Weltexpress international
30. November 14 , 18:58
Betrachtungen zum Begleitband "Haut ab! Haltungen zur rituellen
Beschneidung" der Ausstellung im jüdischen Museum in Berlin
Kategorie: Kultur, Feuilleton, Wissenschaft, Aktuell, Thema
© Wallstein
Der Begleitband zur Ausstellung bildet die gezeigten Objekte ab und
vertieft das Thema durch weiterführende Essays und literarische Texte. Die
Autorinnen und Autoren betrachten die Beschneidung aus unterschiedlichen
Blickwinkeln, gehen auf ihre Bedeutung in Islam und Judentum ein und
analysieren nicht zuletzt die Debatte nach der Verkündung des Kölner
Beschneidungsurteils im Sommer 2012. Es werden beispielsweise Skulpturen,
Drucke, reich bestickte Beschneidungsgewänder, Holz- und Kupferstiche,
Gemälde, Photographien und Beschneidungsbestecke gezeigt, die einen
hervorragenden Einblick in die jüdische Kultur und rund um die Beschneidung
ermöglichen.
Gerhard Langer gibt in seinem Essay" Zu einigen wichtigen Aspekten der
Beschneidung in der rabbinischen Tradition" einen guten Einblick. Vom Tod
ins Leben, von Moses und Abraham, vom Menschenopfer zur Beschneidung und als
Kämpfer gegen den Götzendienst, die Beschneidung als Opfer, die Abgrenzung
und Einbeziehung gleichzeitig bedeutet. Alfred Bodenheimer stellt in seinem
Essay "Ich glaube nicht an die Gutmenschen" die deutsche
Beschneidungsdebatte aus jüdischer Perspektive dar. Er stellt fest, dass
Juden durch diese schockiert und verletzt sind und den latenten
Antisemitismus empor keimen sehen, während die Muslime es eher als eine
unerfreuliche Fortsetzung der Sarrazin-Debatte sahen. llhan Itkilic stellt
in seinem Essay "Knabenbeschneidung und ihre Bedeutung für die muslimische
Religions-Praxis und Identitäts-Bildung“ die Beschneidung aus muslimischer
Sicht, und Thomas Lentes in seinem Aufsatz "der hermeneutische Schnitt, die
Beschneidung im Christentum" aus christlicher Sicht dar. Sander L. Gilman
schreibt in seinem Essay" Gesundheit, Krankheit und Glaube. Der Streit um
die Beschneidung" über die Beschneidung im Spannungsfeld zwischen Religion
und Wissenschaft, in der Medizin das Für und Wider und die ideologischer
Haltungen, und kommt zu dem Ergebnis, dass letztlich nichts die
Wissenschaft, sondern die kulturelle Akzeptanz darüber entscheidet, welche
Haltung vorherrscht. 70% der Amerikaner sind aus ihrer Meinung nach
gesundheitlichen Gründen beschnitten.
Der Psychoanalytiker Yigal Blumenberg schreibt in seinem Essay über
"Psychoanalytische Überlegungen zur Beschneidung in der jüdischen
Tradition". Er meint in Anlehnung an den Philosophen und Rabbiner Marc-Alain
Quaknin, die Beschneidung nimmt vom Menschen einen Teil, damit er die
Erfahrung eines Mangels macht. Das soll ihn dazu bringen, sich ständig zu
entwerfen und neu zu erfinden. Gerade durch die Anerkennung seiner
Unvollkommenheit, wird der Mensch also dazu getrieben, an der
Vervollkommnung der Schöpfung teilzunehmen.
Neben diesen größeren Essay sind noch kürzere unter anderem von Kafka über
die veraltete, historische und selbst erlebte Beschneidung und ein
“Selbstporträt“ von Jakov Lind „alles wäre in Butter, hätte er nur ein
bisschen mehr Haut“ zu lesen und nachzuvollziehen.
Das Ausrufungszeichen hinter "Haut ab!" lässt Assoziationen zum aggressiven,
imperativen Charakter der Beschneidung zu, etwa in dem Sinne " Du sollst es
auch nicht besser haben als ich!" – traumatisierte Eltern wollen schließlich
nicht nur das Beste für ihre Kinder, sondern aus Neid und Aggression etwas
Schlechtes - oder traurige Assoziationen über den Verlust der Vorhaut, ein
kleines Stück der Männlichkeit.
Die Juden waren in ihrer jahrtausende alten Geschichte immer, neben
friedlichen Zeiten, Verfolgungen und einer Ghettoisierung ausgesetzt. Das
hat traumatische und wiederum traumatisierende Folgen. Aber sie haben immer
ihre Identität gewahrt und sind nicht in den jeweiligen
Umgebungsbevölkerungen aufgegangen. Dazu verhalf ihnen eine strenge
Tradition der Abgrenzung, d.h. auch Gettoisierung, unter anderem der
Beschneidung. Das setzt sie wiederum Aggressionen und Entwertungen aus.
Gegen Traumatisierung muss ein Gegenbild der Unverletzlichkeit und
Vollkommenheit geschaffen werden, dass sie mit ihrer Tradition, Religion und
ihrem Zusammenhalt gewährleisten nach dem Motto "gemeinsam sind wir stark".
Die Erhebung zur Religion macht sie vermehrt im Sinne einer
Unhinterfragbarkeit unverletzlich. Schließlich neigen sich ungeliebt
Fühlende vermehrt zur Religiosität, um bei einem Gott Schutz und Trost zu
finden, ein Leben in einer Illusion.
Das aber schafft Aggressionen, Neid und Missgunst in der
Umgebungsbevölkerung, macht sie zu Projektionsfläche eigener
Unzulänglichkeiten und Defizite, wie die jüngste Geschichte des
vernichtenden Holocaust gezeigt hat. Geschichtliche Erfahrung graben sich
stark in das Weltbild ein und müssen immer wieder in der Zukunft gefürchtet
werden. Die Erfahrung größerer Bevölkerungsgruppen schlagen sich wiederum in
den Kleingruppen und im Einzelnen nieder. Die Kleingruppe, die Familie und
das Individuum sind sozusagen ein Spiegel der Großgruppe. Es trifft ja auch
jeden einzelnen, und jeder einzelne muss sich unverletzlich in religiöser
Überhöhung wappnen. Je mehr er grausame Erfahrung gemacht hat, desto mehr
muss er ein Gegenbild dagegen setzen. In einer Art tragischem Teufelskreis
zwischen Projektionsfläche der Aggressionen und dem Zusammenhalt in
ehrwürdiger Tradition bewahren die Juden ihren Erhalt, Zusammenschluß und
ihre Volksidentität.
Jeder Mensch wird in ein Umfeld hinein geboren, wo er durch den Glauben, die
Regeln, die Gebote und Verbote sozusagen symbolisch beschnitten wird. Jedes
Volk hat darin seine eigene Kultur mit vielen Gemeinsamkeiten und
Unterschieden. Hauptüberträgerin ist als in der frühen Kindheit
Hauptversorgende die Mutter. Es kommt nur darauf an, ob das Umfeld
hinreichend dem Kind Geborgenheit und Förderung zur Selbstständigkeit
gewährt, in dem es reifen kann. Im Falle von Traumatisierungen durch Kriege,
Verfolgungen, Vertreibungen, schwere Krankheiten und Gewalt ist dies nicht
mehr gewährt und schlägt sich in einer traumatisierten, zerbrochenen und
verletzlichen Identität nieder. Dann müssen die Eltern ihre Kinder
beschneiden, diese wiederum ihre Kinder strengen Geboten und Verboten unter
Strafandrohungen und Strafen aussetzen, die diese wiederum verinnerlichen.
Zur Tradition der Juden gehört über die seelische Beschneidung hinaus, den
Jungen nach 8 Tagen körperlich zu beschneiden, so daß er nicht mitsprechen
und –entscheiden kann. Das Elternrecht hat also Priorität gegenüber dem
Selbstbestimmungsrecht. Die Idee ist, gerade durch den körperlichen Mangel
kreativ zu werden, Vollkommenheit durch Unvollkommenheit. Als wenn er das
nicht ohne das könnte, falls er nicht allzu sehr seelisch beschnitten ist!
Wenn der erwachsene Sohn sein Eltern fragen würde, „habt ihr mich um
euretwillen oder um meinetwillen beschneiden lassen? Wenn ich gefragt worden
wäre, hätte mich nicht beschneiden lassen“. Wenn der Sohn schon so etwas
sagt, geraten die Eltern in Erklärungsnot, denn sie haben ihn um ihretwillen
beschnitten, ohne den Jungen zu befragen. Ein orthodoxer Jude käme erst gar
nicht auf die Idee, Eltern wie Söhne, so sehr sind sie in der traditionellen
Identität verfangen. Eine körperliche Beschneidung geht im Falle der
Orthodoxie mit einer seelischen einher. Aber Kreativität kann man dem
Judentum nicht absprechen. Das schafft ja gerade Neid im Umfeld. Die
Kindheit des Volkes ist also halbwegs gelungen, vielleicht, einiges spricht
dafür, wegen ihrer Tradition, die den Zusammenhalt gewährleistet und sie
gegen Verfolgungen wappnet.
In der Geschichte werden 2 Phasen erwähnt, wo aufgeklärte Juden von der
Beschneidung Abstand nahmen, einmal im Altertum, wo die hellenistische
Kultur der makellosen Schönheit, und schön ist ein unbeschnittener Körper,
den Zeitgeist bestimmte, und im 19. Jahrhundert, wo säkularisierte Juden
sich nicht mehr beschneiden ließen. Dieser Umstand wird im Begleitband als
Anpassung an die Bevölkerungsmehrheit dargestellt und nicht als autonome
Entscheidung. Nach der grausamen Erfahrung des Holocaust kehrten sie zu der
alten Praxis zurück. Das spricht für die Traumatheorie der Beschneidung,
nicht dass die Beschneidung selbst allzu traumatisch ist. Jetzt, da sie
einen eigenen Staat haben und sich nicht mehr gegen eine
Bevölkerungsmehrheit verwahren müssen, verhalten sie sich wie alle
traumatisierten Staaten.
Bei den Moslems sehe ich die Hintergründe, die zur Beschneidung bis zur
Pubertät führen, anders.
Im Zentrum sehe ich dabei die Unterdrückung bzw. die Nichtanerkennung der
Frau. Die Mutter hat aber die meiste Macht in der Familie und ihr Verhalten
ist prägend. Neben ihrem Stolz auf ihren Sohn ist sie in ihrer Ambivalenz
infolge der Unterdrückung auch neidisch und aggressiv gegenüber Männern.
Deswegen wird der Sohn beschnitten. Das ist so in das Kulturgut eingegangen,
dass es unhinterfragbar ist.
Aus Achtung gegenüber der jüdischen Kultur und Tradition und, um nicht in
den Geruch des Antisemitismus bei latent vorhandenem Antisemitismus zu
geraten, hat die Bundesregierung im Eilverfahren entgegen dem Gerichturteil
die Bescheidung unter bestimmten Vorraussetzungen zugelassen.
Der Begleitband ist lesenswert und die Ausstellung sehenswert, wenn er auch
von der jüdische Perspektive geprägt ist.
Von: Bernd Holstiege
Im sfbasar bisher 1 Kommentar
Montag 1. Dezember 2014 um 03:30
Also ich bin zu einem Drittel für die Beschneidung und das deshalb, weil dies, wie es im Artikel/Buchbesprechung deutlich wurde, eine Art Zusammenhalt und Affinität zu einer ganz bestimmten Gruppe/Volk ausdrückt/vermittelt.
Zu einem Drittel bin ich dagegen, weil ich meine, dass das Kölner Gericht mit seinem Urteil meinem Rechtsempfinden entsprach.
Das letzte Drittel, warum ich dagegen bin, bzw. womit dies von den Ausführenden legitimiert wird, zeigt die Story zum Thema am Ende des Beitrags. Die Länge einer Tradition kann NIEMALS ein Argument sein. Wie ja in der Story gut deutlich gemacht wurde von der Autorin und das Argument mit dieser adabsurdum geführt wurde.
Wie ist Eure Meinung dazu?