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27. Januar 16 , 12:59
Liebevolles Verständnis - Über die Empathie des Säuglings und des
Kleinkindes für die Mutter, den Vater, die Familie und die Kultur
Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
© dapd
In den Artikeln „Wie sage ich es meinem Kinde – dem Kinde in mir selbst“
habe ich von einem Patienten berichtet, der noch Mitte 50 in den Problemen
zwischen sich selbst, der Mutter und dem Umfeld mit Schmerzen und anderen
Symptomen zerrissen ist. Seine ursprüngliche Liebe, die auf Gegenseitigkeit
beruht, war arg enttäuscht worden, und trotzdem war er aus Liebe bereit,
alles für die Eltern zu tun, weil er dadurch gleichzeitig Liebe erhoffte.
Ich habe ausführlich und langatmig seine innere Zerrissenheit dargestellt.
Er hat sich sozusagen empathisch in die Eltern in hinein gefühlt und sich
dabei scheinbar aufgeopfert und vergessen. Dies war jedoch zu seinem eigenen
Wohlergehen notwendig, weil ansonsten die Eltern noch mehr Probleme gehabt
hätten. Unproblematische Eltern hatte er bitter nötig. Der Mutter war der
Ruf, ihr Image in den Augen der anderen zur Vermeidung der Schande besonders
wichtig, und dem hatte sich das Kind anzupassen und aufzuopfern.
Den Eltern war es ja schließlich auch nicht anders ergangen. Sie hatten für
ihre Eltern sorgen und sich dabei selbst unterdrücken müssen. Ihren
Großeltern ging es ebenfalls so. Das war also eine transgenerationelle
Kultur in dieser Familie, wie überhaupt in vielen Familien. Der Säugling und
das Kleinkind wurden schon einbezogen. Dies war der Modus der Beziehungen in
der Familie, an dem das Kleinkind schon aktiv beteiligt war. Es hat zwar
darunter zu leiden, kann sich beschweren, aber es ist das Schicksal aller
Familienmitglieder. Wir gehen zwar in unserer westlichen Zivilisation davon
aus, dass die Eltern möglichst gut zu ihren Kindern zu sein haben, aber die
Realität ist oft eine ganz andere. Das Gute-Mutter-Bild hat zentrale
Bedeutung und für das ist alles unterzuordnen.
Ich möchte eine Facette aus meinem Leben berichten: Meine Tochter war etwa
vier Wochen alt, und ich gab ihr das Fläschchen. Das war mir zu langweilig,
und ich las nebenher Zeitung. Dabei trank das Kind nicht. Ich versuchte das
Fläschchen anders und verschieden zu halten, aber es trank einfach nicht.
Als ich meine Aufmerksamkeit mehr zufällig dem Kind zuwandte, trank es die
Flasche schnell leer. Ich wunderte mich, wie sehr und wie früh das Kind den
Unterschied in der Bezogenheit spürte. Die emotionale Bezogenheit war nicht
in meinem Kopf drin, und das war eine grundlegende Erfahrung. Bekannte,
denen ich davon erzählte, sagten, das sei doch ganz klar. Sie hatten
offensichtlich mehr Einsicht in die Art und Notwendigkeit der frühkindlichen
Beziehungen. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte nicht diese Erfahrung
gemacht, meine Grundeinstellung nicht verändert, und ich hätte weiterhin
Zeitung gelesen, wie das wohl manche Eltern machen, dann hätte das Kind wohl
weiterhin nicht getrunken und wäre verhungert, oder es hätte sich
umgestellt, verbogen und widerstrebend und unter Schmerzen getrunken. Es
wäre vielleicht zu einem Kampf um Leben oder Tod gekommen, und das wäre wohl
seiner weiteren Entwicklung nicht zuträglich gewesen.
Professor Overbeck berichtete exemplarisch von einem Säugling, der mit
lebensbedrohlichen Bauchkoliken in die Klinik eingeliefert wurde, bis eine
Krankenschwester nach ein paar Tagen mehr zufällig feststellte, dass die
Mutter während des Stillens die ganze Zeit telefonierte. Der Mutter wurde
klargemacht, dass die Bezogenheit wichtig sei, und sie nicht während des
Stillens telefonieren könne. Die Koliken verschwanden, und das Kind wurde
bald geheilt entlassen. In beiden Fällen haben Zufälle das Leben eines
Säuglings gerettet.
Kaiser Friedrich II. war im 13. Jahrhundert wissenschaftlich interessiert.
So experimentierte er mit Säuglingen, indem er das Personal anwies, sie zwar
optimal zu futtern, ihnen aber jegliche Ansprache und Zuwendung
vorzuenthalten. Alle Säuglinge starben. Anscheinend ist emotionale Zuwendung
zum Überleben wichtig.
Ein Angstpatient berichtete, seine Frau hatte während der 1. beiden
Schwangerschaften wegen Blutungen im Krankenhaus gelegen. Der Muttermund war
zugenäht worden, und sie gebar die Kinder. Bei der 3. Schwangerschaft
berichtete er, die Blutungen hätten noch stärker und früher angefangen. Es
war anzunehmen, dass das Kind abging. Ich sprach von Ambivalenzen gegenüber
dem Kind, dass eine Mutter nicht nur mit Freude, sondern auch wegen der
Belastung und Pflichten mit Aggressionen reagieren müsse. Er solle mal mit
seiner Frau darüber reden. Seine Frau war froh, erstmalig über ihre
Aggressionen auf ihre Kinder reden zu können. Erstaunlicherweise standen die
Blutungen still, und das Kind kam völlig normal zur Welt. Anscheinend hatte
die Selbstakzeptanz ihrer Belastung, der Schuldgefühle und Wut auf die
Kinder gereicht.
Die Geschichte ging jedoch weiter. Nach ein paar Monaten berichtete der
Patient, dass das Kind eine Neurodermitis entwickelt hätte, und sie hätten
schon mehrere Ärzte aufgesucht und mit Salben und Umschlägen behandelt. Es
wurde aber immer schlimmer, und er übersteigerte sich in Ängsten um das
zukünftige schlimme Schicksal seines Kindes. Ich erklärte ihm in aller Ruhe,
schon bei Erwachsenen gingen Gefühle in den anderen über. Beim Kleinkind sei
das noch viel stärker. Ich meinte, er solle sich das zukünftige Schicksal
des Kindes nicht so zu eigen machen, am besten lasse er Kind Kind sein und
mache gar nichts mehr. Durch die Entspannung der Eltern war die
Neurodermitis größtenteils beendet, jedoch nicht ganz, da die Eltern noch
sehr unter Ängsten und Schuldgefühlen litten.
Das Kind hat also eine starke emotionale Empfänglichkeit für das Verhalten
und die emotionale Bezogenheit der Mutter, des Vaters und des weiteren
Umfeldes. Emotionalität steht dabei im Zentrum und ist die zugrunde liegende
Triebfeder. Emotionen werden in der Frühphase der menschlichen Entwicklung,
im Vorerinnerungsalter geprägt von der Bezogenheit und der Emotionalität des
Umfeldes, hauptsächlich der Mutter. Bewusst Verstehen kann das Kind
hinsichtlich ihrer hintergründigen Beweggründe die Eltern nicht. Dazu
fehlen ihm die Erfahrungen und der geistige Apparat. Es macht im
Vorerinnnerungsalter seine grundlegenden Erfahrungen in der aktuellen
emotionalen Bezogenheit der Mutter und der Eltern.
Empathie, Liebe, Wärme, Geborgenheit, Sicherheit und im Falle von Spannungen
des Kindes Trost und Beruhigung sind also die Voraussetzungen zu einem guten
Gedeihen des Kindes. Aber wie kann eine Mutter Trost spenden, wenn sie
selbst die Ursache von negativen Emotionen, Ängsten und Wut ist. Das Kind
bildet mit der Mutter sozusagen eine Dualunion, und die Gefühle der Mutter
gehen in das Kind über. Dabei fühlt das Kind emphatisch mit. Haben die
Eltern Angst, Sorgen, Haß und Wut gerät das Kind in die Bredouille, weil
diese Gefühle ebenfalls in es übergehen. Es gerät mit seinen eigenen
Interessen nach Geborgenheit, Liebe und Sicherheit in Konflikt. Zu welchen
Verstrickungen dies führen kann, habe ich berichtet. Die Emotionen der
Eltern haben gegenüber dem kleinen Kind und Säugling jedoch die Überhand,
sind stärker. Es wird von Ihnen geprägt, auch gegen sich selbst. Allein
durch das Größenverhältnis, hier die großen Eltern, dort das kleine Kind,
wird dies deutlich. Wem glaubt das kleine Kind mehr, sich selbst oder der
Mutter? Also bleibt ihm nichts anderes möglich als mitzuspielen auf der
Basis der Eltern. Das sind seine basalen Erfahrungen, und auf diesen baut es
seinen psychischen Apparat auf, der es ein Leben lang begleitet und
bestimmt. Es hat selber Wut und Angst und strickt also selber an diesem
Webmuster mit. Da es keine Empathie empfangen hat, hat es keine in sich und
wird sie auch nicht gegenüber anderen haben.
Wie können Kinder, die in der Tradition der meistgelesenen pädagogischen
Bücher des Orthopäden Schreber mit dem Motto "der Wille des Kindes ist um
jeden Preis zu brechen!" Empathie für andere Menschen haben. Für sie hat
auch kein Mensch in ihrem Sinne Empathie gehabt, und so können sie es auch
nicht für andere haben. Dadurch erkläre ich mir innerhalb unserer Kultur
hauptsächlich die Ursache der Kriegsverbrechen und den Holocaust an den
Juden. Die Juden wurden stellvertretend für die Eltern bestraft. Oder wie
können Frauen, die selber sexuell verstümmelt wurden, Empathie für das Leid
ihrer Töchter haben, bzw. sie fühlen sich empathisch in die Töchter ein, wie
ihre Mütter sich in sie hinein gefühlt haben. Ihre Mütter hatten für sie in
ihrem Sinne kein liebevolles Verständnis, und so geht das entsprechend der
Kultur von Generation zu Generation fort. Natürlich stehen Ängste und Wut
dahinter, etwa ihre Tochter könnte keinen Mann finden oder wäre sexbesessen
und mannstoll und dann wird zu derartigen drastischen Mitteln gegriffen. Man
könnte diese Tatsache auch unter dem Aspekt sehen, dass sie für selbst
erlittenes Leid Vergeltung üben, sich an den Kindern stellvertretend für
ihre Eltern rächen.
Bei den Vorgenerationen liegt der Emotionalität ein Weltbild zugrunde,
bei dem die Bewertungen und Bedeutungen eine Hauptrolle spielen. Diese waren
schon vor der Geburt des Säuglings vorhanden, und werden sich von ihm zu
eigen gemacht, zu einer Selbstinstanz. Ab der Sprachentwicklung werden dem
Kind das Weltbild, die Bewertungen und Bedeutungen, vorgelebt und insofern
beigebracht, damit es diese ebenfalls verinnerlicht. Das ist ein
automatischer, reflektorischer und unwillkürlicher Prozess. Die Eltern haben
sie ebenfalls verinnerlicht, und das Kind darf es nicht besser als die
Eltern haben. Das würde Neid der Eltern auf die Kinder bedeuten. Insofern
schwingt der Neid in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern mit und wird
ebenfalls von den Kindern verinnerlicht. Die zugrunde liegenden Bewertungen
und Bedeutungen bedeuten die Kultur in dieser Familie und eventuell des
ganzen Umfeldes wie beispielsweise bei der Sexualverstümmelung. Also
bedeutet diese Verstümmelung nicht nur eine körperliche, sondern auch eine
emotionale und geistige.
Die Emotionen, der Glaube und die Überzeugungen, wobei die Eltern die
Deutungshoheit haben, prägen die Gehirnsstruktur mit seinen Neuronen und
Verästelungen der Dendriten. Sie haben also ein körperliches Substrat und
sind nicht so leicht veränderbar. Man spricht von Vererbung. Zwar bewahrt
das Gehirn bis ins hohe Alter eine gewisse Plastizität und ist veränderbar,
aber je nachdem wie fest die Überzeugungen in der Hirnstruktur verankert
sind, sind sie kaum veränderbar. Deswegen kämpft mein Patient im
fortgeschrittenen Alter mit seinen inneren Geistern und mit sich selbst. Und
mit jedem Emanzipations- bzw. Autonomieschritt tauchen diese inneren Geister
auf. Er steht sozusagen mit einem Bein bei den Eltern und mit dem anderen
bei sich selbst, da er die Überzeugungen der Eltern übernommen hat und ihnen
noch glaubt, und wird in diesem inneren Kampf zerrissen. Es ist das
Schicksal eines jeden Menschen, dass er die Gebote und Verbote seine Eltern
verinnerlicht hat, und seine Aggressionen auf die Eltern zu Autoaggressionen
werden.
Das ist die Folge der Sprachentwicklung. In der Sprache kann der Mensch
sich selbst artikulieren, wobei die alten Bilder der Eltern noch vorhanden
sind, und so gerät er in Zwiespalt zwischen sich selbst und dem Umfeld. Die
neuen Bilder bezieht er aus dem erweiterten Umfeld. Wenn diese jedoch
genauso wie die Eltern denken bzw. glauben, hat er keine Chance zu
Alternativen, wie beispielsweise die Beschneidung zur Kultur einer
Bevölkerung gehört.
Der erste Schritt zur Autonomie und Selbstbestimmung findet nach der
Sprachentwicklung im Trotzalter statt, wobei der Trotz, die Verweigerung
oder die Opposition noch keine eigentliche Autonomie darstellen, weil er
noch den Eltern glaubt und sich selbst nicht glaubt, denn ansonsten müsste
er nicht antrotzen, sondern könnte in der Auseinandersetzung seinen eigenen
Weg gehen. Im Trotz wird nämlich das Thema vom anderen her bestimmt, und der
Andere ist ja in ihm. Der Trotz führt also zu einem Zwiespalt,
Selbstzweifeln und einer Zerrissenheit.
Auch die Selbstbestrafung ist ein solcher Mechanismus. Die Strafe bedeutet
eine Wiedergutmachung, so dass das Kind in den Augen der Eltern sozusagen
gesühnt hat. Das Kind hat die Strafe verinnerlicht, und so wird die Strafe
zu einer Selbstbestrafung in Verspannungen und Schmerzen. Er macht sozusagen
eine mittelalterliche Selbstgeißelung. Mit der Selbstbestrafung fühlt sich
das Kind emphatisch in die Eltern ein. Dafür wünscht es sich eine
Honorierung und Lob. Dies unterbleibt jedoch, da es für die Eltern eine
Selbstverständlichkeit und ihnen dasselbe widerfahren ist.
Trotz und Selbstbestrafung sind als höchst unglückliche Mechanismen. Sie
führen zu Schmerzen und Verspannungen, ja sogar zu
Autoaggressionskrankheiten über die gesamte Krankheitspalette. Eher führt es
weiter, sich diese Mechanismen klar emotional vor Augen zu führen, daß es
den Eltern auch nicht besser erging, sie auch nicht anders konnten. Rational
nützt nichts, da die Prozesse viel zu stark verankert sind. Das ist ein
schwieriger und langer Prozeß, in dem es immer wieder hin und her zwischen
Trotz, Verweigerung und emotionalen Verständnis und Fortschritt schwankt,
wie an dem Patienten ersichtlich. Den Begriff „liebevolles Verständnis“
brachte der Patient selbst als seine Fähigkeit ein, die zur Überwindung der
Verspannungen führt und mit dem er einen Ausgleich zwischen sich und dem
Umfeld schafft.
Ich selbst führe lieber den Begriff der Selbstakzeptanz an, dass ich mich
selbst akzeptiere, selbst liebe, wertschätze oder anerkenne, egal wie meine
Gefühle sind, ob ich wütend bin, irrationale Ängste oder Haß habe und wie
sehr ich angegriffen werde. Irrational heißt nach meinen gegenwärtigen
Bewertungen und des Umfeldes, die aber frühkindliche Hintergründe haben.
Wenn mir das Umfeld beispielsweise eine Peinlichkeit zuschreibt, muß ich
nicht mehr alles tun, damit die Peinlichkeit nicht in die Augen der Anderen
tritt und habe nicht mehr so viel Ängste. Wenn ich mich voll und ganz selbst
akzeptiere, kann ich differenzieren, es ist für diese peinlich, dass sie
derartigen Bewertungen huldigen. Von der Warte der Selbstakzeptanz kann ich
mich selbst und das Umfeld in aller Ruhe in den Stürmen des Lebens
betrachten. Ich kann differenzieren zwischen mir und dem Anderen und sagen,
wie ein früherer Patient sagte, „ich gebe ihnen recht, aber nur für sie, ich
sehe das ganz anders“. Man muß dann nicht mehr mit sich hadern, ob ich
diesen oder jenen Fehler gemacht habe. Man kann sagen, zur Natur des
Menschen gehören auch Fehler und Schwächen und, was ein Fehler oder eine
Schwäche ist, bestimme ich selbst.
Der Patient sah als Kind in den Augen seiner Mutter Schmerz und Leid, sobald
er eine Lebendigkeit, Jungenhaftigkeit und Männlichkeit entwickelte, und
wäre er noch mehr lebendig gewesen, hätte sich das Leid der Mutter
verstärkt. Hätte diese Mutter nicht mehr Lebendigkeit zulassen können, ohne
sich selbst gefährdet zu sehen? Viele Mütter können das. Aber diese Mutter
nicht, und auf diese Mutter war er total angewiesen. So hatte er sich
empathisch in die Mutter hinein gefühlt, und hatte auf seine eigene
Lebendigkeit verzichtet. Es war der bestmögliche Weg. Früher waren das seine
Stärke und eine konstruktive Lösung. Heute in späteren Zusammenhängen ist
die Kultur seine Kindheit das nicht mehr. Aber jeder Mensch wird in seiner
Kindheit geprägt. Das Größenbild, über allem erhaben zu sein, das noch in
ihm steckt und ihm Probleme macht, auf das kann er verzichten, aber fordert
es noch ein. Er kann in einem langen Weg durch Differenzierungen zwischen
früher und jetzt seine Lebendigkeit und Männlichkeit zurück gewinnen. Die in
der Kindheit eingeprägten Bilder sind zeitlebens noch sehr präsent. Im
Bekanntenkreis kann er das, aber im Job, Frauen gegenüber und in der Familie
ist er noch sehr gehemmt. Er kann noch nicht genügend vor sich selbst
begründen und für sich selbst argumentieren.
Hinzu kommt, dass die Eltern selber das Opfer ihrer Prägung waren und sich
erhofften, daß das Kind anders ist, nicht mehr die Probleme hat und sie und
sich aus diesem Dilemma heraus führt, also mit gutem Beispiel voran geht,
indem es sich wehrt und trotzig ist. Die Eltern provozieren sozusagen den
Trotz. Dann können sie sich mit ihm identifizieren und werden aus ihrem Leid
heraus geführt. Das Kind ist also ein Erlöser. Andererseits wollen alle
Eltern, dass es ihrem Kind besser als ihnen geht, in Ambivalenz dazu, dass
es dann ihren Neid hervorruft und sie sein Wohlergehen dann wiederum
zerstören. Der Patient hat also einen mehrfachen Auftrag, in dem er völlig
zerrissen ist.
Ursprünglich war all das, was ihm an Prägungen und Verinnerlichungen nicht
gut tat, etwas fremdes, da es von außen kam, und doch so vertrautes. Er muß
vor diesen Dingen Angst haben, wütend darauf sein oder Haß haben. Da aber
die Eltern auf der anderen Seite höchst vertraut sind und er sie
verinnerlicht hat, er auch nicht auf ihre Gunst verzichten kann und sie
schützen muß, muß er einen anderen Weg wählen, nämlich den der Projektion,
um die Angst oder den Haß nach außen zu bringen. Dadurch erkläre ich mir die
während der Flüchtlingswelle besonders verbreitete Fremdenangst und -hass,
wobei das Fremde schon lange in ihnen steckte. Andere verarbeiten ihre
Schuldgefühle in einer Art Gegenreaktion in einer Willkommenskultur, wobei
nicht alle eine schlimme Kindheit hatten. Das Fremde übt ja eine gewisse
Attraktivität aus, gerade für denjenigen, der in einem starren Muster
verfangen ist.
Ich habe mich oft gefragt, warum der Patient in seiner Zerrissenheit nicht
ernsthaft organisch erkrankt ist. Anscheinend war die vorübergehende
Geborgenheit bei der Oma überlebenswichtig, obwohl er sich ihre Hasstiraden
auf die Männer anhören musste. So einer sollte er nicht sein. Vielleicht ist
auch für ihn lebensrettend die langjährige Beziehung zu einem Therapeuten.
Von: Bernd
Holstiege