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09. Februar 16 , 17:59
Über die Hintergründe von Zukunftsängsten und -sorgen - Dem
Psychotherapeuten über die Schulter geschaut
Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
Quelle: Pixabay, gemeinfrei, CC0 Public Domain
Meine Devise ist "hast du klagen, Mutter fragen", d.h. ich klopfe erstmal
die Mutterbeziehung ab, weil von dort sehr viele Ängste kommen. Ich fragte
also nach der Mutterbeziehung, und er sagte, er erzähle ihr von seinem
Leben schon lange gar nichts mehr, da sie immer das schlimmste sehe und
befürchte. Er nehme dabei Rücksicht auf die Mutter, aber auch auf sich
selbst, da diese nur seine Ängste steigern würde. Obwohl er mit ihr
mehrfach in der Woche telephoniere, verheimliche er ihr seine Ängste.
Weihnachten sei er mit ihr ein paar Tage nach Süddeutschland gefahren, um
seinen Onkel zu besuchen. Dieser lebe obdachlos in einer miserablen
Unterkunft. Während der Fahrt habe er sich im Gegensatz zu sonst
ausnehmend wohl gefühlt, er erläuterte, daß Mutter’s Ängste sich auf den
Onkel konzentriert hätten, und er aus dem Schneider war. Der Onkel sei
selbst an seiner Lage schuld, da er nichts tue, um sein schlimmes
Schicksal abzuwenden.
Von dem Patienten weiß ich, daß er seinen zwar strengen Vater sehr
bewunderte, da er fleißig und erfolgreich gewesen war. Er selbst arbeite
auch rund um die Uhr, gönne sich kaum einen Urlaub, da er den doch nicht
genießen könne. Seinen Schlaganfall vor 2 Jahren führe er auch darauf
zurück, da er die Arbeit favorisiert und diese den Mittelpunkt seines
Lebens gebildet habe. Er befürchtet selbstverständlich einen 2.
Schlaganfall, und der ist meist schlimmer als der 1. Ich selbst gerate im
Angesicht dieses Patienten auch selbst in Spannung. Sein Druck überträgt
sich auf mich, und ich ertappe mich dabei, ich wäre froh, wenn ich ihn los
werden könnte. Normalerweise wird so ein Patient weiter überwiesen. So
sehr übertragen sich unerträglichen emotionale Spannungen unter
Erwachsenen, wie viel mehr in einer Mutterbeziehung? Kein Wunder, daß er
ihr nichts mehr erzählte, da er kaum Trost und Beruhigung erlebt hatte.
Aber von früher, seiner Kindheit hatte er diese verinnerlicht und heute
noch übertragen sie sich wortlos. Den Hintergrund bilden meist nicht
faßbare Ängste, die oft schon über Generationen übertragen werden. Sie
suchen sich oft ein Objekt, um sie faßbarer zu machen.
In seinen Ängsten hatte er seinen Onkel vor Augen. Er selbst hatte sich
wie sein Vater arbeits- und erfolgsbetont mit allen Fasern seines Lebens
dagegen gestemmt. Da er aber an seine Ängste glaubt, verhält er sich
entsprechend seinem Glauben und durch die Handlungsumsetzung bestätigt er
sie – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Seine Ängste hat er also
zurecht. Weiterhin hat er das Krebsschicksal seines Vaters ebenfalls vor
seinem inneren Auge, das gleiche Schicksal wie er zu erleiden. Dort
besteht eine Familiengemeinsamkeit, an die geglaubt wird. Man spricht auch
medizinisch von Vererbung, spricht von den Genen. Gegenüber diesem
gemeinsamen Schicksal besteht eine Hilflosigkeit. Diese Hilflosigkeit wird
verinnerlicht, und dann kann nichts getan werden. Gleichzeitig bestehen
krankmachende Schuldgefühle, am eigenen Schicksal selbst schuld zu sein.
Diesen Schuldgefühle hatte er durch Arbeit entgegen zu wirken versucht, um
seinem drohenden Schicksal zu entgehen. Im griechischen Mythos wälzt
Sisyphos unentwegt den Fels herauf, und wenn er kurz oben zu sein scheint,
rollt er wieder hinunter. Das ist die Strafe der Götter. Das wird auch von
außen zugeschrieben und ist schon in ihm selbst. Siehe den Patienten, der
seinem Onkel die Schuld an seinem Schicksal gab.
Des weiteren spielt ein gewisser selbst schädigender Trotz eine Rolle,
eine Autoaggression "wenn du immer behauptest, daß ich ein Versager bin,
dann sollst du recht haben". Das führt auch zur Hilflosigkeit und wegen
der unendlichen Bemühungen zur Hoffnungslosigkeit. Gleichzeitig fühlt sich
das Kleinkind empathisch in die Ängste der Mutter ein und verinnerlicht
diese, umso mehr je überzeugter die Mutter von der Realität ihrer Ängste
ist, und je wohlmeinender sie das Kind vermeintlich schützen muß.
Meist trifft der Trotz die Braven und Angepassten. Das hatte er bewiesen,
als er auf das Recht seines Erbteils verzichtete. Meist steht eine Drohung
im Hintergrund, wehe, wenn nicht... In seinem Fall fürchtete er endlose
Streitigkeiten, weswegen schon die Ehe der Eltern auseinander gegangen
war. Da die Mutter dann arbeiten gehen musste, wurde er von der Großmutter
versorgt und bildete einen Partnerersatz für seine Mutter. Das und seine
verinnerlichten Ängste waren der Grund für seine Mutterbindung, die in den
regelmäßigen Anrufen zum Ausdruck kommt. Im Extremfall bei Psychosen oder
Borderline schützt die Mutter den Patienten vor den Ängsten, die sie ihm
selber gemacht hat. Das erinnert mich an die Maus, die ausgerechnet unter
dem Leib der Katze Schutz sucht - vor der Katze. Aber auch diese Mütter
sind zu verstehen, denn sie sind von den Tatsachen erfüllt, vor denen sie
ihr Kind schützen wollen. Sie sind schon in der Kindheit geprägt, stellen
ihr Verhalten darauf ein und erleben diese Dinge immer wieder. Landläufig
sagt man, Angst ist ein schlechter Ratgeber.
Normalerweise, wenn Mutter und Oma das Kind gleichzeitig versorgen,
ergeben sich Streitigkeiten zwischen der Mutter und der Oma, auf wen das
Kind mehr hört und in den Normen, Geboten und Verboten mehr bezogen ist.
Gleichzeitig kämpft das Kind um seine Mutter und ist froh, wenn es die
Mutter endlich hat – oder die Oma? In dieser erstickenden Atmosphäre
entwickelt das Kind oft Asthma, und die Eltern bieten alle ihre Kräfte
auf, dem Kind zu helfen. Als ich diesen Sachverhalt einem Bekannten, der
in der Kindheit selbst unter Asthma gelitten hat, meinte er bitter „und
wenn sie es geschafft haben, liegen sie sich glücklich in den Armen“ -
Familienharmonie auf Kosten des Kindes. Andererseits wissen es die Eltern
nicht besser. Sie waren halt auch Opfer ihrer Prägung.
Es besteht noch ein weiterer Grund für seine Mutterbindung. Seine Mutter
muß er in allen Frauen fürchten, und da er brav und angepasst ist, ihnen
recht geben muß, muß er die Vereinnahmung der Frauen fürchten. Er hat ja
schon in der Mutter genug von den Frauen. So blieb er ehe-, partner- und
kinderlos. Wenn dann noch die Mutter in den Männern das Böse sieht, wofür
die Streitigkeiten und die Trennung des Vaters sprechen, muß er das
Gegenteil beweisen, dass er nicht so einer ist. Dann ist er leicht
händelbar durch Frauen, ein Softie, und er muß sie vermehrt fürchten, da
er sich nicht mit ihnen auseinander setzen kann. Ein Softie,
Muttersöhnchen ist bei den anderen Männern wenig angesehen. Er wird die
Urteile anderer Männer fürchten, wie er in den Augen der anderen da steht.
Noch ein weiterer Grund besteht für die Mutterbindung. Da er die ewige
Angstübertragung satt hat, möchte er sich gerne von ihr lösen. Dann
bekommt er aber Schuldgefühle, die er fürchten muß, und diese erfordern
wiederum eine Selbstbestrafung, wie sie im Schlaganfall zum Ausdruck kam.
Dann muß er zur Vermeidung der Strafe gebunden bleiben. Schon alleine,
dass er die Mutter aus seinem Leben heraus hielt, impliziert die Schuld
und Schuldgefühle. Des weiteren darf er seine Mutter nicht im Stich
lassen, wo er ihren Partnerersatz bildete, das würde wiederum bei ihm
Schuldgefühle hervorrufen. Auch war es sein kindliches Bestreben, seine
Mutter endlich ganz und gar für sich zu haben, und jetzt hat er sie für
sich. Dann würde sein hochambivalenter Traum enttäuscht.
All diese Verstrickungen bilden den Hintergrund für seine Zukunftsängste.
Ein weiterer mag das normative Verhalten des Umfeldes für ihn haben, das
wenig Verständnis hat. Die Norm ist, dass er in seinem Alter, noch dazu
als Akademiker, verheiratet ist und Kinder hat. Demzufolge muß er sich als
Versager fühlen, und den Versager muß er in den Augen des Umfeldes
fürchten.
Ein hoher Wirtschaftsboss, der sich als Patient zu mir verirrt hat, litt
unter ähnlichen Zukunftsängsten. Er sah seinen sozialen Abstieg voraus und
sich in der Gosse landen. Seinem Vater war es ähnlich ergangen, und seine
Mutter und Tanten hatten ihn hochgejubelt. Als wir seine Ängste Schritt
für Schritt durch phantasierten, und er in der Gosse landete, war er
regelrecht erleichtert, jetzt konnte ihm nicht mehr passieren. Unter solch
starkem Druck hatte er gestanden, dass er sich sogar in der Gosse befreit
fühlte, der Mutter und den Tanten zuliebe.
Ich hatte einen MS-Kranken als Patienten, der unter seiner Einsamkeit
litt. In seiner Sexualität fesselte er gerne in der Phantasie Frauen und
verbrachte viel Zeit mit Videos und in Zuschauerkabinen. Er betrachtete
sein Leben nicht als erfolgreich. In einer Psychotherapieklinik hatte er
eine Frau gefunden, die das mitmachte. Aber schon nach wenigen Versuchen
verloren beide in der Realität die Lust. Wenn er seine Mutter besuchte,
fragte sie ihn nach den Erfolgen in seinem Leben, und er erzählte ihr,
wonach sie so sehr lechzte. Er und seine Mutter waren glücklich. Auf der
Heimfahrt ärgerte er sich über sich selbst, dass er seiner Mutter für
einen kurzen Moment des Glücks etwas vorgespielt hatte. Er war 3 mal
gefesselt, einmal in seiner Form der Sexualität, zum 2. als MS-Kranker in
der Angst vor dem Rollstuhl und 3. von der Mutter bzw. von sich selbst.
Diesem Patienten konnte ich wenig helfen, zu sehr war er gefesselt, außer
dass ich ihm in akzeptierender Weise zuhörte.
Ein Homosexueller sucht mich wegen Examensängsten auf. Er war schon in der
Kindheit von der Mutter, der Großmutter und den Tanten zu einem Tugendbold
hochgejubelt worden. Er raucht nicht, trinkt nicht und lässt auch die
Frauen in Ruhe. Die Frauen in der Familie hatten halt schlechte
Erfahrungen mit den Männern gemacht. Während seines
Sozialpädagogikstudiums qualmte er wie ein Schlot, soff wie ein Loch. Er
favorisierte Darkrooms und Klappen. Wenn er sich mit anderen
herumprügelte, standen die übrigen um sie herum und sprachen
ehrfurchtsvoll vom Kampf der Giganten. Aber er ließ die Frauen in Ruhe,
denn er war homosexuell. Als er ins Examen ging, fiel er durch, und die
Mutter wurde wegen des Verdachts eines Schlaganfalls in die Klinik
eingewiesen. Beim 2. Versuch bestand er. Als ich nach ein paar Wochen
erstaunt nachfragte, was mit der Mutter sei, antwortete er, sie habe
vorsorglich eine Kur angetreten, und er habe sie gut versorgt gewusst. So
eng war er mit der Mutter verbunden, dass sie körperlich in der Angst vor
seinem erneuten Versagen, und er psychisch aus Angst vor der körperlichen
Erkrankung der Mutter reagierten, aber auch, dass Vertrauen eingeflößt
wurde. Auch wird augenfällig, einerseits seine Trotzreaktionen und
andererseits seine tiefe Loyalität zu seiner Mutter.
Alle vier Patienten waren infolge des Prägungsprozesses eng mit den
Müttern und dem Umfeld durch gemeinsame Bilder verbunden. Therapeutisch
gilt es, sich diese Zusammenhänge und Hintergründe emotional klar im Kopf
zu machen. Rational nützt nichts. Dabei sind die Selbstakzeptanz,
-anerkennung, -würdigung und Selbstliebe notwendig, damit den
Schuldgefühlen und den Autoaggressionen entgegen gewirkt wird.
Schuldgefühle sind ja auch schon eine Autoaggression. Durch das
Selbstverständnis, Verstehen von mir selber, wird auch Verständnis für
andere, vor allem sein frühes Umfeld, möglich. Er kann wieder Hoffnung
schöpfen. So sind Loslassen und Verzeihung möglich. Wenn man sich Vorwürfe
macht, muß man sich klar machen, man hat es nicht besser gewusst. Es haben
viele bewusste und unbewusste Gründe, Hintergründe, die sozusagen
selbstverständlich sind, sich automatisch von selbst verstehen, zu meinem
Handeln geführt. Zum Zeitpunkt des Handelns habe ich es nicht besser
gewusst. Im Nachhinein ist man immer schlauer, aber die Besserwisser haben
dann Hochkonjunktur. Bei mir selbst heißt Verstehen auch Akzeptieren, beim
anderen kann ich verstehen, muß es aber nicht akzeptieren, weil es um
meine Belange geht. Ich stehe selbst im Mittelpunkt meines Lebens bei
allem Verständnis für die anderen.
Von: Dr. Bernd
Holstiege