Naturwissenschaft, der neue Aberglaube!

 

Serie: Über den Aberglauben im Gesundheitswesen (Teil 2/2)

 

Der Siegeszug der modernen naturwissenschaftlichen Medizin hat die Infektionskrankheiten entdeckt, diese durch Hygiene und Antibiotika zum Teil gebannt und will vom Aberglauben des finsteren Mittelalter zurecht nichts mehr wissen. Dabei ist diese Medizin aber weit über das Ziel hinaus geschossen und ignoriert völlig den Menschen in seiner seelischen und körperlichen Ganzheit und seinen psychosozialen Beziehungen. Der Mensch wird körperlich unterteilt in verschiedene medizinische Fachgebiete und nach diesen Fachdisziplinen untersucht und behandelt. Es wird versucht, alle Krankheiten naturwissenschaftlich zu erklären und eine ungeheure und teure Apparatemedizin aufgebaut, mit der hohe Profite gemacht werden, die unser Gesundheitswesen an den Rand des Kollapses bringen.

 

Die interessensgeleitete naturwissenschaftliche „Wahrheit“ geht sogar soweit, dass etwa die Ursache der Depression nicht in der Persönlichkeit und seinen Umweltbeziehungen gesehen wird, sondern in einer Transmitterstoffwechselstörung (Transmitter sind in der körpereigenen elektrochemischen Informationsvermittlung Botenstoffe zwischen den Zellen). Dann kann die Industrie gewinnbringend teure Antidepressiva verkaufen. Das ist ein Witz und Aberglauben hoch drei und ist vergleichsweise so, als wenn zwei ein Telefongespräch führen und der Hörer einen Wut- oder depressiven Anfall bekommt, dann soll die Ursache nicht an der Aussage des Sprechers oder Auffassung des Hörers liegen – Depressive haben katastrophal entwertende Auffassungen in sich und unterdrücken ihre Wut bzw. nehmen sie nicht wahr -, sondern am Telefondraht (Nervenstörung) oder der Luftübertragung. Sicher, wenn ein Kissen zwischen Telefonhörer und Ohr gehalten wird, gibt es keinen Wutanfall mehr. Nichts anderes sind vergleichsweise Antidepressiva, die die biochemische Reizleitung blockieren. Aber trotzdem können wir froh sein, dass wir sie haben, denn vielen Depressiven ist wirklich nicht anders zu helfen. Oder -  wie ein Kollege als Vergleich in psychosomatischen Fortbildungen von naturwissenschaftlich-organisch ausgerichteten Ärzten schildert – wenn ein Kind weint, liegt das an einer Tränendrüsenfehlproduktion und nicht daran, dass ihm etwas weh tut. Die letztere verstiegene Behauptung würde natürlich kein Arzt wagen, aber das erstere ist Universitätslehrstoff, und viele Ärzte glauben diesen (Un)Sinn. Um nach den Maßstäben der Rationalität und des gesunden Menschenverstandes der Lächerlichkeit zu entgehen, wählt die naturwissenschaftliche Medizin den Weg vieler Angstkranker, militant mit allen wissenschaftlichen Mitteln ihre Thesen und somit den Aberglauben als objektive Realität zu vertreten.

 

Seltsamerweise hat sich jedoch eine Enklave der Anerkennung der Macht des Glaubens, ja sogar des Aberglaubens, selbst  in Naturwissenschaft, Politik und Industrie erhalten: Im Doppelblindversuch bei der Zulassung von neuen Medikamenten. Dabei werden dem Patienten zwei Formen von Medikamenten verabreicht, einmal Plazebos (wirkstoffreie Pillen) und wirkstoffhaltige Pillen. Weder Arzt noch Patient dürfen wissen, welches Medikament den Wirkstoff enthält. Der Arzt in seinem Wissen würde die Erwartungshaltung und den Glauben des Patienten beeinflussen. Wenn ein Medikament nicht schadet und sounsoviel Prozent die Wirkung des Plazebos übertrifft, ist ein Medikament wirksam und wird zugelassen. Beim Placeboeffekt, der heilenden Wirkung nicht wirksamer Substanzen, ist also die Macht des Glaubens, in diesem Fall des Aberglaubens, und dessen zwischenmenschliche Übertragung anerkannt. In diesem Effekt kann ein Medikament also nur wirken, wenn der Kranke selber an die Wirkung glaubt, der Arzt und das Umfeld in einer Art Dreifaltigkeit glauben. Wenn es nicht in das Weltbild des Patienten oder seines Einfluß ausübenden Umfeldes passt, dieses dagegen redet, kann es nur schwer seine Wirkung entfalten, ebenso, wenn der Arzt schon selbst es ungläubig überreicht und verschreibt. Das ist das Vertrauen in den Arzt. Es handelt sich also um eine Geistheilung mit allen körperlichen und seelischen Folgen. Warum dann nicht gleich zum Geistheiler?! Trotzdem ist jedes Medikament für Überraschungen in positiver und negativer Richtung gut. Um auf dieses Triumphirat oder die Heilige Trias überzeugenden geist- und körperheilenden Einfluß auszuüben, entfaltet die Pharmaindustrie einen gigantischen Werbefeldzug in Werbespots, Anzeigen, Arztbesuchen und wissenschaftlichen Dokumentationen, der reichhaltig finanzielle Umsätze und Arbeitsplätze bietet. Schon allein um der Erhaltung der Arbeitsplätze willen, kann dieses System des Aberglaubens nicht einfach aufgegeben werden.

 

Wie kommt es denn nun zu diesem Aberglauben? Ansatzweise habe ich als Ursache oben schon die (Psycho)Traumatisierung angeführt. Als unheilvolle, oft existenzbedrohende Erfahrung  aufgrund frühkindlicher und auch späterer Erlebnisse, aber auch transgenerationell in Worten und Verhalten überliefert, gräbt sie sich in das Neuronensystem und den Erfahrungsschatz ein und wird zur Grundlage und zum Maßstab für weitere Erfahrungen. Die Macht der Prägungen ist in Volksmundsprüchen wie „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm“ oder „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ festgehalten. Ein jeder weiß, gute Erfahrungen machen Hoffnung und schlechte das Gegenteil. Diese Erfahrungen werden in die Gegenwart und Zukunft hinein gesehen, prägen also das Gegenwartserlebnis und den Zukunftsentwurf, sodaß sie in der Wahrnehmung oft die Überhand gegenüber anderen Erfahrungen gewinnen und als Folge in Gegenwart und Zukunft völlig inadäquat erscheinen, ähnlich wie ein Schlossgespenst, das nach früheren Untaten als Gespenst und böser Geist wieder auftaucht. Diese Geister werden in einer naturwissenschaftlich evidenzbasierten Medizin besonders gefürchtet und tendentiell in die Irrationalität verbannt. Zu recht sind sie irrational auf dem Boden vieler gegenwärtiger Tatsachen.

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Unter der Berücksichtigung der Traumatisierung und der als Folge oft unbewussten Wahrnehmung sind diese Geister jedoch für einen Erfahrenen alles andere als irrational, sondern durchaus gut rational nachvollzieh- und erfassbar. Oft sind auch für nicht direkt einbezogene Laien die Hintergründe und Zusammenhänge gut nachvollziehbar, nur nicht für den Kranken und sein direkt einbezogenes Umfeld. Es gilt der Spruch „Es ist leichter ein Splitter im fremden als ein Balken im eigenen Auge zu erkennen“. Den Nachvollzug könnte ja auch eine naturwissenschaftliche Medizin leisten, vor allem da die Folgen der traumatisiernden Prägungen im Nervensystem in neuen bildgebenden Verfahren  inzwischen abbildbar und naturwissenschaftlich-neurobiologisch nachweisbar sind. Warum tut sie das nicht? Die Gründe sehe ich in einem neuen Aberglauben, nämlich dass der Kranke als Folge seiner Handlungen nach seinen Wahrnehmungen als Täter selbst schuld ist. Diese Schuld ist in der gesellschaftlichen und kulturellen Wahrnehmung fest eingegraben, sodaß sie in Bereiche des unergründbaren Schicksals, des Nichtwissens über die Ursachen von Krankheiten, verbannt werden muß. Sollte der Arzt seinem Kranken die Schuld an seiner Krankheit geben, wird er nicht mehr aufgesucht. In seinem eigenen materiellen Interesse ist er also nicht an einer Aufklärung interessiert. Der Kranke ist an seiner oft frühkindlichen Traumatisierung, in der er ein Opfer der nahen Personen seines Umfeldes, also der Umwelteinflüsse ist, unschuldig, und dann ist es sein Schicksal, alles zu tun, die verinnerlichten Bedrohungen zu vermeiden. Das ursprüngliche Opfer wird zum Täter, aber in meinen Augen nicht schuldigen Täter.

 

In den naturwissenschaftlichen Erklärungen bleiben ohne Berücksichtigung der Traumatisierung viele Ursachen von Krankheiten im Dunkeln. Die Wissenschaftler wissen es nicht und erhoffen sich Aufklärung von weiterer naturwissenschaftlicher Forschung oder finden Ursachen, die schon der gesunde Menschenverstand als unhaltbar ansieht. Wie im obigen Beispiel der Transmitterstoffwechselstörung als Ursache der Depression. Im alleinigen naturwissenschaftlichen Erklärungsmodus werden Millionen Finanzmittel dort hineingesteckt, wo die Ursachen ganz sicherlich nicht zu finden sind. Um diese Lücke zu füllen und zu schließen, sprießen mächtige Schulen der Irrationalität und Esoterik mit den bizarresten Erklärungen, teilweise als ein Religionsersatz, wie Pilze aus dem Boden. Vieles von diesen Erklärungsansätzen verbanne ich persönlich in den Bereich des mittelalterlichen Aberglaubens. Einige dieser Erklärungen passen gut in die Konzepte der Leidenden und die Behandlungen sind erfolgreich, da der Glaube und auch Aberglaube bekanntlich Berge versetzt. Die verschiedensten Erklärungen und Behandlungen möchte ich hier nicht weiter ausführen.

 

Aber, wer weiß, der Mensch ist ein ungeheuer sensibles Wesen und den verschiedensten Einflüssen ausgesetzt, wo hier und dort etwas dran sein kann. Wir wissen nur, dass der Mensch in seiner bio-psycho-sozialen Existenz und dessen Einflüssen und Prägungen oft viel zu wenig beachtet wird, da er den verschiedensten menschlichen Interessen aus wirtschaftlichen und weltanschaulichen Motivationen, nicht zuletzt der Abwehr von vermeintlichen und realen Verurteilungen, ausgesetzt ist, die hier und dort an ihm zerren, so daß er oft nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Um Verwirrung und Chaos zu entkommen, wird ein geradliniger, evidenzbasierter, wissenschaftlich unanfechtbarer Weg gesucht, so daß die Spirale des Aberglaubens von Neuem beginnen kann. Der Arzt ist dann der Größte, der gerade oft zufällig zum Zeitpunkt der Selbstheilungstendenz, wenn sich manche Konflikte gelöst haben, seine Finger im Spiel hatte. Ich kann mich gut aus meiner Allgemeinpraxistätigkeit erinnern, wenn ein Patient die Wunderwirkung eines Präparates hervor hob und es wieder verschrieben haben wollte, ich natürlich neugierig und lernbreit wissen wollte, um welches es sich handelte – meist wussten sie leider den Namen nicht -, wenn ich den Namen dann doch erfuhr,  handelte es sich um irgendein mir wohlbekanntes banales Allerweltspräparat, das seine Wirkung entfaltete - oder auch nicht. Damals für mich eine erleichternde Entzauberung.

 

Die Fortschritte der technikbasierten Medizin und ihre Erfolgsversprechungen sind faszinierend, deswegen ihr Siegeszug. Neuerdings wurden sogar papierdünne Batterien, fast ganz aus Zellulose mit eingearbeiteten Kohlenstoffnanoröhrchen und flüssigen Salzen, für Herzschrittmacher konstruiert. Aber im Hintergrund gelten die uralten Gesetze, in denen der Mensch sich treu geblieben ist, von Erfolg, Ehre, Ruhm und Größe und deren Gegenbilder der Schande, Ächtung, Schuld und Sünde, wie sie schon seit Jahrtausenden in Mythen und deren handelnden Gestalten, wie in griechischen oder biblischen Sagen, beschrieben sind. Dort ist von frevelhafter Gottgleichheit und dessen Bestrafung, vom Menschgott, der Erbsünde und dem irdischen Jammertal die Rede. Heute gelten zusätzlich Begriffe wie Perfektion, 100 bis 200 prozentig, Coolnes, Reinheit und Sauberkeit, für die sich abgschafft wird, bis etwa der Rücken vor Schmerzen streikt. Aber das alles ist für den aufgeklärten Menschen nichts – ein Aberglaube, das heißt, ein Glaube an Dinge, die nicht sind.

 

Zu den deutschen Märchen, griechischen und biblischen Mythen im Archiv (unter Suchen „Bernd Holstiege“ eingeben).

 

Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 21.08. 2007
Foto: © (dpa)
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 21.08. 2007