Vorzeichen übernommenen Rhetorik bis auf einige Aufsehen erregende Radikale wie die Rote Armee Fraktion und die revolutionären Zellen in der psychologischen Befreiung stecken. Das war wahrscheinlich auch gut so. Viele protestierenden Rädelsführer wie Joschka Fischer oder Daniel Cohn-Bendit reihten sich später ins Establishment ein, gegen das sie früher protestiert hatten, und machten dort ihre bürgerlichen Karrieren. Die partielle psychologische und emanzipatorische Befreiung der 68er im Alltagshandeln, auch in der Frauenbewegung, hat dank der 68er einen bleibenden Wert. Sie hat die Republik entmufft und erfrischt, neues Denken und Handeln, neue Lebensformen vermittelt, so daß man von einer emanzipatorischen Kulturrevolution sprechen kann, wie Peter Grotian, Wolf-Dieter Narr und Roland Roth beschreiben. Das ist der gravierende Unterschied der beiden „Befreiungs“Bewegungen. Die eine endete im Untergang und einer geistigen und emotionalen Knechtung, die andere in einer Kulturrevolution. Sicher spielten auch die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen eine entscheidende Rolle, die 1968 in einer prosperierenden Gesellschaft als Gerechtigkeitsdiskussion geführt wurden, da Armut in den Köpfen immer noch mit persönlichem Versagen und Entwertung verbunden wird, wie das Versteckspiel mancher Arbeitslosen und deren finanzielle Bestrafung offenbart.

 

Oder ist vielleicht doch etwas an den Thesen des amerikanischen Psychohistorikers Lloyd de Mause dran, der annimmt, jede Nation unterliegt regelmäßigen Zyklen, in denen sich Konflikte so zu Krisen zuspitzen, daß sie einer Aggressionsabfuhr bedürfen, meist nach außen in Kriegen, manchmal auch nach innen als Revolution?. Er ist Autor zahlreicher Bücher über die Entwicklung der menschlichen Psyche als Ergebnis von Kindererziehungspraktiken im Laufe der Geschichte und hat Projekte initiiert, Mütter nach der Geburt zu unterstützen und Problemfamilien in Kindergärten zu beraten. (Vor anderthalb Jahren wurde er zu einem Vortrag von der Industrie- und Handelskammer in die Frankfurter Börse eingeladen, wo jemand erkannt hatte, wie wichtig für die wirtschaftliche Entwicklung die frühkindlichen Entwicklung ist.) Für ihn hängt es dann vom Staatsoberhaupt ab, ob diese Kriege tatsächlich geführt werden, also diese wahnhafte Exkorporation in Feindbildern stattfindet, oder als symbolische Kriege stattfinden und nur so getan wird als ob. Für die amerikanischen Präsidenten gibt er an, in der Kindheit schwer Traumatisierte wie die Bushs und Reagan führten Kriege, Eisenhower dagegen tat als Folge einer weniger traumatisierenden Kindheit nur so als ob und ließ in Cuba die Soldaten mit Drohgebärden aufmarschieren. Eine derartige Krisen- und Kriegsstimmung zeichnet sich schon vorher nach seiner Darstellung in den Medien ab, wo Stärke gefordert wird, oder ansonsten die Präsidenten als „Weicheier“ oder ähnliches beschimpft werden. Zu einer derartigen Krisenstimmung, die zu Kriegen oder Pogromen führen könnte, ist dann offenbar bei uns die Zeit noch nicht reif, dazu wohl noch der Leidensdruck zu gering und die Wirtschaft prosperiert noch zu stark.

 

Trotzdem, Scham und Schuld, Grenzverletzungen, Mitleid und Maßlosigkeit leben fort. Wenn sie sich auch nicht aktuell in Krisen und Revolutionen in Mitteleuropa äußern, machen sie sich subtil in vielen Bereichen bemerkbar, vor allem im Krankheitswesen.

 

Inzwischen haben sich durch die Globalisierung die Rahmenbedingungen verändert, die neue Lösungen erfordern, damit wir alle nicht in dem neuen, selbst geschaffenen Mief ersticken, wobei der alte Mief uns natürlich noch nachhängt.

 

Weiterführendes ist in den mythischen Übersetzungen auf den Alltag in der Ödipussage und biblisch in der Schöpfungsgeschichte und Heiligen Familie und den Artikeln über die Psychotraumatisierung, das Gesundheitswesen, Schmerz und Empathie und die Fibromyalgie zu finden. Im Archiv: Unter Suchen „Bernd Holstiege“ eingeben.

 

Autor: Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 28.02. 2008

Foto: © Weltexpress

Verwertung: Weltexpress

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 28.02. 2008