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09. November 11 , 22:17

 

Der ewige männliche Initiationsritus zwischen Ohnmacht und Macht, Viel - und Eindeutigkeit - über seine Ursachen und seine Folgen

 

Frankfurt am Main (Weltexpress) - Initiationsriten beim Übergang vom Knaben zum Mann sind in vielen Kulturen, vor allem in archaischen Kulturen und Stammesgesellschaften verbreitet. In unserer westlichen hoch entwickelten Kultur wird dieser Begriff weniger verwendet. Trotz vieler Gemeinsamkeiten hat jede Kultur ihre eigenen Bedeutungen von Männlichkeit. Der Drang, die eigene Männlichkeit zu beweisen, kann sogar lebenslangen Suchtcharakter annehmen.

 

Diesen Vorgang könnte man als den ewigen Initiationsritus bezeichnen. Der Unterschied ist, ich bin ein Mann oder ich muß es beweisen. Dieser Drang- bis zum Suchtcharakter lässt sich darauf zurückführen, dass diese Männer ihrer Männlichkeitsanerkennung zu wenig in sich haben und deswegen immer wieder erneut beweisen müssen. Es geht vordergründig um das narzisstische Selbstbild als Mann und dessen Anerkennung im Sozialraum, auf der tieferen Ebene um ganz andere Dinge, um Macht auf dem Hintergrund von Ohnmacht und Eindeutigkeit auf dem Hintergrund von Widersprüchlichkeit, Verwirrung und Zerrissenheit.

 

Dieser Männlichkeitsbeweis kann auf verschiedenen Wegen erfolgen, oft in mehreren Bereichen, die allesamt zu einer starken Belastung der Persönlichkeit und als Folge zu Krankheiten führen können. Männlichkeitsbeweise können Perfektionismus, der Status, der Erfolg im Leben, im Beruf, die oberen Etagen in der Hierarchie, Macht und Geld, dicke, schnelle Autos, im Bett als guter Liebhaber oder in der hohen Potenz, sogar andere unter den Tisch zu saufen oder ein Sportass zu sein. Sogar der männliche Bauch kann ein Statussymbol sein "ein Mann ohne Bauch ist nur ein halber Mann!". Für diese Ziele sind alle Mittel recht, auch mit dem Risiko, sich ins Unglück zu stürzen, etwa mit Schulden, lebensgefährlichem Leichtsinn und Krankheitsanfälligkeit. Diese Ziele nicht zu erreichen, können eine Entwertung oder Demütigung im Männlichkeitsbild in den eigenen und in fremden Augen bedeuten.

 

Einige Männer sind mit ihren Erfolgen und Beweisen zufrieden, stehen dann mit sich im Einklang, fühlen sich in ihrem eigenen Selbstbild und durch die Achtung des Umfeldes anerkannt und integrieren nachträglich ihre Männlichkeit. Andere sind jedoch nie zufrieden. Alle Männlichkeitsbeweise erfordern neue Beweise. Die Hintergründe und Gründe mögen darin liegen, dass alle Beweise beweisen, dass man es nötig hat und doch kein richtiger Mann ist. Vorwiegend diesen Fällen soll dieser Artikel gewidmet sein. In einem unendlich komplexen Geschehen können natürlich nur einige rote Fäden nachgezeichnet werden.

 

Vater-Sohn-Beziehung

 

Wie mag es dazukommen, dass Männer es so stark nötig haben, ihre Männlichkeit zu beweisen? Sie sind nicht einfach Männer, tragen die Männlichkeit in und mit sich herum, sondern müssen sie ständig und erneut beweisen.

 

Eine große Rolle spielt die Vaterbeziehung. Väter, die zu wenig in sich die anerkannte Männlichkeit tragen, neigen dazu, ihre negativen Seiten in ihrem Sohn zu sehen, also eine Projektion. Dadurch fühlen sie sich gestärkt, und der Sohn ist der Versager, die Memme, der Softie, das Weichei oder verkörpert in ihren Augen ein anderes Negativbild. Die Väter beziehen ihre Selbstbilder aus dem kulturellen Umfeld, noch viel mehr von ihren eigenen Vätern, so dass die männliche Entwertung über Generationen hinweg weiter vererbt werden kann.

 

Wie das biblische Beispiel von Kain und Abel zeigt, kann Achtung und Missachtung auf zwei Söhne verteilt, sozusagen aufgespalten werden. Da der missachtete Sohn noch um die Anerkennung des Vaters ringt, die er für seine Selbstachtung benötigt, muß er seine Wut und seinen Hass auf den Vater auf den Bruder umleiten, den er erschlägt. Im biblischen Mythos von „Abraham und Isaak“ bietet sogar Abraham die Opferung seines Sohnes Isaak an, um die Anerkennung von Gottvater zu erringen. Gemäß dem Spruch „aus der Not eine Tugend machen“ könnte man auch annehmen, er wandele seine Wut und seine Angst vor dem Vater in ein heiliges Opfer um.

 

Entwertete Söhne bemühen sich um Anerkennung, zuerst einmal dort, woher die Missachtung kommt, also bei ihren Vätern, doch noch den Anforderungen der Väter gerecht zu werden und deren ausgesprochene Erwartungen zu erfüllen. Diese Bemühungen sind jedoch eine Beziehungsfalle, zum einen, weil ihre Väter aus Selbstregulationsgründen es nötig haben, ihre eigenen negativen Anteile im Sohn zu sehen, denn sonst wären sie selber ein Versager, zum anderen, weil ein Mann, der sich ständig auf die untere Ebene begibt, sich entwürdigt, somit als "Arschkriecher " gesehen und nicht geachtet wird. Ein Vater möchte nämlich andererseits stolz auf seinen Sohn sein, weil dies sein Männlichkeitsbild aufwertet, und das kann er durch dessen Bemühungen nicht. Bei der Erniedrigung des Sohnes handelt es ich um unausgesprochene Erwartungen und Ansprüche nach Demütigung und Unterwerfung. Insofern geraten Väter in eine selbst gesetzte Beziehungsfalle und beziehen ihre Söhne in dieses Drama ein. Dann müssen Vater und Sohn anderweitig ihr Männlichkeitsbild aufpolieren.

 

Die Rolle der Mutter in der Dreierkonstellation

 

Normalerweise wächst ein Sohn nicht alleine mit seinem Vater auf, sondern die Mutter spielt in einer Dreier- oder Mehrfachkonstellation eine noch gewichtigere Rolle. Viele Frauen haben Probleme mit ihrer Weiblichkeit, etwa Maria, die Mutter Gottes als Jungfrau, und schon alleine dadurch Probleme in ihrer Beziehung zum Mann. Sie sehen ihre Missachtung als Frau in ihn hinein und fühlen sich von ihm missachtet. Ihren noch ungeprägten Sohn können sie in viel stärkerem Maße beeinflussen, so daß ihre Söhne viel mehr auf sie hören als ihr Männer, und müssen den Sohn nicht so fürchten. Als Folge wird der brave Sohn mehr anerkannt als der Ehegatte, meist in dem Maße, in dem er sich unterwirft, wird er wie zu einem Gott hochgehoben. Sie fühlen sich durch einen Sohn vermehrt anerkannt, sehen das Gute in den Sohn und das Böse in den Mann hinein. Der missachtete Vater muß mit seinem hoch gelobten Sohn in Konkurrenz treten, auf ihn neidisch und eifersüchtig sein und ihn zur Selbstaufwertung entwerten. In diesem Fall ist der Ausgangspunkt die Selbstentwertung der Frau, häufig in kulturellen Bildern vermittelt, während oben als Ausgangspunkt die Selbstmissachtung des Vaters steht, die sich gegenseitig bedingen.

 

Bei vielen Frauen sind von vorneherein der Sohn oder die Kinder wichtiger als ihr Partner. Der Vater ist nur als Erzeuger wichtig, spielt eine sekundäre Rolle und hat das Geld zu verdienen, während sie ihren Sohn auf den Sockel hebt und mit ihm oder den Kindern in einer Dualunion lebt. Oft wird der brave Sohn als verlängerter Arm der Mutter in den Kampf gegen den Vater eingesetzt.

 

Diese Beziehungsverhältnisse sind in Mythen fest gehalten. Ein biblisches Beispiel ist die heilige Familie, wo der Sohn der Gott ist und der Vater Joseph für die Dualunion Mutter - Sohn bescheiden im Hintergrund das Geld zu verdienen hat. Dazu sagte mir ein Pfarrer mit wegwerfender Handbewegung "der Josef, schwache Figur!" Jedoch sind nicht alle Väter so friedlich wie Josef. Er ist ja auch eine Idealisierung auf dem Hintergrund des alltäglichen Gegenteils. Wenn der Vater die Vergöttlichung des Sohnes mit trägt wie Josef und nicht ein eher realistisches Gegengewicht und Vorbild darstellt, an dem der Sohn sich orientieren kann, dabei der Mutter den Kopf zurecht setzt, wird der Sohn zusätzlich vom Vater zu einem göttlichen Selbstbild verführt, dass im späteren Leben keinerlei Realitäten stand hält, und er immer wieder seine Göttlichkeit beweisen muß.

 

Ein anderes mythisches Beispiel, das noch heute auf den Alttag zu übersetzen ist, wird in der Ödipussage dargestellt. Der Sohn heiratet die Mutter und erschlägt den Vater. Vorausgegangen war nach vorherigen schlimmen Ereignissen eine Orakelbefragung, vermittelt durch blinde Seher, hellsichtig und blind zugleich, als deren Folge der Vater zur Verhinderung der Prophezeiung den Sohn umzubringen versuchte. Diese allegorische Erzählung spiegelt die alltäglichen Gegebenheiten wieder; zuerst das Unglück, dann auf dessen Hintergrund der Zukunftsentwurf, anschließend die Verhinderungsstrategie, der aber gerade durch diese ihre Erfüllung findet. Ohne die Prophezeiung und Verhinderungsstrategie wäre das Unglück nicht passiert. Die unbewussten Motive werden insofern dargestellt, daß Ödipus die früheren Unglücke, die Prophezeiungen, Verhinderungsstrategie und Vater und Mutter nicht kannte, und das Geschehen wie von dunklen Mächten gesteuert trotzdem schicksalhaft seinen Ablauf nahm. Die Folgen für Ödipus spiegeln weiterhin den schicksalhaften Ablauf ab, seine Selbstblendung, um seine Schuld und Schande im Umfeld nicht zu sehen, und daß das Umfeld, die Bürger von Theben seine Schuld nicht so wie er sahen. Infolge der schicksalhaften ursprünglichen Opferrolle und des verinnerlichten Glaubens – vereinfacht gesagt, der Mensch lebt nach dem, was er glaubt, was ist – wird der Sohn zum Täter, und ein Täter muß an seinem Verhalten schuld sein. Der Leser wird fragen, was die Ödipussage mit dem Männlichkeitsbeweis zu tun hat. Ohnmacht und Ausgeliefertsein an die Umstände müssen als Verhinderungsstrategie in Macht, sogar Tötung umgewandelt werden.

 

Aufgrund des Neides der Väter auf den Sohn, dass dieser von der Mutter mehr anerkannt wird als sie selber, hacken die Väter auf diesem herum, sozusagen der Sohnesmord. Er ist der Blitzableiter für ihre Wut, von der Partnerin nicht anerkannt zu werden. Dann ist die Tragik des Sohnes, daß er infolge der Nichtanerkennung des Vaters vonseiten der Mutter vom Vater gerade nicht anerkannt wird. Der Sohn bekommt von der Mutter die Gratifikationen und vom Vater die Entwertung.

 

Aber auch der Neid einer entwerteten Mutter auf den hoch gelobten Sohn, der so viel mehr als sie selbst, nicht zuletzt von ihr, anerkannt wird, kann zur Entwertung des Sohnes durch die Mutter beitragen. Dann können sich beide Eltern auf Kosten des Sohnes wiederum einig sein. Oft schwingen Mutter und Vater zwischen beiden Polen hin und her, so daß ein Sohn zwischen Vergöttlichung und Verteufelung in Verwirrung gerät.

 

Ein auf den Thron gesetzter Sohn hat natürlich Ansprüche auf dementsprechende Honorierung und Rückspiegelung an die Umwelt, die das Umfeld aber nicht erfüllen kann. In ihr wird er auf Normalmaß zurecht gestutzt. Gemessen an den eigenen verinnerlichten Ansprüchen muß er jedoch sich entwertet vorkommen. Wenn dieser Sohn sein überhöhtes Selbstbild auch noch nach außen trägt, wie etwa Jesus Christus, eventuell sogar von einer Anbetergemeinde zusätzlich angebetet und verführt wird, wird sein Höhenflug von einem noch heftigeren Absturz begleitet sein. Jesus wurde gekreuzigt.

 

Muttersöhnchen

 

Die starke Verstrickung des Sohnes mit der Mutter und sein Leben nach den Bildern der Mutter, führen in den meisten Kulturen zur Entwertung des Sohnes und des Mannes. Bei uns heißt es beispielsweise "Muttersöhnchen ". Ein Muttersöhnchen wird von den meisten Männern nicht anerkannt und kann sich selbst nicht anerkennen. Hinzu kommt die Wut des Vaters, dass der Sohn mehr auf die Mutter bezogen ist und mehr auf sie hört als auf ihn. Diese Wut bekommt der Sohn und nicht als Teilursache die Mutter ab, weil der Vater auch um die Anerkennung der Mutter ringt und diese nicht aufs Spiel setzen will. Oft stellen sich die Mütter schützend vor ihren Sohn, was die Wut und Entwertung durch den Vater steigert. Er ist ja der Böse. Ein Vater der um die Anerkennung seiner Partnerin ringt und sie nicht einfach hat, sieht sich in seiner Männlichkeit entwertet, und der Kreislauf geht von neuem los.

 

Da die Beeinflussung durch und die Verstrickung mit der Mutter ein weit verbreitetes Phänomen ist, finden andere Jungen Gelegenheit, ihre latente Scham und ihre Wut auf sich selbst an jemanden, bei dem dies besonders offensichtlich ist, abzuleiten und zu delegieren. Durch die Gruppendynamik gerät er dann noch zusätzlich für die Anderen mit in eine Opferrolle und wird bloß gestellt und lächerlich gemacht.

 

Identifizierung mit dem Männlichkeitsbild des Vaters

 

Da der Vater meist der erste Mann im Leben eines Sohnes ist, wird durch ihn das Männlichkeitsbild vermittelt. Aber noch mehr als vom Vater selbst wird dieses von der Mutter weiter gegeben und sich zu eigen gemacht, da diese meist viel mehr anwesend ist und dadurch Bewertungen und Bedeutungen vermittelt, die in das Selbst- und Weltbild eingeschrieben werden. Ist der Vater entwertet, sieht sich der Sohn durch die Identifizierung mit dem Vaterbild in seinem eigenen Männlichkeitsbild entwertet. Der Sohn sieht den Vater und sich selbst mit den Augen der Mutter.

 

Traumatisierung

 

Entwertungen und Demütigungen in der Kindheit, vermittelt durch die Familien- und Beziehungskonstellationen und die erlebten Erfahrungen, werden als (Psycho-)Traumatisierung bezeichnet, die das Kind in seinem Reifungsprozess überfordern und es auf einer unreiferen Stufe stehen lassen. Diese unreifere Stufe wird auch in der körperlichen Hirnstruktur, in den Neuronen und deren Verästelungen, eventuell im Sinne der Epigenetik (Ab- oder Anschaltung von Genen durch Erfahrungen und dessen Vererbung) in den Nervenzellen eingeprägt und verfestigt. Seele und Körper sind eng miteinander verknüpft. Seelische Prozesse wie Angst haben körperliche Begleiterscheinungen, und körperliche Prozess seelische Folgen, teils in einem Teufelskreislauf. Die Traumatisierung ist also nicht nur ein seelischer und psychosozialer Prozess, sondern auch ein körperlicher. Da diese Prozesse je nach Aggressions-, Angst und Schamgrad umso heftiger körperlich und seelisch eingeprägt werden und oft im späteren Leben weiter bestehen, spricht man auch von einem posttraumatischen Belastungssyndrom (PTBS). Das Trauma muss mit allen Mitteln ausgeglichen und die Männlichkeit bewiesen werden. Aber gerade diese Mittel können wie in der Ödipussage zum eigentlichen Trauma werden. Jegliche Beweise und Beweisversuche bestätigen die Unmännlichkeit, ansonsten wären sie nicht nötig. Zusätzlich muß die Angst mit schwingen, die Kompensationen und Wiedergutmachung nicht zu schaffen. Zum einen die ständigen Ängste, zum anderen die Bemühungen können zu einem unendlichen Stress werden und total überfordern.

 

Kompensation in der Außenwelt

 

Ein Mann, der die Entwertung in sich sieht, steht als Ersatz für die erlebten Erfahrungen und die eigenen Eltern unter dem Zwang, ständig seinen Erfolg und Status in der Außenwelt nachzuweisen. Dies braucht er für sein narzisstisches Selbstbild, um mit sich als Mann im Reinen zu sein. Die Außenwelt soll befriedigen und kompensieren, was in der Kernfamilie nicht geschehen ist. Dafür mag ihm jegliches Mittel recht sein. Er mag sich, um seinen Erfolg nach außen darzustellen, in Schulden stürzen. Viele Statussymbole werden durch Schulden erreicht. „Große Klappe und nichts dahinter“ das Durchschauen und die Bloßstellung müssen gefürchtet werden. Die weltweite Finanzkrise ist durch das gierige finanzielle Erfolgsstreben hervorgerufen worden. Ein Mann, der ständig seine Potenz nachweisen muss, kann durch die Angst vor dem Versagen impotent werden. Die Angst wird zu einer sich selbst erfüllen Prophezeiung, nicht allein durch die Angst, sondern stärker noch durch den Glauben an die Bedrohungen, nach dem gelebt wird.

 

Alterung

 

Der Alterungsprozeß kann für jemanden, der ständig seine Stärke und Männlichkeit beweisen muß, ein zusätzliches Problem werden. Das Aussehen, oft die Attraktivität, und die Kraft lassen in verschiedenen Bereichen des Lebens nach. Wenn nicht Klugheit und Weisheit des Alters und der wohlverdiente Ruhestand hinzu gewonnen werden, ist Alterung der reinste Entwertungsprozess. Deswegen führt das Alter zu vermehrten Erkrankungen. Zum Ausgleich muß der Alternde ständig die Jüngeren demütigen und unterdrücken. Die Alterung und der Neid auf Jugend und Attraktivität mag auch ein Mitgrund für die Entwertung des Sohnes durch den alternden Vater sein.

 

An alternden leistungsambitionierten Rennradfahrern ist mir der ewige Initiationsritus besonders deutlich aufgefallen. Sie müssen ständig ihre Kraft und Stärke, die Rangfolge in der Hierarchie als Symbol ihrer Männlichkeit beweisen, nicht nur im Wettkampf, sondern auch oft im Training. Die Losung heisst, „das Beste geben, die eigenen Grenzen übertreffen“. Wenn im Alter ihre Kräfte nachlassen, versuchen sie durch zusätzliches hartes Training ihre Schwäche zu kompensieren. Die Schwäche, nicht mehr mithalten zu können, ist für manche die größte Demütigung. Mit dem Spruch „man gönnt sich ja sonst nichts!“ wird das beste und teuerste Rennrad, immer auf dem neuesten Stand, und teuerste Outfit gekauft. Wer da nicht mithält, ist unten durch. Infolge des ewigen Stresses, körperlicher Überforderung und Angst zu versagen, ist es kein Wunder, wenn Stresssymptome auftreten. Sie und das Umfeld wundern sich, obwohl sie immer Sport getrieben und nie geraucht haben, auch noch fit erschienen, daß gehäuft Herzerkrankungen (Herzinfarkt, Rhythmusstörungen, Bypass, Stunt) an der Altersgrenze mit etwa 60 auftreten. Kommt das verbreitete Doping noch hinzu, gefährden sie sich um der Männlichkeit und Leistung willen noch stärker. Der alternde Körper und vor allem die Psyche halten das nicht mehr aus. Sie gönnen sich nicht das Wesentliche wie eine altersgerechte ruhige, entspannte Sportausübung. Der Geist im Körper sagt „nein“ bis zum in Erkrankungen verdeckten Suizid, wenn er kein anderes Mittel findet. Natürlich spielen noch andere Hintergründe eine Rolle. Auch bei den Bodybuildern und anderen Sportlern spielen ähnliche Mechanismen eine ähnliche Rolle.

 

Autoaggression

 

Meines Erachtens trägt zur Erkrankung neben körperlicher und seelischer Überforderung, Angst vor dem Versagen und Bloßstellung noch mehr die Autoaggression bei. Die Autoaggression ist die Aggression gegen die früheren verinnerlichten Bezugspersonen bzw. Objekte. Da diese sich durch die Verinnerlichung und Übernahme von Erfahrungen, Bewertungen und Bedeutungen in der eigenen Person befinden, richtet sich die Aggression gegen das eigene Selbst. Die ursprüngliche Aggression gegen die Eltern, entwertet und vereinnahmt zu werden, Ansprüchen ausgesetzt zu sein und diese nicht erfüllen zu können, zwischen den Fronten als Blitzableiter zu dienen, wird zur Autoaggression. Der Mensch geht auf sich selbst, seine Seele etwa in Depressionen, Angsterkrankungen und seinen Körper etwa als Schmerz-, Herz-, Stoffwechsel- oder Krebserkrankungen los. Durch die Autoaggression entsteht die selbstzerstörerische Komponente.

 

Bei einer Mutter, die schon beim Fötus im Mutterleib, beim Säugling und Kleinkind unter Ängsten und Spannungen, etwa etwas falsch zu machen, dazu noch im Konflikt mit dem übrigen Umfeld wie dem Vater oder den Omas steht, sich überfordert sieht etwa in der Vereinbarkeit von Beruf und Betreuung, Aggressionen auf das Kind hat, weil es dauernd schreit und deswegen schreit es umso lauter und aggressiver, übertragen sich diese Spannungen auf das Kind. Hinzu kann kommen, dass die Mutter ihre positive Aufmerksamkeit wegen einer eigenen seelischen oder körperlichen Erkrankung wie einer Depression nicht auf das Kind richten kann. Das Kind findet bei der Mutter nicht die zur Reifung nötige Wärme, Geborgenheit und Sicherheit. Es ist in einer Dualunion ohnmächtig ausgeliefert. Aber trotzdem entstehen in dem Kind Aggressionen, die in diesem frühen Lebensstadium als solche nicht fassbar sind und sich gegen die eigene Person richten. Mütter und das weitere Umfeld erleben zusätzlich verschärfend die Gründe oft nicht in sich, sondern im Kind, beschuldigen dieses „Du machst mir Ärger, Kummer und Sorgen“, die das Kind als Schuld in sich hinein nimmt. Da diese Prozess oft über Generationen hinweg ablaufen, sind sie in der biblischen Schöpfungsgeschichte als Erbsünde erfasst.

 

Das Kind gerät in eine abgrundtiefe Verunsicherung und Verwirrung. Es kann nicht zwischen sich und der Mutter und dem Umfeld unterscheiden. Um aus der Ohnmacht heraus zu kommen, setzt es vor allem im späteren Leben Macht, sicherlich nicht als bewusster, sondern als unbewusster, automatischer Ablauf, und um aus der Verwirrung herauszukommen, Eindeutigkeit, Objektivität und Klarheit dagegen. Oft wird dies von den Eltern noch gefordert. Aus dieser Perspektive können objektive Wissenschaften, die nichts anderes gelten lassen, also die Folge schwerer frühkindlicher Störungen sein. Der männliche Status, der Erfolg, die Macht bis zum Despoten und Alleinherrscher sind derartige Macht- und Eindeutigkeitssymbole.

 

Da die Welt aber komplex und widersprüchlich ist, ist diese männliche Eindeutigkeit nie oder nur beschränkt zu gewinnen. Die Einen jubeln zu, die Anderen lehnen das ab, so dass umso mehr die Deutungshoheit gesucht werden muss. Bei allen Männlichkeitsbeweisen schwingen die Entwertung, Angst, Scham, Aggression und Autoaggression in einem Teufelskreislauf mit.

 

Die Macht des Kindes

 

Wenn das Kind sich nicht brav und angepasst verhält, sondern trotzig rebelliert, verweigert oder sabotiert, gerät die Mutter und das Umfeld in Sorge, Ärger und Kummer. Dadurch hat das Kind Macht über die Befindlichkeit der Mutter. Dann ist es kein Wunder, dass die meistgelesenen pädagogischen Bücher von dem Orthopäden Schreber Ende des 19. Jahrhunderts die Maxime vertraten „der Wille des Kindes ist um jeden Preis zu brechen“. Wir wissen, was Generationen von gebrochenen Menschen angestellt haben, zwei Weltkriege, Genozid an den Juden und noch viel mehr. Dort haben sie scheinbar ihre Macht wieder erlangt.

 

Wenn die Aggression nicht in Kriegen, Zerstörung oder Rowdytum nach aussen abgeleitet werden kann, kann sie sich als Krankheiten auswirken. Am Krankheitsbild der Pubertätsmagersucht (Anorexia nervosa), aber auch anderen Krankheiten, wo sich alle Sorgen machen, ist der Zusammenhang zwischen Rebellion, Ohnmacht, Macht und autoaggressiver Selbstzerstörung besonders gut zu studieren.

 

Nachträglichkeit

 

Zuerst einmal laufen diese Dinge einfach ab. In jedem Stadium und jeder Situation, auch bei einer schweren Erkrankung, besteht die Chance, Reifungsschritte zu machen. Um aus dem Teufelskreislauf heraus zu kommen, gilt es, sich sozusagen in die 3. Position zu bringen und wie von aussen die Abläufe zu betrachten, die sogenannte Triangulierung. Werden die Abläufe betrachtet und können sie ausgesprochen werden, sind sie nicht mehr so schlimm. Ausgesprochenes ist nicht so schlimm wie unaussprechliches. Wichtig ist auch wahrzunehmen, dass man selbst Opfer von früheren Verhältnissen ist, wofür man nichts kann und nicht schuldig ist, aber durch die Verinnerlichungen und Prägungen zum Täter wird. Auch wenn man sich selbst aufgrund dieser Bilder nicht selbst achten kann, sich für einen Versager hält wie etwa ein Hartz4-Empfänger, ist es wichtig, sich trotzdem anzuerkennen und zu mögen. Dann kann man auch mehr andere anerkennen und hat bessere soziale Beziehungen.

 

Weitere Reifungsschritte können sein, die eigenen Grenzen anzuerkennen und nicht nach den höchsten Zielen zu streben, also Loslassen oder Verzicht wie die mönchische Bescheidenheit. Nicht umsonst steht am Apollotempel in Delphi die Inschrift „gnothi s’auton“, erkenne dich selbst, und zwar als Mensch und nicht als Gott.

 

Wichtig ist, eigenen Grenzen zu schaffen und aufrecht zu erhalten, und andere Menschen als Personen zu sehen, die ein eigenes Innenleben und eigene Motivationen in sich haben, auch eine Form der Triangulierung. Das bedeutet, Entwertungen und Vorwürfe als Ausdruck des Innenlebens und der Bewertungen des Anderen zu sehen. Bei Vorwürfen zeigt der Zeigefinger offen auf den Anderen, und verdeckt unter der Hand zeigen drei Finger zurück. Diese kommen auch nur an, wenn sie sich in der eigenen Person befinden, also auf fruchtbaren Boden fallen. Aber auch dann besteht noch die Chance, im Falle von Rechtfertigung und Entschuldigung, die eigenen Bewertungen zu erforschen und gerade dadurch dazu zu lernen. Bei Vorwürfen besteht oft nur Abwehr und nicht mehr die Offenheit, was der Andere zu sagen hat und was in der eigenen Person los ist.

 

Und wie ist das mit den Frauen? Sie wachsen oft unter ähnlichen Umständen auf. Was müssen sie in unserer Kultur beweisen – etwa zu sein wie die Männer oder ihre Weiblichkeit in Attraktivität, Mütterlichkeit, Fürsorglichkeit oder anderen weiblichen Bereichen und Tugenden auszutoben? Männer sind nicht weniger fürsorglich als Frauen, verwirklichen dies nur in einer anderen kulturellen Rolle, wofür der Männlichkeitsbeweis der Klarheit, Macht und Eindeutigkeit dienen kann, um aus dem Labyrinth und Dickicht der Unklarheit, Vieldeutigkeit und Undurchdringlichkeit heraus zu kommen.

 

von Bernd Holstiege