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17. October 11 , 23:19

Offenheit - Das Unmögliche zu denken und auszuprobieren - Daniel Shechtman erhielt 2011 den Nobelpreis für die sogenannten Quasikristalle

Berlin (Weltexpress) - Seit über 100 Jahren bestand das wissenschaftliche Dogma, daß Kristalle aus Quadern und Prismen und auf einer aus den Zahlen 2, 3 , 4 und sechs bestehenden Symmetrie beruhen. Nur dann fügen sie sich nahtlos aneinander. Bei Versuchen mit einer Legierung von Aluminium und Mangan in seinem Labor in Washington D.C kam der israelischePhysiker Daniel Shechtman 1982 zu dem Ergebnis, dass eine Fünfersymmetrie zugrunde liegen müsse. Bisher galt dies für wissenschaftlich absurd. Er selbst konnte es zuerst kaum glauben, bestand aber auf seinen Untersuchungen, galt bei seinen Kollegen für verrückt und wurde aus dem Institut herausgeekelt. Er ging in seine Heimatuniversität nach Israel, wurde aber auch dort belächelt. Es dauerte zweieinhalb Jahre, bis seine Ergebnisse publiziert und die bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnisse auf den Kopf gestellt wurden.

1992 änderte die internationale Kristallographie-Union ihre Definition für Kristalle. Inzwischen wurden hunderte von künstlichem Quasikristallen hergestellt. Erst vor zwei Jahren wurde ein natürlich vorkommendes Kristall in der Fünfersymmetrie aus Aluminium, Kupfer und Eisen in Ostrussland gefunden. Diese Quasikristalle eröffnen eine Fülle von technischen Möglichkeiten. In Fresken haben die arabischen Sarazenen in Spanien die Fünfersymmetrie schon vor hunderten von Jahren dargestellt. Also haben schon frühere Kulturen die kristalline Fünfersymmetrie in Bildern erkannt. Auch vor Shechtman schlossen andere Forscher auf Fünferkristalle, trauten aber ihren Augen nicht, dachten eher an Messfehler oder fürchteten in Kenntnis der Normen und Realitäten ihre Disqualifizierung, so daß sie ihre Versuche nicht veröffentlichten. Shechtman zeigte also Mut, gegen das naturwissenschaftliche Establishment anzugehen und innerhalb dieser Welt seine fachliche Reputation zu gefährden. Dazu gehört eine selbstbewusste Persönlichkeit, die die Achtung in sich trägt und nicht auf Fremdachtung angewiesen ist. Dies ist eine Frage der Prägungen in der Kindheit.

Zählebige Dogmen

Wissenschaftliche und religiöse Dogmen haben eine große Zählebigkeit, vor allem wenn sie für die Autoritäten und Meinungsführer Einfluss, Macht und Geld beinhalten. Dadurch entsteht ein System, das den Mitgliedern kaum noch die Möglichkeit lässt, über den Topfrand hinaus zu schauen und wenig Spielraum für Innovationen gewährt. Jegliche Erkenntnisse außerhalb dieser Dogmen erscheinen undenkbar und werden als Ketzertum unerbittlich bestraft. Deswegen kommen viele Innovationen und großartige Erfindungen mehr von sozusagen noch unschuldigen Neulingen oder Außenseitern.

Der Fall eines Chemikers

Mit einem langjährigen Freund, einem Diplom-Chemiker, gehe ich ab und zu joggen, und wir tauschen uns über Themen im Randbereich zwischen Naturwissenschaft und Psychologie aus. Er erzählt von sich, er dürfe es kaum sagen, dass er den entscheidenden Teil seiner Doktorarbeit innerhalb von drei Wochen geschrieben habe, indem er eine ganz spezifische Reaktionsfähigkeit an einem räumlich total blockierten großen Molekül nachwies. Er kam auch mehr zufällig darauf. Nach anerkannter wissenschaftlicher Lehrmeinung sollte ein derartig blockiertes Molekül diese spezifische chemische Reaktion überhaupt nicht eingehen können. Er meint, wenn er noch mehrere Jahre im naturwissenschaftlichen Denksystem verharrt hätte, wäre diese Erfahrung und somit seine Dissertation auch für ihn unmöglich gewesen.

Jetzt mit 70 Jahren ist er dabei, noch ein volles Geschichtsstudium durchzuziehen, um die wissenschaftliche Qualifikation zu erwerben und nachzuweisen, dass im griechischen Altertum die sogenannte dunkle Phase vor der Errichtung der Polis (Stadtstaaten) durchaus nicht dunkel war und als Vorbereiter der griechischen Hochkultur zu gelten habe. Zur Vorbereitung und wissenschaftlichen Qualifikation hat er das Latinum und Graekum nachgemacht. Von ihm werde ich über bedeutsame naturwissenschaftliche Erkenntnisse informiert. Was der gemeinsame Sport nicht alles hergibt!

Ein Altphilologieprofessor

Ein befreundeter Altphilologieprofessor - inzwischen gestorben -, mit dessen Sohn ich in die Klasse gegangen bin und der inzwischen ebenfalls emeritierter Altphilologieprofessor ist, erzählte mir, er sei bei seinem Onkel aufgewachsen, einem bekannten Altphilologen, da seine Eltern früh gestorben seien. Dessen Sohn, mit dem der Professor aufgewachsen war, durfte nicht Altphilologie studieren, wurde stattdessen Pfarrer und trauerte lebenslang der Altphilologie nach. Er als Neffe selbst durfte Altphilologie studieren, da er seinem Onkel nicht so nahe stand. Der Onkel ging sogar soweit, für wissenschaftlich unhaltbar zu halten, dass in der Odyssee der Sohn Telemach seinen Vater Odysseus unterstützt hatte. Hinter dieser wissenschaftlichen Erkenntnis stand wohl eine Vater-Sohn-Problematik und -Erfahrung, in der ein Sohn nie den Vater unterstützt hätte, weil er sich selbst vom Vater nicht unterstützt sah. Die Macht der Wissenschaft fundierte also nicht allein auf Macht und Einfluss, sondern auch auf frühkindlichen Erfahrungen, in denen es ebenfalls um Ohnmacht und Macht geht, die von früher auf heute übertragen werden.

Mein eigener Fall

Ich selbst hatte eine psychoanalytische Ausbildung begonnen. Bald erschien sie mir zu langwierig, zeitaufwendig und teuer und auch dort wurde, wie ich an meinen Lehrmeistern sehen konnte, nur mit Wasser gekocht. Ich bekam mit, daß ich in der Praxis auch ohne vollständige Ausbildung genauso arbeiten konnte. Also tat ich das. Später ging mir durch den Kopf, wenn ich die Erzählungen der befreundeten ausgebildeten Psychoanalytiker hörte, ob ich nicht doch etwas versäumt hätte. Heute bin ich froh, daß ich damals zu faul war und andere Interessen hatte, wäre in einem bestimmten Denk- und Glaubenssystem erzogen worden und hätte mir wohl nicht so leicht die Freiheit des Geistes bewahrt.

Ein freierer Geist macht mehr Spaß, nimmt eigene Ideen mehr ernst und lässt eher Anregungen von außen annehmen und verwerten, z.B. den Nebensatz in einem Roman von Manuel Garcia Marquez über die Jungfräulichkeit in der bürgerlichen Ehe, die Bibel, hier speziell die Heilige Familie, als Metapher oder Symbolik der auch noch heute traumatisierten Familie zu sehen und zu interpretieren. Deutsche Märchen und griechische Mythen auf den Alltag zu übersetzen, war mir vom Beginn meiner Weiterbildung her vertraut. Sigmund Freud sieht ja auch die Ödipussage im Zentrum seiner Psychoanalyse. Für mich sind in der Ödipussage noch andere, vielleicht noch wichtigere Themen enthalten, wie das Rätsel der Sphinx, das Rätsel des Menschen, das durch Lösung und Nichtlösung vom Tode bedroht ist, die blinden Seher, aufgrund von deren Prophezeiungen die schlimmen Dinge, die sonst kaum geschehen wären, wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen erst geschehen können und die Blendung des Ödipus. Den Hinweis meines Altphilologieprofessors habe ich dankbar angenommen, Ödipus wolle seine Schande in den Augen anderer nicht sehen. Diese Feststellung führt in das Zentrum etwa von Angstkrankheiten, wobei Angst bei vielen, auch körperlichen Erkrankungen eine tragende Rolle spielt.

Vater-Sohn-Konflikt in der Wissenschaft

Die Ödipussage stellt den Vater-Sohn-Konflikt dar. Die Ehe mit der Mutter und den Inzest, die noch gravierendere Konflikte sind, lasse ich beiseite. In der Wissenschaft gibt es Lehrer und die Schüler und Zuarbeiter, die in der Hierarchie ebenfalls meist nach oben kommen wollen. Das können sie häufig nur, wenn sie treue Diener ihrer Herren sind. Andere Thesen, Kritik gelten oft als Loyalitätsbruch, Verrat, Ketzerei, symbolisch als Vatermord und werden mit Sohnesmord bestraft, es sei denn, der Lehrer ist eine selbstsichere Persönlichkeit. Gegenüber autoritären Vätern kann andererseits Protest, Aufbegehren, aber auch Kreativität zur Leitlinie werden, wie vielleicht bei meinem Freund und mir, und zu Dauerkonflikten führen. Bei der Verfolgung dieses Protestes kann wiederum die Offenheit verloren gehen. Dies alles kann auch bei Daniel Shechtman im Hintergrund eine Rolle spielen.

Zum 150. Geburtstag von Freud hatte ich im Weltexpress eine zweiteilige Artikelserie (heute nur noch unter www.bholstiege.de/weltexpress.htm zu lesen) veröffentlicht. Freud selbst als Erfinder der Psychoanalyse hatte andersdenkende Psychoanalytiker wie Jung und Adler aussortiert, und diese gründeten eigene psychoanalytische Schulen. Seine Nachfolger und Epigonen waren in ihrer wissenschaftlichen Ausrichtung rigider als Freud selbst. Ein Jahr später veröffentlichte ich einen Artikel "151 Jahre nach Freud ", in dem ich auf die privaten Erkenntnisse außerhalb der psychoanalytischen Wissenschaft hinwies, die die Psychoanalyse bereicherten und zu weiteren Fortschritten führten. Es ist wohl das Schicksal vieler neuer Systeme und Erfindungen, diese gegenüber allen Anfeindungen zu verteidigen, dabei zu erstarren und erst in einem weiteren Reifungsschritt sich wieder zu öffnen.

Die Objektivierungstendenz in der Wissenschaft


Wissenschaft, vor allem Naturwissenschaft versucht objektiv und absolut zu ein, die Fakten zu erhärten, hieb- und stichfest zu machen und den menschlichen subjektiven Charakter auszuschalten. Dadurch wird sie entmenschlicht. Jegliche Absicherung erfolgt jedoch gegenüber einer Verunsicherung und Unklarheit bis zum Angstcharakter, wenn die Fakten nicht zutreffend sind. Dann müssen sie umso mehr erhärtet werden. Das ist wiederum sehr menschlich. Dadurch geht jedoch die Offenheit verloren, und es etablieren sich rigide oder totalitäre Wissenschaftsstrukturen. Die menschliche Wahrnehmung der Wahrheit, Tatsachen und Objektivität hat jedoch eine weite Spannbreite von der Paranoia, dem Wahn, der Wahrnehmung von Nichttatsachen als Tatsachen, bis zur einigermaßen realitätsgerechten Wahrnehmung. Wissenschaftliche Institute können Lieder davon singen, wie Phantasten ihre Erkenntnisse und Apparate wissenschaftlich zu legitimieren versuchen.

Freiheit der Künstler

Allein die Künstler haben in unserer Kultur das Privileg der subjektiven Freiheit der Darstellung. Bei Schriftstellern ist meist offensichtlich, daß ihre Schreiberei mit ihnen selbst zu tun hat. Deswegen versuche ich weniger Wissenschaftler zu sein, in den renommierten Fachzeitschriften zu veröffentlichen, wo die Hierarchie verbreitet ist, sondern mehr in Richtung Künstler zu sein, Offenheit und Kreativität zu bewahren und meine Erkenntnisse wie in einem Gemälde zu integrieren.

Die Relativität der Wahrheit

„Einigermaßen realitätsgerecht“ schreibe ich deswegen, weil die subjektive Wahrnehmung nie vollständig auszuschalten ist. Sogar die Naturwissenschaft wird vom subjektiven menschlichen Geist erkundet und validiert. Die Wahrheit ist in meinen Augen eine Frage 1. des Standpunktes des Beobachters, und 2. des beobachteten Gegenstandes oder Menschen, also 3. der Perspektive, 4. der Beleuchtung, worin die kindlichen Prägungen und die innere Wahrnehmung einfließen, 5. des Interesses, etwa Macht und Einfluss zu verteidigen und 6. des jeweiligen Zeitpunktes. Kein Mensch bleibt ewig an einer Stelle stehen, aber auch dann bewegt sich wie in einem Kinofilm im Innenleben die Wahrnehmung, und die Zeit verändert sich. Also verändert sich die Wahrheit ständig.- Ich versuche offen gegenüber weiteren Faktoren zu sein, wenn dem Leser noch etwas einfällt.- Lasse ich einen der Faktoren weg, etwa die Zeit oder das Interesse und setze diese als selbstverständlich voraus, ergibt sich eine perfekte Fünfersymmetrie. Aber diese Wahrheit ist so wenig bekannt wie bis vor kurzen die Quasikristalle, wo alle Welt doch die objektiven Fakten sucht und sie durch die Wissenschaft erhärten läßt. In Artikeln über den Aberglauben (siehe unter der obigen Adresse) habe ich die Naturwissenschaft als den neuen Aberglauben bezeichnet, wo doch ihr Ziel ist, aus dem mittelalterlichen Aberglauben heraus zu führen und das auch vielfach geschafft hat.

Objektivität als Heilung

In der Medizin haben die objektiven Fakten Heilungscharakter. In einem völlig diffusen, nicht faß- und erklärbaren Krankheitsgeschehen, zumindest nach naturwissenschaftlichen Kriterien, ist derjenige Arzt der Größte, der eine klare, eindeutige und unanfechtbare Diagnose fällt und einen klaren, erfolgsversprechenden Behandlungsplan entwirft. Da die meisten Krankheiten mit Verunsicherung und Ängsten verbunden sind, die die Krankheit verschlimmern oder sogar Ursache sein können, weiß dann der Kranke, wo er dran ist, ist beruhigt, und die Selbstheilungskräfte können sich entfalten, solange nicht andere gewichtigere Gründe ihn in der Krankheit verharren lassen. Deswegen ist die naturwissenschaftliche Medizin favorisiert, wo exakte Blut- und Urinwerte, sichtbare Röndgenbilder zu erfassen sind, und nach naturwissenschaftlichen Kriterien operiert, bestrahlt und Medikamente eingesetzt werden. Bewusste und vor allem unbewußte Prägungen, Familien- und soziale Dynamiken und –konflikte stören nur und werden ausgeklammert. Das können jedoch die eben angeführten gewichtigeren Fakten sein. Solange der Kranke beruhigt ist und Hoffnung schöpft, ist bei vielen Krankheiten eigentlich unerheblich, welche Diagnose getroffen und Therapie eingeleitet wird. Allein schon die Diagnose „Krebs“ ruft bei vielen Erkrankten eine krankheitsverschlimmernde Panik und Verzweiflung hervor, auch wenn dies nicht berechtigt ist. Deswegen müssen alle beteiligten Seiten wie die Industrie durch Werbung Einfluß auf den Glauben des Kranken nehmen, nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern auch um zu heilen.

Der Nobelpreis für Daniel Shechtman ist für mich Anlaß, etwas über Offenheit, Unklarheit, Unsicherheit, Nichtwissen als kreative Möglichkeiten zur Erweiterung des Wissens und Starrheit und Absicherungssysteme zu schreiben. Wie sagte Sokrates, einer der bekanntesten Philosophen des griechischen Altertums „ich weiß, daß ich nichts weiß!“ Wie im Universum eröffnet jegliches Wissen neue Fragen, die der Frager (noch) nicht weiß.
 

Von Bernd Holstiege