Bulgarische Krankenschwestern und ein Arzt frei gekauft

 

Serie: Über den Aberglauben im Gesundheitswesen (Teil 1/2)

 

Die fünf bulgarischen Krankenschwestern und der palästinensische Arzt wurden in Libyen schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt, weil sie 400 Kinder in mörderischer Absicht mit dem HIV-Virus infiziert und vergiftet hätten. In einer konzertierten politischen Aktion wurden sie nach acht jähriger Haft, in der unter Folter Geständnisse erzwungen wurden, teuer für 400 Millionen frei gekauft. Die politischen Hintergründe des Gaddafi-Systems und wirtschaftlichen Kungeleien, vor allem mit Frankreich, zum Freikauf stehen hier nicht zur Debatte. Der Richter entließ sie mit den Worten „sie werden daheim ihre gerechte Strafe erhalten“. Westliche medizinische Experten sehen die Gründe der HIV-Infektionen in einem wahrscheinlichen Infektionsweg aus dem Tschad und im chaotischen libyschen Gesundheitswesen. Geld ist zwar in Libyen genügend da, aber es fehlt der Kenntnisstand und die Wahrnehmung für die Fortschritte einer westlichen Medizin, so daß ein moderner Aufbau des Gesundheitswesens für die Libyer bisher nicht von Bedeutung ist.

 

Für uns angeblich Aufgeklärte der westliche Kultur ist dieser Vorgang unfassbar und erinnert uns an das ausgehende finsterste Mittelalter, etwa an die Hexenverbrennungen, wo Frauen, da Hygiene und Infektionskrankheiten unbekannt waren, aus religiösen Überzeugungen sozusagen als Sündenböcke für Seuchen und alles Unglück verbrannt wurden. Damals galt das Feuer als reinigende Kraft. Das Unfassbare ist, die libyschen Richter haben offensichtlich an die Vergiftung und die Schuld geglaubt und sahen den Tod als gerechte Strafe. Kaum zu glauben, aber nach unserem Kenntnisstand sind wir der Überzeugung, dass das libysche Rechtswesen an die mörderische Absicht glaubte. Nicht weit von diesen Absichten entfernt, das Böse in der Welt auszurotten, sind in pervertierter Form und weit entfernt von einer komplexen Realität einerseits die Kreuzzüge fundamentalistischer religiös motivierter Selbstmordattentäter, andererseits die Kreuzzüge einer ebenfalls fundamentalistisch religiös getönten amerikanischen Administration. Sicherlich kommen massive finanzielle Interessen hinzu. Die Wahrheit ist also gemäß einer Sündenbock- und Finanzstrategie interessengebunden. Weltanschauung, Religion und Geld gehen eine unheilige Allianz ein. Sicher, es gibt in Libyen auch aufgeklärte, moderne weltanschauliche Richtungen wie die von Gaddafis ältestem Sohn und wahrscheinlichem Nachfolger Saif Gaddafi, der in Europa studiert hat und zugab, dass die Infektionen schon vorher bestanden hatten.

 

Absicht ist hier zu klären, inwieweit anscheinend in anderen Ethnien und Religionen entfernte für uns unfaßbare Vorgänge wie der Glaube an eine Vergiftung auch bei uns wieder zu finden sind. Zur Annäherung: In Südosteuropa, genauer im Kosovo, starb vor ein paar Jahren ein junger Mann an Leukämie. Daraufhin suchte die Mutter eine Wahrsagerin auf, die aussagte, er sei von einer Frau auf der gegenüberliegenden Straßenseite vergiftet worden. Das war die Mutter meines Patienten, des Cousins, der als designierter Angstpatient zu mir kam. Es entbrannte unter Morddrohungen ein Familienkrieg. Er konnte kaum noch das Haus verlassen und nicht arbeiten. Natürlich wohnt die Sippe im Kosovo und in Frankfurt nah beieinander. Unter dem Stichwort Aberglauben erzählte er mir erst in der fünften Stunde von den wahren Hintergründen. Er bemerkte auch, die ganze Familie wüsste, dass der Streit die Ursache seiner Krankheit sei. Daraufhin meinte ich, dann dürfe die Krankheit als friedensstiftendes Bindeglied nicht geheilt werden, woraufhin er bald die Therapie abbrach. Aus unserer Sicht könnte man dazu zwar von oben herab sagen, auf dem Balkan herrschen andere Gesetze.

 

Weiter zu uns: Vor einigen Jahren las ich eine Abhandlung über die Psoriasis (Schuppenflechte, die dritthäufigste Hauterkrankung, die nicht ansteckend ist, bei der es leichte und schwere Verlaufsformen mit Gelenkerkrankungen gibt), in der geschrieben stand, 80 Prozent der Psoriatiker glaubten und glauben noch heute, dass das Umfeld glaube, sie hätten eine ansteckende Krankheit, und noch 50 Prozent glaubten selber, eine ansteckende Krankheit zu haben. Diese Zahlen sind zwar kaum glauben, aber diese Überzeugung spielt offenbar eine eminente Rolle. Die Bedeutung dieser Überzeugung für die zwischenmenschliche Kommunikation, andere anzustecken bzw. angesteckt zu werden, brauche ich nicht extra zu erwähnen. Diese Überzeugung programmiert die zwischenmenschlichen Ängste.

 

Ähnliche Überzeugungsinhalte – an dieser weit verbreiteten Erkrankung stelle ich den Aberglauben exemplarisch dar - spielen bei Angsterkrankungen eine auslösende Rolle. Angsterkrankungen beinhalten Ängste wie allgemeine, diffuse Ängste, in bestimmten Situationen auf der Straße, auf Plätzen, im Kino, also die Platzangst oder Claustro- und Agoraphobie oder vor Angstinhalten wie Spinnen, Schlangen oder allgemein vor Menschen als soziale Phobie, die nicht aus der Situation für den Kranken, das Umfeld und Ärzte rational erklärbar sind. Dazu Erfahrungen aus meiner Praxis: Früher hatte ich Therapiegruppen geleitet. Mehrfach hörte ich  Frauen erstaunt sagen, „Ich versteh’ das nicht, ich bin so unsicher und ängstlich und alle sagen mir, wie sicher und souverän ich bin“. Ich selbst konnte ihnen normalerweise auch nicht die Unsicherheit ansehen. Sie standen ihren Mann im Beruf. Auf meine Frage „Was ist, wenn man Ihnen die Unsicherheit ansieht?“ kam regelmäßig in demselben Wortlaut die Antwort „Um Gottes willen, dann wäre ich unten durch, welche Blamage, das würde ausgenützt!“ Sie leben in einem inneren Widerspruch, einerseits der Überzeugung, dass man ihnen ihre für viele unsichtbare Unsicherheit ansieht, deswegen ihr Erstaunen, können nicht zwischen Innenbild und Außenbild unterscheiden, und nehmen in dieser Überzeugung nicht wahr, dass ihnen kein Mensch etwas ansieht, da sie erfolgreich alles getan haben, um ihre Ängste zu verstecken. Andererseits nehmen sie schon wahr, dass ihnen nichts angesehen wird und sie sich in Sicherheit wiegen können, fürchten aber, dass in der Außenwahrnehmung ihnen ihre Befindlichkeit, ihr innerer bedrohlicher Kern angesehen wird. Zu erklären sind diese Diskrepanzen und Widersprüche dadurch, dass die menschliche Wahrnehmung wie bei einem Facettenauge aus vielen Facetten besteht, sie aber in einer Gesamtschau nicht diese unterschiedlichen Facetten auseinander halten und integrieren können. In einer Wahrnehmung unter Aufhebung aller unterschiedlichen und widersprüchlichen Facetten hätten sie einen offenen Wahn, den es auch als Psychose gibt. Mancher könnte annehmen, die obigen Sätze seien Gerede oder Koketterie, aber diese oft unbewussten Facetten leben sie in diesem Aberglauben, der in ihrer erstaunten Feststellung zum Ausdruck kommt.

 

In ihrer Überzeugung, man sehe ihnen ihre Unsicherheit an, ist sämtlicher zwischenmenschlicher Kontakt die Bühne der Bloßstellung furchtbarer Dinge, und somit muß jeglicher Kontakt gefürchtet werden, der in eine sozialen Phobie münden kann. Besonders werden Zustände gefürchtet, wo nicht zu übersehen ist, dass in ihren Augen mit ihnen etwas nicht stimmt wie Schwindelattacken und Zusammenbrüche, Herz-, Luftnotanfälle oder Schweißausbrüche. In der Schwindelattacke besteht häufig die Überzeugung, das Umfeld glaube, sie seien besoffen. In einem Teufelskreislauf verstärken die Ängste die Attacken und sind nicht mehr mit dem Verstand beherrschbar. Ähnliche Probleme beschreiben übrigens auch Männer.

 

Hier ist nicht die körperliche Ansteckung, sondern die psychosoziale Ansteckung, im übertragenen Sinne ebenfalls eine Vergiftung, die Bewertung der anderen, die Schwäche, Unsicherheit und die Ängste im Angesicht des Umfeldes, die Bedrohung.. Weiterhin können sie nicht die Unterschiede in den Bewertungen verschiedener Menschen realisieren, so daß sie nicht wahrnehmen können, dass manch andere Menschen ganz anders denken können. Für die Angstkranken denken alle Menschen zumindest in den Bedrohungsinhalten das Gleiche. Sie sehen ihre eigenen Verurteilungen in das Umfeld hinein, projizieren diese, können aber nicht ihre Bewertungen wie bei einer echten Projektion an andere loswerden, sondern behalten sie in sich. Die Übernahme der Verurteilungen des Umfeldes nennt man im Gegensatz zur Projektion Introjektion. Durch diese beiden Mechanismen aufgrund früherer meist frühkindlicher (Psycho-) Traumatisierungen, in denen sie durch Projektion und Introjektion geprägt wurden, geht die zwischenmenschliche Abgrenzung verloren. Weiterhin können sie nicht zwischen subjektiver Wahrnehmung  und objektivem Sein „es ist so“ und nicht „es ist für mich so“ unterscheiden

 

Bei einer gelungenen inneren zwischenmenschlichen Abgrenzung ist die Verurteilung des Entwertenden eine Aussage über seine Person, seine Bewertungen und Bedeutungen, wenn er Schwäche als etwas Böses ansieht. Es sind dessen Wertmaßstäbe und somit dessen Schande, peinlich für diesen, dessen Verurteilungen der Entwertete sich nicht zu eigen machen und von denen er sich nicht anzustecken lassen braucht. Aber leider trägt der Angstkranke diese Bilder in sich und ist dadurch für alle Entwertungen sehr empfänglich. Sicherlich sehen manche in Schwächen und Unsicherheiten keinen Makel, sondern als zum Menschen dazugehörig. Für diese Menschen ist der Mensch mit all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten das höchste Wesen auf Erden. In den Augen dieser Zeitgenossen sind die Angstkranken also oft nicht völlig unten durch oder blamieren sich nicht.

 

Die frühkindliche Traumatisierung besteht darin, dass sie in diesem Wertesystem einschließlich der oben angeführten Aufhebung zwischenmenschlicher Grenzen über Generationen hinweg aufgewachsen und geprägt sind. Das frühe Umfeld, oft hauptsächlich die Mutter, hat sie also „vergiftet“ und „verhext“. Darin sehe ich den tieferen Sinn der Hexenverbrennungen. Diese Frauen, die nicht nur ihresgleichen, ihre Töchter verhexen, verhexen auch ihre Söhne, sodaß diese sich zur Abwehr und als Bollwerk gegen die Frauen  in einer Männerwelt zusammen schließen, Frauen nicht in diese, wie etwa in ihre Berufsmännerwelt, hinein lassen und sie am liebsten an den Herd verbannen möchten. Man sieht, ich hab’s mit dem Aberglauben, der Vergiftung und den Hexen.

 

Die tragische Geschichte geht weiter. Wenn jemand wie viele Angstkranke immer nur stark und souverän erscheint, freuen sich andere Menschen, die sich nicht immer stark fühlen, endlich den Starken bei einer Schwäche ertappt zu haben, freuen sich und lachen. Dadurch fühlen diese sich gestärkt und die Angstkranken sich vermehrt geschwächt. Das Lachen und Grinsen anderer, also deren Schadenfreude, ist für die Angstkranken die oben angeführte Ausnutzung. Ihre Schwäche wird in ihren Augen von anderen zu deren Stärkung ausgenutzt. Ein solcher Aberglauben, man könne etwas ansehen, was nicht anzusehen ist, erscheint außerdem vielen Zeitgenossen allzu lächerlich, so daß sie zusätzlich das Lachen anderer im Sinne der Lächerlichkeit fürchten müssen. Auch fürchten die Angstkranken in der zwischenmenschlichen Balance ihre Unterlegenheit und kämpfen um Überlegenheit. Da sie fest an ihre Ängste als Realität glauben, sonst hätten sie ja keine Angst, stehen sie unter einem Rechtfertigungszwang und in einem -kampf, dass ihre Angstinhalte richtig sind und sie recht haben. Sie geraten in einen Kampf, wer recht hat. Wer unrecht hat, ist der Unterlegene und hat verloren, wer recht hat, der Gewinner, sodaß der Unterlegene bis zu Sieg kämpfen muß und jeder Sieg ein Pyrrhussieg, ein teuer erkaufter Erfolg, ist. Manche Angstkranke vertreten deswegen ihre Angstinhalte, etwa, dass sie bedrohlich gemobbt werden und andere ihnen Böses wollen, militant als Realitäten und führen überall, manchmal sehr überzeugend, Beweise für die Richtigkeit an. Ihre Tragik ist weiterhin, dass sie entsprechend ihrer Vorwahrnehmung sich gegen andere wehren müssen, sich diese dadurch zu Feinden machen, dann sekundär recht haben und sich bestätigt fühlen. Ein Leser könnte zum Ergebnis kommen, beim Mobbing handele es ich um eine Folge und Begleiterscheinung der Angsterkrankung. Weit gefehlt, Mobbing tritt auch aus anderen wettbewerblichen Arbeitsplatzgründen auf, und die Hintergründe und Folgemechanismen sind oft schwer zu unterscheiden..

 

Als Folge des Kampfes und Streites sind Familien, wo Angsterkrankungen auftreten, regelmäßig zerstritten. Da andauernder Streit und Kampf herrscht, wird Streit besonders gefürchtet, ist ein so unerträglicher Zustand, sodaß alle die Harmonie suchen. Die heilige, harmonische Familie wird besonders zu Weihnachten, Muttertag und Mutters Geburtstag gefeiert. Aber unter dem Deckmantel der Pseudoharmonie geht der Streit weiter. Dann ist es oft eine Erlösung für alle Beteiligten, wenn einer erkrankt am Boden liegt, das hat eine friedensstiftende Wirkung, nicht nur im Kosovo, und alle sich besorgt um ihn kümmern können. In diesem Zustand sind sich alle einig, der heiß ersehnte Zustand der Harmonie. Manchmal besteht bei Angstkranken nur die Wahrnehmung der Einigkeit und der Streit ist völlig ausblendet. „Böse“ Psychoanalytiker behaupten, dass in anbetracht der Verhältnisse die Erkrankung wegen dieses sekundären Krankheitsgewinns, versorgt zu werden, geradezu gesucht wird. Das weisen natürlich die Kranken weit von sich, sie leiden ja und wollen gesund sein! Das ist sicher auf der bewussten Ebene richtig, aber auf der tieferen unbewussten sieht es ganz anders aus. Wenn zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem Sein unterschieden werden kann, wäre ein Kampf gar nicht notwendig. Jeder erlebt in seiner Weise und alle Wahrnehmungsweisen hätten nebeneinander Platz

 

Angsterkrankungen mit den körperlichen Begleiterscheinungen wie Herzrasen und –stolpern, Luftnot und Brustenge bis zur Tetanie, Schwindel, Schweißausbrüche, Rückenverspannungen, Durchfall, Zittern und Hervortreten der Augen, wobei oft dem Arzt und dem Umfeld nur die Körpersymptome geschildert werden, da die Angstkrankheit die Angst vor der Entwertung beinhaltet, bilden einen Großteil des Patientenguts. Die körperliche Diagnose ist wie eine Erlösung, jetzt haben sie endlich etwas, leider aber einen neuen Aberglauben. Der Aberglauben lebt also mitten unter uns.

 

Zu den Angsterkrankungen siehe den Artikel im griechisch-mythischen Bereich, „Die Ödipussage“ Teil 2

Zur harmonischen Familie siehe den Artikel im biblisch-mythischen Bereich „Die Heilige Familie“

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Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 21.08. 2007
Foto: © (dpa)
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 22.08. 2007