Weltexpress
Nachrichten aus aller Welt
Wissenschaft, Mensch, Leib & Seele
27. Juli 10 , 18:28
Die Wiedergutmachung in der Nachträglichkeit und die
Kunst des Nichtwissens-
Serie: Die Triangulierung oder die innere Dreierbeziehung – die innere Geburt
des Individuums und Subjekts und die assoziative Kommunikation (Teil 1/3)
Frankfurt am Main (Weltexpress) - In den ersten beiden Teilen
der Serie hatten wir uns einführend mit Konzepten der Triangulierung, den
Voraussetzungen wie dem Urvertrauen, der inneren dritten Position, der
Wahrnehmung und der Psychotraumatisierung und deren Folgen beschäftigt. Im
dritten Teil sollen Möglichkeiten der nachträglichen Wiedergutmachung im Sinne
der Selbsttherapie dargestellt werden.
Triangulierung als Wiedergutmachung in der
Nachträglichkeit
Wächst der Mensch in einem
optimalen Umfeld auf, hat er keinerlei Grund zur Wiedergutmachung, Tröstung,
Beruhigung oder Verzeihung. Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Jedoch ist das
äusserst selten der Fall, wie der häufige, verbreitete Streit und
Stigmatisierungen und Ausgrenzungen schon zeigen. So sehr das Ideal der guten
Mutter und der guten Eltern angestrebt wird, so wenig kann es erfüllt werden.
Ideale wie das der heiligen Familie bestehen ja auf gegenteiligem Hintergrund,
sonst wären sie nicht nötig. Allein das Rechtssystem in allen Kulturen besteht
aus Schuld und Stigmatisierung, stellt also eine weitere Traumatisierung dar,
und die Strafe als Wiedergutmachungsform bestätigt allerdings die Schuld. Im
späteren Leben sorgen schon Umstände und andere böse Mitmenschen, dass eine
Wiedergutmachung notwendig wird. Die Frage ist, auf welchem Niveau diese sich
abspielt.
Da die innere Welt immer mit
anderen Augen gesehen wird und die Aussenwelt sich ständig wandelt, auch wenn
der Mensch noch so sehr bemüht ist, diese aufzuhalten, geschieht es, dass er
immer neu seine Befindlichkeit, wie das alles für ihn ist, wahrnimmt. Das ist
ein Prozess, der schicksalhaft unentwegt abläuft. Insofern findet während des
gesamten Lebens eine innere
Neuorientierung als Individuum und Subjekt statt, die man als innere Geburt
bezeichnen kann. Zur Veranschaulichung habe ich deshalb im ersten Teil der
Serie beispielhaft das Gesetz von der Verschiedenartigkeit und Subjektivität der
Wahrheit dargestellt.
Ich vergleiche gerne diese
lebenslange innere Geburt mit dem Aufwachen aus einem Traum. Beim Aufwachen
findet eine Realitätsprüfung statt. Der Träumer vergewissert sich und
unterscheidet dabei zwischen Traum und seiner Realität. Da das Leben in den
Bewertungen und Bedeutungen erstmal automatisch und meist unreflektiert
abläuft, also wie ein Traum, können diese Selbstvergewisserung und –reflexion
erst nachträglich ablaufen. Diese Geburt kann sich aber auf ganz verschiedenen
Ebenen abspielen, dem der paranoid-schizoiden Position, einer nur rudimentären
inneren Geburt, oder auf einer reiferen, integrierten und differenzierten Stufe
mit sämtlichen Zwischenstufen, beziehungsweise.in verschiedenen Stufen in den
jeweiligen Konflikt- und Lebensbereichen
Da das Alte verfällt,
Vergangenheit wird, höchstens noch in der Erinnerung weiter lebt, kann man auch
von einer Vergänglichkeit und einem Tod sprechen. Als intrapsychischer Prozess
laufen wie im Aussenraum also Geburt und Tod immer nebeneinander ab. Nur die Erfahrungen
und Inhalte der Psychotraumatisierung haben die Tendenz, wesentlich mehr als
die übrigen Erfahrungen, weiter unheilvoll, eventuell ewig je nach
Einprägungsgrad bis zum körperlichen Tod in der Psyche zu leben. Durch die
mangelnde Entfaltung in der Abwehrstrategie und die fehlende Offenheit für neue
Eindrücke ist der Traumatisierte in Teilbereichen seiner Psyche tot, wobei
dieser Tod fortleben kann. Auch haben die Reaktionsbilder und –formen auf
Traumata, die Grössenbilder, die Neigung, wie etwa in Religionen unsterblich zu
werden
Wir sind alle mehr oder
weniger traumatisiert, so dass die Dinge zuerst einmal automatisch ablaufen.
Man denke nur an die Schreber’sche Erziehung. Da brauchen wir uns nichts
vorzumachen. Bei Eindrücken, späteren Erfahrungen laufen erstmal die alten
Bilder, Bewertungen und Assoziationen automatisch ab. Das, was geschehen ist
und an dem der Mensch mitgewirkt hat, kann er aber nachträglich betrachten und
bearbeiten. Das geht aber nur im Zustand der Gelassenheit, nicht im Zustand der
existentiellen Bedrohung. Etwa muss der Angstkranke die Augen vor seinen
Ängsten verschliessen, da er in ihnen die Realität fürchtet. Diese Nachträglichkeit – ich verwende den
Begriff anders als Psychoanalytiker, die in der Nachträglichkeit die
Veränderung von Erinnerungen durch spätere Erlebnisse sehen – kann eine erneute
Geburt und Chance darstellen.
Da bei den
psychotraumatischen Prozessen meist die Selbstentwertung in allen ihren Formen
im Zentrum steht, ist die wichtigste Voraussetzung der Wiedergutmachung die Selbstachtung, -wertschätzung oder –anerkennung.
Nur dann kann man ohne Aufregung gelassen seine eigene Situation betrachten. Man
denke nur daran, alles Schlechte, auch die eigene Person, hat ebenfalls seine
guten Seiten. Wenn man sich schlecht, entwertet oder als Versager vorkommt, mag
es sich auch wie ein roter Faden durchs eigene Leben ziehen, gilt es trotz
aller negativer Selbstbilder sich selbst zu achten. Man kann sich klar machen,
es handelt sich um Bilder und lange noch nicht um Realitäten. Schliesslich
kommen diese aus früheren Erfahrungen, sind oft von aussen eingeprägt und zum
Selbst geworden. Es gilt also vermeintliche Realitäten wieder in den Bereich
der Bilder, Assoziationen, des Denkens und der Phantasie zu transformieren.
Hält man sich vor Augen, dass
jeder Mensch aus fast unendlich vielen sichtbaren, unsichtbaren und unbewussten
Gründen handelt, auch beim schlimmsten Verbrechen, wo er irgendetwas Gutes,
zumindest einen Kompromiss schaffen möchte, sein Handeln durch diese
Erfahrungen determiniert ist, handelt jeder Mensch immer und grundsätzlich nach
bestem Wissen, egal auf welchem Niveau. Besser weiss er es nicht. Auf diesem
Hintergrund der meist unbewussten Erfahrungen handelt er fehlerlos. Ihm dann
Fehler und Schuld zuzuweisen, ist eigentlich eine Unverschämtheit. Allein diese
Erkenntnis ist schon eine Korrektur und Wiedergutmachung und kann Trost und
Verzeihung beinhalten. Außerdem kann er sein Wissen erweitern und das
Nichtwissen aushalten. In dem Wort Gewissen steckt das Wort Wissen. Wer ein
schlechtes Gewissen hat, hat ein schlechtes Wissen. Man denke auch an die
Verschiedenartigkeit und Wandelbarkeit von Wahrnehmung und Wahrheit. Das Wissen
ist erweiterbar und kann zu weniger schlechtem Gewissen führen.
Die abgelaufenen Geschehnisse
können nachträglich bearbeitet und in der Innenschau, Bewertung und Bedeutung dadurch
verändert werden. Die grösste Chance besteht im emotionalen Vorgang des Erstaunens, der Überraschung oder der Verwunderung.
Eine angenommene Realität erweist sich als nicht richtig. Das setzt aber die
Akzeptanz der neuen Realität voraus und erweitert das Blickfeld. Das Wunder
lässt die Neurone spriessen und die psychischen Differenzierungen ausbauen, kann
Hoffnungen und Selbstvertrauen schaffen. Das Erstaunen hat mir schon oft weiter
geholfen, beispielsweise in meinen zwanziger Jahren, als ich feststellte, dass
ich anders war, als meine Mutter immer gesagt hatte. Das Erstaunen wies darauf
hin, dass ich daran geglaubt hatte. Im Falle der Nichtakzeptanz heisst es etwa
„kann nicht sein!“, und die alte, eingebrannte Wahrheit lebt fort. Rechthaber
und Absolutisten haben im Leben schlechte Karten und rufen Streit und Zerstrittenheit
hervor.
Ist man in einem Prozess der
Sorge und Angst verstrickt, können andersartige eigene Erfahrungen weiter
helfen. Man kann sich vor Augen führen, dass ähnliche Ängste schon vorher
bestanden, aber im Nachhinein unbegründet waren. Das kann nachträglich zu mehr
Sicherheit und Beruhigung führen. Dabei können die Aussagen anderer auch
nützlich sein, die diese Sorgen und Ängste nicht teilen. Ich kann mich an einen
Patienten erinnern, der seine Ängste in der Gruppe schilderte. Ein anderer
Patient fragte trocken, wovor er denn wirklich Angst habe. Auf seine Erklärungen
erwiderte der Andere wiederum trocken „davor habe er überhaupt keine Angst!“
Diese trockene Erwiderung war nach meinem Eindruck für den Patienten nützlicher
als alle therapeutischen Interventionen.
Alle Traumatisierungen bieten
die Chance auf eine innere Neuorientierung und innere Geburt wie der Streit,
die Verwirrung, die Unsicherheit, die Dramatisierung und Katastrophisierung.
Nachträglich kann man die Neigung feststellen, immer gleich den Teufel an die
Wand zu malen, das Schlimmste zu befürchten, was dann gar nicht so schlimm ist
oder durch eine Neubewertung seinen Schrecken verliert, etwa eine Schwäche zu
haben oder einen Fehler zu machen, wofür viele Menschen zur Vermeidung den
allergrössten Aufwand betreiben. Schwächen und Fehler sind menschlich, und der
Mensch ist in diesen Fehlern das höchste Wesen auf Erden. Nachträglich kann
auch die Differenzierung zwischen Phantasie und Realität und die Symbolisierung
erfolgen.
Gerade die Unsicherheit
bietet Chancen, wenn man sich vor Augen führt, dass in Gegenwärtigem und der
Zukunft fast nie Sicherheit herrschen kann. Auch in der Vergangenheit kann man
oft nicht sicher sein, dass es so gewesen ist. Immer gibt es Dinge, an die man
nicht gedacht hat, die Unwägbarkeiten des Lebens, während bei der Bedrohung die
Sicherheit oft die Tragik darstellt. Ein Patient schilderte mir das verdutzte
Gesicht seines Chefs, als er diesem recht gab, aber nur für sich, er selbst sei
anderer Meinung. Die Menschen suchen Sicherheit in Astrologie, der Medizin, dem
religiösen Glauben und bei Propheten und Orakeln. Im berühmten Beispiel der
Ödipussage, für Freud die Symbolik seiner Psychoanalyse, geschahen die
tragischen Dinge wie Inzucht und Vatermord gerade durch die Sicherheitssuche,
das Aufsuchen der Orakel, ohne deren Prophezeiungen beides kaum eingetreten
wäre.
Die Tatsache der menschlichen
Ambivalenz kann auch tröstlich sein. Alles Böse hat auch seine guten Seiten,
die man zwar oft nicht kennt, die aber sicher vorhanden sind. Krankheiten
können die Chance bieten, den eigenen Lebensweg zu überdenken, etwa beim
Burnout oder dem Rückenschmerz, beides Volkskrankheiten, die Ziele und
Bemühungen nicht zu hoch zu setzen, sich nicht zuviel aufzuladen, mehr „nein“
zu sagen und vom Perfektionismus loszulassen, also fünf mal gerade sein zu
lassen, und mehr mit sich und dem eigenen Leben einverstanden zu sein, also
nicht an sich herumzumäkeln oder dieses von anderen zuzulassen und in sich
aufzunehmen. Das kann wie eine Neugeburt sein und stellt eine Wiedergutmachung
dar. Ein Krebskranker, dem diese Umstellung gelingt, kann noch geheilt werden.
Im Falle der
Selbstbetrachtung als böse, schuldig oder hässlich, kann man sich vor Augen
führen, dass man sich nicht immer in dieser und gleichen Weise betrachtet hat,
dass dies eine Momentaufnahme ist, auch wenn sie noch so oft durchgängig
herrschte, es gegenwärtige innere Bilder, Perspektiven und Symbole oder von
aussen kommende Zuschreibungen sind, die wiederum den Bildern anderer
entsprechen. Man kann sich vor Augen führen oder hört es auch im späteren
Leben, dass nicht alle Menschen diese Bilder teilen, oft sogar im vermeintlich
Negativen das Positive sehen.
Im Falle von Vorwürfen oder
Beschuldigungen ist es oft nützlich, den Anderen zu betrachten und sich
Gedanken über dessen Motivationen und Hintergründe zu machen. Dann erscheinen
die Vorwürfe in einem neuen Licht, und es besteht eine neue Chance. Es findet
eine innere Neugeburt statt. Ich erkläre den Sachverhalt gerne an der Geste des
offen vorgestreckten Fingers „Du, Du…!“. Wird die Hand umgedreht, zeigen drei
Finger auf den Vorwerfenden zurück. Der Unterschied besteht in einer verdeckten
oder einer offenen Kommunikation. Wenn sich der Leser veranschaulicht, er macht
Vorwürfe, aber der Adressat führt diese auf ihn selbst zurück, wird er merken,
dass ihm dies Vorgehen überhaupt nicht recht ist. Vorwürfe anzunehmen und die
Gründe und Schuld bei sich selbst zu suchen, verbessern zwar das Klima zum
Vorwerfenden, dieser fühlt sich bestätigt, verschlechtern aber das Binnenklima.
Vorwürfe sind also immer schlecht und belasten die Beziehung und Harmonie. Aber
es ist wichtiger, mit sich selbst im Reinen zu sein als mit anderen - und mit
sich selbst im Unreinen.
Deswegen hat Alice Miller das
Buch geschrieben „Du sollst nicht merken!“, bezieht sich aber mehr auf das, was
die Eltern mit einem depressiven Kind gemacht haben. Im kulturellen und
gesellschaftlichen Kontext ist die Betrachtung anderer ein Tabu, obwohl es
ständig durchbrochen wird und üblich ist zu sagen, „das macht oder sagt er nur
deswegen, weil… , er es nötig hat…“. Sogar in der Psychoanalyse und
Tiefenpsychologie lebt dieses Tabu oft fort, indem sich ausschliesslich mit dem
Innenleben des Patienten, aber nicht mit dem vermutlichen Innenleben des
Umfeldes, vor allem der Eltern, obwohl dies prägende Rückwirkungen für den
Patienten hat. Aber auch im späteren Leben ist man ständig den Einflüssen
anderer ausgesetzt, und dann ist es immer nützlich andere auf ihre Motive hin
zu betrachten. Diese kann man zwar nie so genau wissen, aber wissen, dass diese
vorhanden sind und sich darüber Gedanken machen. Das erhöht auch den Reiz des
Lebens
Wenn jemand die eigene Person
schlecht macht, etwa ein Mann eine Frau oder umgekehrt, ist es ebenfalls
nützlich, den Anderen zu betrachten. Oft steckt dahinter, dass ein Mann bei
einer für ihn tollen Frau meint, er käme bei ihr nicht an, weil er sich selbst zu
schlecht sieht. Durch diesen Vorgang kann der Entwertende sich besser und aufgewertet
fühlen, und die Frau ist für ihn nicht mehr attraktiv, so dass die Spannung der
Frustration eher erträglich ist. Hinter der Fremdentwertung stecken also eine
Fremdaufwertung und eine Selbstentwertung.
In der biblischen
Schöpfungsgeschichte ist dies Tabu gut veranschaulicht. Die Gründe der Gebote
und Verbote Gottes bleiben im Dunkeln. Gott ist unantastbar. Gottes Gründe
werden am Menschen festgemacht, dessen selbstbestimmte Handlungen des Teufels sind
und auf frevelhafte Gottgleichheit und Selbsterkenntnis vom verbotenen Baume
der Erkenntnis zurückgeführt werden. (Der Leser möge verzeihen, ich hab’s nun
mal mit Mythen und der Religion, da sie so wunderbar die Schicksale der
Psychotraumatisierung veranschaulichen und ihre Übersetzung in den heutigen Alltag
erkenntnisreich ist.)
In psychoanalytischen und
tiefenpsychologischen Therapien wird grosser Wert auf die Erinnerungen und
Prägungen in der Kindheit gelegt, die Einstellungen, Worte und Handlungen der
Eltern. Hilfreich kann sein, sich vor Augen zu führen, dass die gegenwärtigen
Probleme nur bestehen, weil die Eltern keine guten, förderlichen Eltern waren.
Wären sie anders gewesen, hätte man nicht diese Probleme. Die fehlenden guten
Eltern kann man auf Dauer durch sich selbst und die eigene Differenzierungs- und
Integrationsfähigkeit oder spätere positive Bezugspersonen sozusagen als
Ersatzeltern ersetzen und Menschen mit negativem Einfluss meiden. Das kann dazu
verhelfen, andere Standpunkte zu vertreten und neu zu bewerten und zu orientieren,
und wer sich vorher schlecht fühlte, kann sich besser und befreiter fühlen. Ich
höre oft in Therapien „so habe ich das noch gar nicht gesehen!“.
Andererseits komme ich mir in
meiner inneren Reaktion auf den Patienten oft wie ein Märchenerzähler vor. Die
Dinge und Menschen anders und positiver zu sehen, ist für mein Gegenüber
unvorstellbar und wie ein Märchen. Aber auch diese innere Reaktionsform kann
angesprochen werden und zu einer Unterscheidung von Märchen und gegenwärtiger,
subjektiver Realität führen.
Wenn mir Patienten Probleme
schildern, frage ich gerne, woher ihrer Meinung nach diese kommen. Meist höre
ich „weiss ich nicht!“. Leite ich sie an, einfach ihre Phantasien und
Assoziationen spielen zu lassen, kommt oft eine fundierte Antwort, die die
Hintergründe anspricht, und darauf
basierend kann das Gespräch fortgesetzt werden. Dies ist im
therapeutischen Prozess ein kleines Beispiel der assoziativen Kommunikation. Assoziationen
befreien also, während Wissen behindert und blockiert. Sich der Wandelbarkeit, den
Unwägbarkeiten des Lebens, den Zufällen, dem Unsichtbaren zu überlassen, nicht
alles zu planen und vorher bestimmen zu wollen, ist die Kunst des Lebens, die Kunst des Nichtwissens. Dies setzt
allerdings Selbstvertrauen und die Unterscheidungsfähigkeit voraus, wo man
vertrauen kann und wo nicht. Hat man sich geirrt und zuviel vertraut, sich
dadurch Nachteile eingehandelt, ist das halt so, und man sollte es sich nicht
übel nehmen und vorwerfen. Dadurch verschlimmert man die Situation.
Meiner Erfahrung nach können
Ängste mit den Begleiterscheinungen wie Schweiss oder Verspannungen, sobald man
sie sich nur eingesteht, oder Kopfschmerzen, sobald der Ärger und die Wut akzeptiert
werden, wie von Zauberhand verschwinden. Sogar Krebs kann einen gutartigeren
Verlauf nehmen oder geheilt werden, wenn man mit sich selbst und seinem Leben
einverstanden ist und es einfach weiter lebt, eventuell mit kleinen
Veränderungen, und nicht in Katastrophensicht und Verzweiflung verfällt.
Psychoanalytiker lassen gerne
ihre Patienten zu ihren Träumen phantasieren und assoziieren, um so durch die
Deutung des Traumbildes und der Assoziationen zur subjektiven Realität des
Patienten zu kommen. Durch die Zuschreibungen, Bewertungen und Bedeutungen
halte ich das gesamte Leben und dessen Realitäten für einen Traum oder besser
ein Traum-Analogum. Durch die Psychotraumatisierung und deren ausschliessliche
Ausrichtung auf Bedrohungen und deren Verhinderung und die Herrschaft der
Mechanismen und Automatismen - je
grösser die Bedrohungen sind, desto schneller und rigider müssen diese sein - ist
das Assoziieren massiv eingeschränkt. Man kann auch von determinierten
Freiheitsprozessen sprechen. Das Assoziieren kann allerdings nachträglich in
der Triangulierung unter günstigen Umständen, wenn die Traumata nicht allzu
sehr eingeprägt sind, wieder gut gemacht werden. Dazu soll diese Artikelserie
einen kleinen Beitrag leisten.
Ich mache das aber nicht nur
für einen potentiellen Leser, sondern auch für mich selbst, um mir diese
Zusammenhänge klarer zu machen. Das macht Spass. Manches ist für mich seit
Jahren ziemlich fixiert. Aber unter anderen Perspektiven sieht es immer ein
wenig anders aus, und ich bin immer neuen Einflüssen und Anregungen ausgesetzt,
die meine Perspektive verändern. Ich schreibe lieber in einem Medium wie einer
Online-Zeitung, etwa dem Weltexpress, weil ich dort besser assoziieren kann. In
einer Fachzeitschrift müsste ich mir eine Uniform anlegen, die der
Wissenschaftlichkeit, nach bestimmten Kriterien schreiben, Quellen, die ich oft
nicht mehr weiss, und Autoren zitieren. Das halte ich für Zeitverschwendung
gegenüber dem freien Assoziieren und dem Erfahrungsaustausch.
Die Triangulierung kann ein
schwieriger und langwieriger Prozess sein. Sie ist ein lebenslanger Prozess.
Aber wer nicht wenigstens einiges hinkriegt, hat es im Leben noch schwerer,
leidet weiterhin an seinen Konflikten, Kreisläufen und Krankheiten bis zu einem
möglichen vorzeitigen körperlichen Tod.
Die Heilsversprechen der
naturwissenschaftlichen Medizin sehen die Ursachen in der Anlage oder in
äusseren Noxen und gehen wenig auf die intra- und interpsychischen Prozesse
ein. Von dieser Form der Wissenschaft leben eine gigantische Medizintechnik-
und Pharmaindustrie, nicht zuletzt eine Ärzteschaft, die sich gerade dort
versammelt, wo am meisten zu verdienen ist, und Kranke, denen es wenig gelingt,
die Fähigkeit der Triangulierung und subjektiven Wiedergutmachung umzusetzen.
Das Thema und die Begriffe Triangulierung
und innere Geburt haben mich schon lange beschäftigt. Inspiriert zu diesem
Artikel wurde ich durch einen Vortrag von Dr. Stepjan Pervan über die
Triangulierung beim FAPP (Frankfurter Arbeitskreis psychotherapeutisch tätiger
Ärzte), in dem wir regelmässig eine Fortbildung veranstalten.
* * *
Siehe auch die Serie über die
Psychotraumatisierung in der kindlichen Entwicklung.
von Bernd Holstiege
Psychotraumatisierung - Die dritte Person und innere Geburt bleibt aus
- Serie: Die Triangulierung oder die innere Dreierbeziehung – die
innere Geburt des Individuums und Subjekts und die assoziative
Kommunikation (Teil 2/3) - 27-07-10 13:29
Der Mutter-Kind-Dyade tritt eine dritte Person hinzu - Serie: Die
Triangulierung oder die innere Dreierbeziehung – die innere
Geburt des Individuums und Subjekts und die assoziative Kommunikation
(Teil 1/3) - 21-07-10 09:14