01. Mai 15 , 08:35
„Die ärztliche Kunst des Unterlassens“
Kategorie: Leib & Seele
© dapd
Auf die Frage hin "Jeder Arzt kann sich Situationen vorstellen, in denen es
besser wäre, diagnostisch wie therapeutisch nichts zu tun. Warum ist der Impuls,
dennoch in irgendeiner Weise aktiv zu werden, oft stärker?" antwortete Professor
Maio: "In der Situation der Unsicherheit empfindet es der Patient als etwas
beruhigendes und auch erleichterndes, wenn etwas unternommen wird. Wir sprechen
nicht umsonst von Be-Handlung. Es kann da ja nicht darum gehen, einfach nichts
zu tun. Es geht vielmehr um die Frage, welche Handlung die angemessene ist, und
zum Handeln gehört eben nicht nur die Aktion, sondern auch das Sprechen, die
Beratung. Wir haben gegenwärtig ein Anreizsystem, in dem umso mehr bezahlt wird,
je mehr Patienten durchgeschleust und je mehr getan wird. Der Verzicht auf eine
Maßnahme und das Setzen auf das erläuternde Gespräch wird nicht belohnt.
Honoriert werden muss die ärztliche Leistung. Und deshalb müssen wir darüber
nachdenken, worin diese Leistung besteht.
Die Hauptleistung des Arztes ist nicht das Machen, sondern eine für den
Patienten gute Empfehlung auszusprechen durch eine erfahrungsgesättigte
Qualität der Beratung. Eine Beratung, die nur dann gut sein kann, wenn der
Arzt die Zeit und die Ressourcen hat, die Komplexität der Patientengeschichte
zu durchdringen. Seine Leistung ist die Fähigkeit zur Bewältigung von
Komplexität, und jede Patientengeschichte ist unweigerlich komplex und
erfordert immer eine singuläre Entscheidung. Dafür muss die vorhandene Evidenz
auf die individuelle und unverwechselbare Krankengeschichte angewendet werden,
und zwar mit Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit, durch Nachdenken und Reflektieren.
All diese Werte und Kriterien ärztlichen Handels sind eigentlich
selbstverständlich. Offensichtlich müssen wir sie aber neu etablieren. Denn im
gegenwärtigen System ist die ärztliche Beratung eher Nebensache, die ärztliche
Aktion die Hauptsache - im stationären wie im ambulanten Bereich. Das ist
nicht richtig! Was der Arzt jeden Tag leistet, ist die Lösung der Probleme
seiner Patienten, und das ist ein integrativer Prozess, der sich zunächst im
Kopf abspielt und nicht in der Aktion. Diese enorme Leistung des Arztes muss
belohnt und aufgewertet werden. Eine Leistung, die dazu führen kann, bestimmte
Maßnahmen zu ergreifen oder eben nicht zu ergreifen. Die Entscheidung darf
nicht automatisiert und schablonenhaft erfolgen, weil man ohne einen
Ermessensspielraum nie den Patienten gerecht werden kann. Die Ökonomisierung
der Medizin führt zu einer Abwertung dieser synthetischen Kernqualität des
Arztes und zu einer Aufwertung der Aktion."
Auf die Frage "Die Kritik an der Durchökonomisierung des deutschen
Gesundheitswesens wird unter Ärzten immer lauter. Sie schreiben in Ihrem Buch
"Geschäftsmodell Gesundheit", es brauche durchaus Mut, um eine in umfassenden
Sinne gute ärztliche Betreuung zu leisten", antwortete er: " Ärzte müssen sich
dagegen wehren, dass Bewertungskriterien über sie verhängt werden, die mit
ihrer eigentlichen ärztlichen Aufgabe und mit ihren ärztlichen Kernleistungen
nichts zu tun haben. Die Steigerungslogik in deutschen Krankenhäusern, die
Erwartung von Zusatzraten - das hat mit Medizin nichts zu tun. Sie erleben
eine Industrialisierung der Medizin, in der es um Produktionsgesichtspunkte,
Beschleunigung und Effizienz geht. Dies führt zu einer Abwertung der Beziehung
von Ärzten zu ihren Patienten. Diese Beziehung ist er aber nicht das
Sahnehäubchen, der Luxus, den wir uns noch leisten könnten - oder eben nicht.
Sie ist vielmehr Grundlage ärztlichen Handelns. Ärzte müssen darauf pochen,
dass sie nur dann gut entscheiden können, in ihnen Raum gelassen wird für die
Beziehung zum Patienten, wenn sie Zuwendung schenken können. Ökonomische
Anreizsysteme und entsprechende Zielvereinbarung können zu großzügigen
Auslegungen bestimmter Indikationsstellung führen. Daher müssen die Ärzte den
Mut aufbringen und sich gegen diese Fehlanreize zur Wehr setzen und darauf
verweisen, dass sie als Ärzte unbestechlich sind und keine nichtmedizinischen
Leistungskriterien in den Zielvereinbarungen akzeptieren können."
Auf die Frage hin "Die Kunst des Unterlassens einzuüben ist also nicht eine
Anforderung an den einzelnen Arzt, sie fordern auch andere Rahmenbedingungen
für ärztliches Handeln", antwortete er; "Unbedingt. Das Gesundheitssystem muss
die Kernaufgabe des Arztes, nämlich Komplexität zu bewältigen, belohnen. Ärzte
können nicht auf den Aspekt eines Leistungserbringers reduziert werden. Sie
erbringen nicht einfach eine objektivierbare und messbare Sachleistung. Ihre
Leistung ist die der erfahrungsgesättigten Entscheidung, die ohne Zuwendung
zum Patienten nicht greifen kann. Um gut zu entscheiden, muss ein Arzt sich
intensiv mit seinem Patienten auseinandersetzen. Der nachdenkliche, reflexive,
behutsame, sorgfältige Arzt muss im System als der eigentliche Garant für eine
patientengerechte Versorgung angesehen werden. Daran geht die derzeitige
Qualitätsdiskussion völlig vorbei. Wird nur über Ergebnisqualität gesprochen,
führt dies dazu, dass man sich auf Patienten stürzt, mit denen gute Outcomes
zu erreichen sind. Patienten mit komplexen und schwierigen Krankheitsbildern
oder mit chronischen und unheilbaren Erkrankungen würden in dem System als
statistikgefährdend angesehen. Das darf nicht sein."
Auf die Frage hin "Wie gerechtfertigt ist es dann, vom Arzt per
Sozialgesetzbuch zu verlangen, er solle bei seinen Entscheidungen
wirtschaftliche Gesichtspunkte berücksichtigen" antwortete er: "Das ist eine
berechtigte und zugleich gefährliche Maxime. Zwar ist es im Kern richtig,
wirtschaftliche Aspekte zu berücksichtigen. Verschwendung muss vermieden
werden - deshalb die Kunst des Unterlassens. Das Wirtschaftlichkeitsgebot
steht nicht im Gegensatz zum ethischen Gebot, es ist Teil davon. Wenn es aber
nicht mehr nur darum geht, Verschwendung zu vermeiden, sondern Erlöse zu
maximieren, dann bewirkt das eine verschlechterte Versorgungsrealität. Dann
ist ökonomisches Denken unheilvoll für das medizinische Ethos. Denn der Arzt
kommt nicht umhin, sich als Anwalt des Patienten zu verstehen. Er kann diese
neue Realität zum Patienten nicht zu Gunsten des Interesses etwa eines
Klinikums aufgeben. Ein kranker Mensch verlangt diese Loyalität zu recht von
seinem Arzt. Das Berücksichtigen von Rentabilitätsgesichtspunkten impliziert
eine potentielle Korrumpierbarkeit der Ärzte. Sie müssen daher das Prinzip der
Therapiefreiheit neu unterstreichen.
Auf die Frage hin" Sie fordern die Erarbeitung ethischer Grundlagen ärztlichen
Handels und die Formulierung von Kernmaximen für die Medizin der Zukunft. Ich
dachte, die ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns stünden seit langem
fest." antwortete er: "Das stimmt schon. Ein Arzt wird dadurch zum Arzt, dass
ein Mensch in Not Hilfe von ihm erhofft und dass der Arzt dieser Not gerecht
wird. Mir geht es nicht darum, den Blick zurück zuwenden. Früher gab es andere
Probleme. Dennoch glaube ich, dass wir uns der grundlegenden Aufgabe von
Ärzten neu vergewissern müssen. Diese besteht darin, dass der Arztberuf ein
Helferberufen ist, ein Beruf der Zuwendung und Fürsorge. Wir brauchen ein
neues Verständnis von ärztlicher Leistung und ein neues Verständnis für
Qualität."
Dieses Interview hat bereits wesentliche ethische Elemente der ärztlichen
Kunst und des ärztlichen Handelns erfasst. In einer Reihe von Artikeln hatte
ich mich kritisch zu dieser Entwicklung im Gesundheitswesen geäußert. Wenn das
Hauptmotiv der Rendite sich im Gesundheitswesen breit macht, und es hat sich
schon breit gemacht, ist das äußerst schlecht für die Patienten. Auch die
Ärzte geraten unter Druck, können sich für ihre Patienten nicht mehr die Zeit
nehmen, so dass die 5 min-Medizin zwangsmäßige Folge ist.
Komplettes Interview: www.aerztezeitung.de Suche mit "Giovanni Maio"
Götzsche, Peter C., Tödliche Medizin und organisierte Kriminalität, Wie die
Pharmaindustrie unser Gesundheitswesen korrumpiert, Verlag: riva, ISBN:
978-3-86883-438-3, Preis: 24,99 EUR [D]
Eine Artikel zur Pharmaindustrie: „Ein Volk auf Droge – 20 Jahre Glückspille
Prozac – ein gelungenes oder zweifelhaftes Jubiläum“ www.bholstiege.de/weltexpress/prozac.htm
Pharmaindustrie am Pranger – Ghostwriter, gekaufte Professoren,
Krankheitserfindungen, unterschlagene Arzneistudien - Profitmaximierung zum
Schaden des Patienten - 01.04.2014 09:58
John Virapens Buch „Nebenwirkung Tod - Die Wahrheit über
Scheinwissenschaftlichkeit, Bestechung, Manipulation und Schwindel in der
Pharmawelt“ - 27.04.2010 12:04
Schweinegrippe-Virus im Labor gezüchtet? – Verträge zwischen Impfindustrie und
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John Virapen - 04.04.2010 14:37
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