07. January 12 , 03:41
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Der Psychoanalytiker und Vordenker, neben Gottstein der große alte Mann der deutschen Friedensbewegung, ist nach kurzer, schwerer Erkrankung am 19.12.2011 im Alter von 88 Jahren in Gießen gestorben. Er galt als Wegbereiter der psychoanalytischen Familienforschung und Familientherapie und hat mit seinen Arbeiten über die Psychosomatik die Entwicklung der Psychoanalyse in Deutschland entscheidend beigetragen.
Laut der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth
habe Horst-Eberhard Richter nicht nur zu der kleinen und exklusiven Reihe
von Wissenschaftlern gehört, die das „Innerste“ der Menschen erforscht
haben. Es sei ihm auch gelungen, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten,
in dem sie sich selbst erkennen und aus dieser Erkenntnis lernen können.
Dazu sei er mit seinem Wissen nicht im akademischen Elfenbeinturm
verblieben, sondern habe es in die Gesellschaft hineingetragen. Neben
anderen Auszeichnungen hatte ihn die Stadt Frankfurt am Main, in der er
von 1992 an ein Jahrzehnt das Sigmund-Freud-Institut leitete, 2002 mit der
Goethe-Plakette ausgezeichnet.
Bei den persönlichen Begegnungen habe ich seine wohlwollende und
warmherzige Haltung kennen gelernt. Wie jeder Mensch hatte er natürlich
verschiedene Seiten. Als ich 1972/73 an einer psychosomatischen Klinik in
Berleburg arbeitete, fuhr ich mehrere Semester nach Gießen zu Seminaren
über Familientherapie und –dynamik unter Leitung von H.E. Richter. Über
sein erstes Buch „Eltern, Kind, Neurose“ war sein Ruf und seine Denkweise
zu mir gelangt, die meinen Horizont erweiterten und die ich weitgehend
teilte. Ich wollte ihn unbedingt erleben. In seinem Seminar zeigte er
Filme über Ausschnitte von Familientherapien, die anschließend gemeinsam
besprochen wurden, und ließ uns in Rollenspielen thematisch kurz
umrissene, typische Familiensituationen spontan spielen.
Ein Rollenspiel ist mir noch nachhaltig und denkwürdig in Erinnerung. Es
gab mir Aufschluß über meine Person, die Person von H.E. und verbreitete
gesellschaftliche Verhältnisse.
Die Situation war: Vater, Mutter, 15 jährige Tochter und 12 jähriger Sohn.
H.E war der Vater, ich der Sohn und eine Studentin meine ältere Schwester.
Das Familienproblem war, meine Schwester trieb es mit den Jungens, an sich
altersgerecht ganz normal, für diese streng moralische Familie jedoch ein
Problem. Die Mutter war zwiegespalten. Einerseits musste sie im Moralsinne
dagegen sein, andererseits dachte sie an sich selbst zurück, gönnte ihrer
Tochter die Freiheit und sah sich wohl selbst ein Stück in ihr. Ich selbst
dachte spontan daran, in ein paar Jahren bin ich auch soweit, und wollte
für meine Schwester in die Bresche springen. Da traf mich von der Seite
ein wohlwollend-strenger Blick meines Vaters „Du willst doch nicht
etwa…!?“ – und ich schwenkte spontan total im Sinne der Moral um, zog mit
lauter Allgemeinsätzen vom Leder und machte mit diesen meine Schwester
fertig. Ich hatte ein doppeltes Machtgefühl, mit der Moral die Macht in
der Familie in den Händen zu tragen, als Jüngster der Stärkste zu sein.
Gleichzeitig entwarf ich in meiner Zukunftsaussicht, doch später irgendwie
mein Schäfchen ins Trockene zu bringen und immer zu wissen, was andere
böses anstellen, um diese zu verurteilen – also eine typische Doppelmoral
zu verwirklichen.
Diese meine Situation ist die mancher katholischer Priester in ihrem
Verhältnis zu Frauen, Kindern und der Beichte, wie ja zunehmend heraus
gekommen ist. Ich bin ja katholisch erzogen, war Ministrant, überlegte
sogar mal kurz, katholische Theologie zu studieren. Aber die Mädchen waren
mir wichtiger.
Als wir am Ende der Seminarstunde hinaus gingen, traf mich ein böser Blick
der Studentin. Sie sagte zu mir „genau das habe ich früher auch gehört und
bin deswegen mit 15 ausgezogen!“ Ich dachte mir, anscheinend wird in
vielen Elternhäusern exakt dasselbe geredet. Mehrere Monate später traf
ich H.E. auf der Kliniktreppe. Er sprach mich an, und ich fertigte ihn
höchst unhöflich in einem Satz ab. Anschließend machte ich mir fast
entsetzt Gedanken „warum eigentlich…?“ und kam darauf, ich war ihm noch
immer wegen der Verführung zum Selbstboykott böse. Dann machte ich mir
Gedanken, was so alles in mir steckt, die Moral und Doppelmoral, die Sätze
und vor allem, um das Wohlwollen meines Vaters zu erringen, war ich zu
allem bereit, sogar meine eigenen Interessen, zumindest halb, aufzugeben.
Andererseits meine ich noch heute, einen moralischen Nerv von H.E
getroffen zu haben. Deswegen setzte er sich so aufopferungsvoll für
zahlreiche gesellschaftskritische Projekte ein wie den Giessener
„Eulenkopf“, die Ärzte gegen den Atomkrieg, die Friedensbewegung, schrieb
sozialkritische Bücher, hielt der Gesellschaft den Spiegel vor und hatte
als attraktiver Mann für die Frauen auch noch Zeit – ein Tausendsassa oder
ein Hans Dampf in allen Gassen. Seine Moral sehe ich nicht nur als Folge
seiner verinnerlichten Familienmoral, sondern auch als Folge seiner
schlimmen Kriegserlebnisse und der Ermordung seiner Eltern.
Allerdings merkte ich weiterhin, ich hatte das Wohlwollen von H.E.
errungen, vielleicht durch die Übernahme dieser Moralrolle, der „brave“
Sohn zu sein, mein spontanes Schauspieltalent und meine
Selbstreflexionsfähigkeit. Da sie sich entsprachen, waren in den
Rollenspielen weiterhin Spiel und Wirklichkeit nicht zu trennen. Das Spiel
war auch ein Teil und Spiegel der Wirklichkeit. Sein Wohlwollen nutzte ich
1974, als ich Bedenken hatte, ob ich die Zusatzbezeichnung
„Psychotherapie“ bekomme, da ich in meinen Augen den Voraussetzungskatalog
nicht ganz erfüllt hatte. Ich bat ihn um ein Zeugnis. Das fiel so gut aus,
wie ich es von mir selbst nie erträumt hätte. Bald darauf zog er mich als
einzigen außerhalb des Mitarbeiterteams seiner Klinik zu einer
Fernsehreihe im SWF hinzu, in der derartige Rollenspiele spontan gespielt
werden sollten. Nach dem Spiel sollte jeder seine Befindlichkeit schildern
und dann das Ganze noch wissenschaftlich für den
Durchschnittsfernsehzuschauer verständlich aufbereiten. Nach
Zusammenstellung eines Teams machte H.E. anscheinend gekränkt selbst nicht
mehr mit, und seine Mitarbeiter waren froh, endlich mal etwas selbständig
ohne ihren Übervater machen zu können. Ich sehe mich noch heute in meiner
Rolle als Familienvater mit langen, pappigen Haaren und Pfeife. Da alle
wohl überfordert waren, blieb es bei einer Sendung. Ohne den Übervater
ging es wohl auch nicht.
Auf Tagungen und Kongressen der DAF (Deutsche Gesellschaft für
Familientherapie) oder der DAGG (Deutscher Arbeitskreis für
Gruppenpsychotherapie und Gruppendynamik), wo er federführend war, traf
ich ihn gelegentlich.1991 begegnete ich ihm auf einer Demo gegen den
Golfkrieg in Bonn. Er wusste sofort meinen Namen, obwohl wir uns lange
nicht gesehen hatten. Während seiner Zeit in Frankfurt als Leiter des
Sigmund-Freud-Instituts kreuzte ich dort nie auf, obwohl ich nicht weit
wohne, vorher und hinterher schon gelegentlich. Vielleicht war ich ihm
immer noch latent böse. Sicher spielte eine Vaterübertragung, d.h. die
Erfahrungen mit meinem Vater, eine Rolle, während ich meinem Vater längst
verziehen hatte, da ich seine menschlichen Schwächen auf dem Hintergrund
seiner eigenen Kindheitsprägungen sah. Mein Vater hatte ebenfalls Züge der
Doppelmoral in sich.
Vor wenigen Jahren mit über 80 hielt H.E. einen Vortrag beim FAPP
(Frankfurter ärztliche Psychotherapeuten), ein guter Vortrag, aber ohne
die frühere innere Wärme und das innere Leben. Er war ja auch schon über
80. In den Jahren in und nach der Studentenbewegung war er eine beliebte
Leitfigur, bei denen, denen er den ungeliebten Spiegel vorhielt, und bei
der Elfenbeinturmpsychoanalyse wohl weniger. Wir alle trauern um ihn.