17. September 14 , 10:31
Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
Dieser Zwang regierte ihn innerlich, da er ihn sich zu eigen gemacht hatte,
und gleichzeitig musste er wütend auf die Objekte sein und sie von sich
fernhalten, ein Leben lang fernhalten und nicht zu merken, dass sie schon drin
sind. Das Fernhalten führte mangels Alternativen, z.B. durch eine positiv
besetzte Bezugsperson, mit der er gute Erfahrungen hatte, also zu einer
inneren Einsamkeit, zu einem Objektverlust. Die Schmerzen machten ihn darauf
aufmerksam, dass irgendetwas in ihm los sei. In ihnen bewahrte er sich, sie
bildeten den Kern seiner Identität, der Selbstbewahrung- und Selbstbehauptung.
Ihm war außerdem in doppeltem Sinne die Selbstwahrnehmung abgesprochen worden"
du bildest dir das ein, reiß dich zusammen", einmal aus seiner Sicht
wahrzunehmen, was mit ihm geschieht und gemacht wird, zum anderen seinen
Protest und seine Autonomie wahrzunehmen. Die unterdrückte Wut und der Hass
auf die Anderen, noch mehr auf sich selbst, verhinderten zusätzlich, all das
wahrzunehmen und machten ihn sozusagen blind, eine Seelenblindheit sich selbst
gegenüber. Auf die unbewusste Ebene war es verlagert worden, da es für ihn
selbstverständlich war, er es gar nicht anders kannte.
Nun war es den Eltern in ihrer Kindheit auch nicht besser als ihm ergangen.
Sie hatten traditionell die gleichen Werte und Zwänge verinnerlicht. Es
bestand also eine Gemeinsamkeit in der Selbstwahrnehmung, der
Selbstbehauptung, den Zwängen und in der unterdrückten Wut, deren Ausbruch
jederzeit befürchtet werden konnte. Tritt sie doch mal auf, muß sie sofort
besänftigt werden, alles wieder gut sein. Das ist wie ein schützender Kokon,
deswegen hatte er über einen Tunnelblick berichtet. An der gemeinsamen Sache
hätte er durch die Selbstfindung dadurch in ihren und seinen verinnerlichten
Augen Verrat begangen. Er wäre sozusagen ein Deserteur gewesen oder einer
Ratte, die das sinkende Schiff verlässt. Eine Ratte wollte er nicht sein, er
wollte nach den verinnerlichten Maßstäben der Gute sein, alles auf einer
unbewussten, später bewußteren Ebene.
Es verband also die ganze Familie eine Gemeinsamkeit, eine Gleichheit in den
Werten, den Zwängen und der Wutunterdrückung, und eine Veränderung, ein
Anderssein hätte eine Ungleichheit und Ungerechtigkeit bedeutet. Er hätte es
nämlich in Autonomie und Freiheit viel besser als seine Eltern gehabt, und die
Gleichheit und Gerechtigkeit, das Wichtigste, die Grundlage des Menschen und
im zwischenmenschlichen Bereich, wäre verloren gegangen. Eine Therapie, das
Hin- und Erarbeiten seiner Autonomie, seiner Selbstbehauptung und
Selbstwahrnehmung bedeutet einen solchen Verrat, das Verlassen seiner Wurzeln
und eine Emporsteigen in ungeahnte Höhen.
Das sind alles von ihnen angenommene Realitäten, alle verhalten sich real nach
diesen Bildern. Aber als ihm deutlich wurde, es waren Bilder und nur seine
Ängste, verloren sie ihren Realitätscharakter. Das verschaffte ihm eine große
Erleichterung. Er nahm aber auch seine Sperre wahr, daß es so bleibt, weil er
langjährig so viele Opfer gebracht hat und sein gesamtes Weltbild zerbrochen
wäre. Gegen Veränderungen versperrt er sich auch körperlich. Seine ganze
Familie hat auf dem Altar der Ängste und der Harmonie sich aufgeopfert. Dann
sagt er lieber, er verstehe das alles nicht. Das brauche er, erzählt er heute,
um seine kindliche Unschuld zu bewahren, die Schuldzuschreibung abzuweisen und
dass keiner merken soll, dass er böse ist. Andererseits hofft er immer noch
wie ein Kind, dass die Mutter es wieder gut macht, ungeschehen macht. Wenn er
sie jedoch anguckt, dann sieht er immer noch ihren schmerzvollen Blick, und
die körperliche Abneigung gegenüber ihr richtet sich gegen ihn selbst.
Mit diesen verinnerlichten Bildern trat er in die Schule und kam in die
Pubertät. Dort fühlte er sich als Außenseiter. Erst war er als werdender Mann
böse, jetzt in den Augen der anderen ein Braver, ein Schwächling,
Muttersöhnchen, Schlappschwanz. Sogar die Mutter merkte, dass mit ihm etwas
nicht stimmte, und puschte ihn, endlich mit den Mädchen, an die er sich nicht
rantraute, etwas anzufangen. Er verstand die Welt nicht mehr, was vorher galt,
galt jetzt nicht mehr, und musste so tun als ob, da er sich zu sehr schämte,
wie er ist, immer in der Angst, der wahre Kern werde entdeckt und bloßgestellt
(Schamangst). Die Gleichheit in der Familie war zu einer Ungleichheit in der
Altersgruppe geworden. Die neuen Regeln standen in Widerspruch zu den alten.
Was vorher bös war, war jetzt gut. Aber er musste auf der inneren Ebene um
Gerechtigkeit kämpfen, nämlich dass er recht hatte. So setzte sich der Kampf
gegen die Gleichaltrigen in der Peergruppe und gegen die Eltern fort.
In der biblischen Schöpfungsgeschichte, dem Urmythos aller Christen, ist
dieser Zusammenhang in einer Parabel sehr schön dargestellt. Das Essen von
einem Apfel, ein erotisches Symbol, war von Gott mit der Vertreibung aus dem
Paradies, das heißt zur Nähe Gottes, und der Erbsünde für alle Zeiten bestraft
worden. Das bedeutete, vom Baum der Erkenntnis und frevelhafte Gottgleichheit.
Gott nahm für sich in Anspruch, dass niemand seine Erkenntnisse haben und
dadurch ihm gleich sein durfte. Genauso wenig darf das Kind seinen Arm gegen
die Eltern erheben und ihnen widersprechen, eigene Erkenntnisse vertreten,
denn dann würde es gleich sein. Wenn sich muslimische Mädchen sexuelle
Freiheiten herausnehmen, die sich andere nicht herausnehmen, die Männer
allerdings schon, werden sie u.U. mit dem Ehrenmord bestraft.
Die Macht der Gleichheit und Gerechtigkeit wurde also von Gott durchbrochen.
Er hatte mehr Rechte als die Menschen. Deswegen ist er ja auch ein Gott. Gegen
ihn aufbegehren, wurde mit der Erbsünde bestraft. Bei der biblischen
Schöpfungsgeschichte handelt es sich allerdings um eine Parabel für die
traumatisierte Familie. Die Vorgeschichte von Gott ist nämlich im Dunkeln,
genauso wie die Eltern über ihre Vorgeschichte nicht berichten, und warum sie
die Gebote und Verbote setzen. Es ist ja auch nur eine Parabel, wenn auch oft
genug daran geglaubt wird. Die Eltern erheben zwar für sich den Anspruch, die
Normen zu setzen, also nach dem Gleichheitsgrundsatz ungerecht zu sein, aber
sie unterliegen selber den Normen. Die Kinder werden auch meistens Eltern.
Darin sind sie wieder gerecht, und nur eine Ratte verlässt das sinkende Boot,
wobei das sinkende Boot die traumatisierte Familie darstellt.
An der Grenze, all diese Regeln und Normen zu glauben, nach dem Glauben wird
sich auch verhalten und somit der Glaube als Realität bestätigt, entsteht die
Scham und die Angst vor der Scham. Zur Abwehr der Scham wird auch besonders
intensiv auf den Normen beharrt, soweit sogar, dass sie von einem Gott kommen
und Gesetze Gottes sind. Aber der Einzelne kann gar nichts dafür, ihm wurden
sie schon von Kindesbeine sozusagen mit der Muttermilch eingeflößt und
bestimmen ihn ein Leben lang.
Nachträglich kann er die Normen allerdings in das Reich der Phantasie
verbannen, nachträglich sie als Bilder, seinen Glauben - Glauben heißt
landläufig Nichtwissen – und Einstellungen anerkennen. Bilder sind ein Abbild
der Realität, aber nicht die Realität selbst. Das schafft eine ungeheure
Erleichterung, siehe obigen Patienten. Freiwillig, nicht unter Zwang, Zwang
verschafft Opposition und eine Machtkampf, wenn auch vielfach auf der unteren
Ebene, würde er viele Regeln anerkennen z. B. dass sein Recht an der Grenze zu
anderen aufhört, diese auch ihre Rechte haben. Er hat trotzdem sich mit den
vielen auseinander zu setzen, die vermeintlich die Wahrheit gepachtet haben,
den Rechthabern, die im Besitz ihrer Form der Gerechtigkeit sind. Sei haben
auch ein Lebensrecht, das beinhaltet eine Achtung ihrer Gerechtigkeit.
Die Wahrheit ist nämlich eine relative Größe und nicht eine absolute. Sie ist
abhängig vom Standpunkt 1. des Beobachters, vom 2. beobachteten Gegenstand
oder Menschen, also 3. der Perspektive, 4. vom Interesse, nach denen die
Wahrheiten geformt werden, und 5. vom jeweiligen Zeitpunkt. Zu verschiedene
Zeitpunkten hat Bewegung statt gefunden, und die Wahrheit sieht anders aus.
Aber das erkläre mal einem Fundamentalisten, der von einer ewigen,
immerwährenden Wahrheit ausgeht. Ein differenzierter Mensch wird auch
anerkennen, dass es mit der Wahrheit so eine Sache ist, es folglich keine
absolute Gleichheit und Gerechtigkeit geben kann, genauso wenig wie ein Mensch
dem anderen im absoluten Sinne gleicht.
Die Überschrift gilt also für die traumatisierte Familie. Dieser Patient war
schwer traumatisiert, wenn diese Tatsache auch nicht so leicht zu erkennen
war. Aber seine Therapie dauert sehr lange, bis er zu diesen Erkenntnissen und
Einsichten kommt. In anbetracht von 2 Weltkriegen mit Millionen Toten, einem
Genozid an den Juden und anderen Gruppen, zerstörten Städten und unendlich
viel Leid sind wir alle mehr oder weniger traumatisiert. Die Bevölkerung hat
das alles mitgetragen, da sie vorher schon traumatisiert war, und über Jahre
geschwiegen, da sie sich schämte. Ich erinnere nur an die Schreber’sche
erzieherische Devise „der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen“, und
das war nur eine Folge von früheren Verletzungen. Die Folgen haben wir alle zu
tragen und zwar über die gesamte Krankheitspalette und in erneuten Konflikten.
Dabei haben wir es noch relativ gut in anbetracht von noch größeren
Konflikten, die wiederum auf uns zukommen werden.