Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
Ein Patient erzählte mir, seine Mutter hatte, wenn er mal nicht nach ihrem
Willen war, einen kalten, bitterbösen Blick, mit dem sie ihn sogar
dirigieren konnte. Er reagierte muffig, trotzig, war völlig neben der
Kapp, nicht mehr Herr über sich selbst. Das führte später dazu, wenn seine
Ehefrau innere Konflikte hatte, und die hatte sie oft, quoll ihr Gesicht auf
zu einem für ihn „hässlichen“ Gesicht, auch die Augen, auf das er sehr
empfindlich ablehnend reagierte. Wenn er sie trotzdem in den Arm nahm,
versteinerte er innerlich, wurde zu einem eiskalten Block, bar jeder warmen
Gefühlsregung. Das war für ihn unerträglich. Seine ablehnende Reaktion
verschlimmerte das Ganze und machte ihr wiederum Probleme.
Wenn er sie so wütend machte, daß sie heftig wütend wurde, dann wurde ihr
Gesicht zu seinem Erstaunen plötzlich wieder schön. Also zur eigenen Wut zu
stehen, machte ihr Gesicht wieder schön, und er konnte die Wut akzeptieren.
Diese Vorgänge wurden ihm erst langsam klar, daß das Gesicht und die Augen
seiner Mutter dahinter standen, er es in sie hinein gesehen hatte, zumindest
war es verschlimmert worden. Später sah er, er hatte es überzeichnet gesehen,
er reagierte sozusagen hyperallergisch. Ihm blieb früher nichts anderes übrig,
es war so unerträglich für ihn, als sein Heil vorübergehend bei anderen Frauen
(Müttern) zu suchen, fremd zu gehen - ein in meinen Augen häufiger Vorgang.
Im letzten Artikel über den bösen Blick hatte ich vom Schicksal eines
Patienten berichtet. Jetzt will ich mehr allgemeines der Reaktionsformen auf
den „bösen“ Blick schildern. Das Auge ist das Fenster der Seele, aber nicht
nur als Wahrnehmungs-, sondern auch als Wahrgebungsorgan, nicht nur
Empfänger, sondern auch Sender. Der missachtende, demütigende und
verurteilende „Sehstrahl“ kann sozial und dann auch biologisch töten. Wenn
Blicke tödlich sind. Er bedeutet die magische Macht des Sehens und ein
Eindringen in die Person des anderen, die ihn ganz hilflos macht.. Unter
Umständen erleidet er z.B. den Vodoo-Tod.
Psychoanalytisch spricht man von projektiver Identifizierung. Dabei
projizieren die Mutter oder die Eltern Persönlichkeitsanteile in das Kind, und
weil es sich mit Eindringling identifiziert, es sich zu eigen macht, ihm recht
gibt, fühlt er sich von innen dirigiert. Es handelt nach diesen
Bildern, es wird zum Selbstbild. Dann ist die Mutter die Gute und das Kind das
Böse.
Das seelische Sich-Selbst-Erkennen erfolgt in der frühen Kindheit durch den
und im Blick, im Spiegel der Umgebung und deren Resonanz, hauptsächlich der
Mutter. Die Art des Blickes wird zur Selbstinstanz und zur Identität. In den
Augen der Mutter erkennt sich das Kind wieder. Wenn dieser Spiegel fort bleibt
oder verletzende Ablehnung und Verurteilung ausdrückt, „verhungern“ die Kinder
sozusagen seelisch. Ihnen fehlt die gelungene Selbstrepräsentanz. Selbstbild
und Selbstgefühl sind beeinträchtigt. Die ständige Wiederholung dieser
Erfahrung, kann das Gefühl hervorrufen, verkehrt oder böse zu sein, ohne das
Geringste daran ändern zu können. Auch wie der Vater gesehen wird, fließt in
die Prägung durch die Augen der frühen Mutter ein. Dann wird der Vater böse
behandelt, reagiert wiederum böse, und Kind und Mutter haben im Sinne einer
sich-selbst-erfüllenden Prophezeiung recht.
Das beherrschende Gefühl an der Schnittstelle zwischen innen und außen,
zwischen ich und du, ist die Scham unter der
Vorraussetzung, dass das Subjekt die aburteilenden Aspekte voll verinnerlicht
hat. Die Scham wurde geradezu erzeugt durch den Blick. Ich muß mich schämen im
Angesicht der anderen. Die Scham entsteht im zwischenmenschlichen Raum durch
die Bloßstellung. Scham motiviert uns, Dinge des eigenen Gefühls- und
Intimlebens für uns zu behalten und beschützt die eigene Privatheit.
Während die Schuld das Ergebnis von Handlungen ist, die ich oder eine
Gruppe begangen habe, und ich mich aufgrund der verinnerlichten Maßstäbe
deswegen schuldig fühle.
Die Scham entsteht also in der Gegenwart oder dem Zukunftsentwurf, Entwurf, da
es auch anders sich entwickeln kann, während die Schuld aus der Vergangenheit
stammt. Wenn ein Ereignis, an dem mehrere beteiligt sind, schief läuft, wird
normalerweise die Schuld an einem fest gemacht, dem Sündenbock und dem
Schwächsten. Dabei sollten sich alle schämen, die Einen, dass sie die Schuld
an einem fest machen, und der Schuldige, dass er so leichtgläubig ist, die
Schuld zu übernehmen. Infolgedessen dient die Scham der Abwehr der Schuld.
Wenn man so missachtend und verächtlich behandelt wird, entstehen
Aggressionen. Da aber die Objekte in einem selbst sind, man sie sich zu
eigen gemacht hat, ihnen recht gibt, wenden sich die Aggressionen gegen die
inneren Objekte, also gegen sich selbst, der Autoaggression.
Vor der Scham, dem bösen Blick und der Autoaggression muß man sich zur Wahrung
des inneren Kerns, der Identität, der persönlichen Integrität, zur
Selbstregulation und zur Beziehungsregulation schützen. Die Scham hat eine
Wächterfunktion der Intimität, die vor den Blicken und Entwürdigungen anderer
geschützt werden muß. Meistens geht das, indem ich mich nicht offenbare. Die
Skopophobie ist die Furcht, den Blicken anderer ausgesetzt, entblößt zu
sein. Die Angst ist, verurteilt, erniedrigt, gedemütigt zu werden, aber auch,
andere zu demütigen und zu verurteilen. In diesem Fall sind sie mit dem
anderen identifiziert. Durch die Identifikation ergeht es dem anderen genauso
wie mir selbst. Die Scham dient also auch dem Schutz anderer.
Die Hilflosigkeit der Psychologin lag daran, weil sie überzeugt war, sie hätte
entweder zu dem einen oder anderen stehen sollen, entweder Gehorchen oder
Selbstbestimmung. Der Anspruch an den aufrechten Gang machte sie hilflos. Da
ist sie unbemerkt zu einem weiteren Opfer ihrer Verinnerlichungen geworden.
Denn wie ist das möglich in diesem Familienklima, zu sich selbst zu stehen.
Deswegen glauben manche Menschen sogar an ihre Lügen als die Wahrheit und
machen sich selbst was vor. Dann ist es entweder eine bewusste Notlüge oder
unbewusste.
Ich bin der Meinung, der Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht, auch auf seine
Aussage. Wenn er etwas anderes aussagt, als er selbst glaubt, ist das auch
sein Recht. Ihn dann als einen Lügner zu bezeichnen, wenn er seine Rechte
wahrnimmt, ist das eigentlich eine Unverschämtheit. Eine andere Frage ist, ob
ihm noch zu glauben ist, wie er vor den anderen da steht und inwieweit die
zwischenmenschlichen Beziehungen belastet sind. Ein Spruch heißt „Wer einmal
lügt, dem glaubt man nicht.“
Das Eindringen und Gefügigmachen eines anderen ist eine Verletzung der
Schamgrenze, einer Grenze zwischen sich und dem Anderen, sowohl für den, der
eindringt, als auch für den, der in sich eindringen lässt. Beide sollten sich
eigentlich schämen. Bloß handelt es sich einerseits um ein Kind, das den
großen Eltern glaubt, ihnen hilflos ausgeliefert ist. Wenn diese überzeugt
sind, ist es ebenfalls überzeugt. Die Eltern unterliegen oft einer
Familientradition, dass sie nicht anderes können, überzeugt sind. Die
Urgroßmutter hat schon gesagt, die Großmutter, die Mutter und die Tanten, evtl,
die Väter dazu, und das Kind ist das letzte Glied in der Kette, es sei denn,
es gebärt als Erwachsener wiederum ein Kind. Da der böse Blick eine
verinnerlichte Reaktionsweise ist, über die der freie Wille nicht bestimmen
kann, muß sich eigentlich niemand schämen. Aber schuldig fühlt er sich
trotzdem.
Der böse Blick kann kaschiert oder transformiert werden z.B. als dunkler,
versteinerter oder versteinernden Blick, als ängstlicher, durchbohrender,
eindringlich wohlwollender oder als wissender, in den anderen eindringender,
suggestiver Blick. Über den schmerzvollen, leidenden Blick habe ich im letzten
Artikel geschrieben.
Zum wissenden Blick: Ich hatte ein Ehepaar. Der Mann hatte früher Drogen
genommen, war von ihr geheilt worden, heute neigte er in Ausnahmezuständen zur
Kleptomanie (zwanghaftes Stehlen) und hatte Bankeinbrüche begangen. Wenn er
wieder in entsprechender Stimmung war, merkte die Ehefrau ihm etwas an und
fragt ihn, was los sei. Das sei für ihn dermaßen unerträglich „dann bohrt sie
und bohrt sie, obwohl sie genau weiß, was mit mir los ist, dass er alles
abgestritten habe.“ Seine Mutter war mit Blicken in ihn eingedrungen, und er
hatte etwas angestellt. Insofern hatte er seiner Mutter recht gegeben.
Zum wohlwollenden Blick: Ein Rollenspiel im Rahmen von
Familientherapieseminaren ist mir noch nachhaltig und denkwürdig in
Erinnerung. Es gab mir Aufschluß über meine Person, die Person des Professors
und verbreitete gesellschaftliche Verhältnisse.
Die Situation war: Vater, Mutter, 15 jährige Tochter und 12 jähriger Sohn. Der
Professor war der Vater, ich der Sohn und eine Studentin meine ältere
Schwester. Das Familienproblem war, meine Schwester trieb es mit den Jungens,
an sich altersgerecht ganz normal, für diese streng moralische Familie jedoch
ein Problem. Die Mutter war zwiegespalten. Einerseits musste sie im Moralsinne
dagegen sein, andererseits dachte sie an sich selbst zurück, gönnte ihrer
Tochter die Freiheit und sah sich wohl selbst ein Stück in ihr. Ich selbst
dachte spontan daran, in ein paar Jahren bin ich auch soweit, und wollte für
meine ältere Schwester in die Bresche springen. Da traf mich von der Seite ein
wohlwollend-strenger Blick meines Vaters „Du willst doch nicht etwa…!?“ – und
ich schwenkte spontan total im Sinne der Moral um, zog mit lauter
Allgemeinsätzen vom Leder und machte mit diesen meine Schwester fertig. Ich
hatte ein doppeltes Machtgefühl, mit der Moral die Macht in der Familie in den
Händen zu tragen, als Jüngster der Stärkste zu sein. Gleichzeitig entwarf ich
in meiner Zukunftsaussicht, doch später irgendwie mein Schäfchen ins Trockene
zu bringen und gleichzeitig immer zu wissen, was andere böses anstellen, um
diese zu verurteilen – also eine typische Doppelmoral.
Nach dem Seminar sah mich die Studentin böse an „genau das Gleiche habe ich
früher auch gehört und bin deswegen mit 15 zu Hause ausgezogen“. Sie konnte
emotional nicht zwischen dem Spiel und heute unterscheiden. Ich auch nicht,
als der Professor mir ein paar Wochen später auf der der Kliniktreppe entgegen
kam und mich ansprach, fertigte ich ihn in 1 bis 2 Sätzen ab. Oh Gott!
Hinterher überlegte ich mir, ich hatte das getan, weil er mich mit seinem
bedrohlichen Wohlwollen zum Selbstboykott verführt hatte. Für einen
wohlwollenden Vater war ich bereit alles zu tun, sogar gegen mich selbst. Das
steckte in mir. Und der Professor bedachte mich weiterhin mit seinem
Wohlwollen, weil ich so ein braver Sohn war. Er wusste ja nichts von meiner
Phantasie zur Doppelmoral.
In vielen Familien ist es üblich, das Kind hat vordergründig brav zu sein, im
Angesicht der Eltern ihnen recht zu geben. Hinterher tut es, was es will,
Hauptsache das Bild stimmt. Damit wird sozusagen die Doppelmoral gezüchtet,
meist von einem schlechten Gewissen begleitet. Dieser Zusammenhang ist
gesellschaftlich weit verbreitet. Nach außen muß das Bild gewahrt sein, das
äußere Image hängt davon ab. Was dann geschieht, ist nicht so wichtig.
Angstpatienten (Panikattakken, Phobien, psychosomatische Reaktionen als
Angstäquivalente) haben Angst davor, dass die Mitmenschen sie durchschauen,
dass ihr wahres Selbst entdeckt wird, ein böses Selbst, das sie verinnerlicht
haben. Sie fürchten aktuell in der Umwelt das, was sie schon längst in der
Kindheit verinnerlicht haben. Aber am meisten Angst haben sie vor den ihren
eigenen Aggressionen, jedoch unbewußt. Da sind sie tatsächlich böse. Einem
früheren Patienten kam der Gang über den Unicampus durch die Blicke anderer
wie das reinste Spießrutenlaufen vor.
Gruppenpatientinnen sagten „ich versteh’ das nicht. Ich bin so ängstlich und
unsicher, und alle sagen mir, ich bin so sicher und souverän.“ Wenn ich
fragte, „was ist, wenn man es ihnen anmerkt?“, kam regelmäßig im Wortlaut „um
Gottes willen, welche Blamage, ich wäre völlig unten durch!“. Sie merkten
nicht, dass sie alles getan hatten, um ihr Innenbild nicht nach außen dringen
zu lassen. Sie hatten Stärke und Souveranität nur vorgespielt, immer in der
Angst durchschaut zu werden, aber nur in Ausnahmesituationen sah man ihnen
etwas an. Sie waren durchaus erfolgreiche Frauen. Über ihre Aggressionen
sprachen sie schon gar nicht. Männern geht es oft ähnlich.
Um nicht böse zu sein, neigen sie dazu, allen alles recht zu machen, alle
Erwartungen zu erfüllen, auf jeden einzugehen, sind völlig angepaßt. Wenn die
anderen jedoch gar nicht dran denken, auf sie einzugehen, reagieren sie
entsprechend böse und aggressiv, was sie aber zur Wahrung der Harmonie
wiederum verdrängen müssen. Dabei sind sie recht manipulativ, weswegen andere
erst recht nicht auf sie eingehen. Angstneurotische Familien neigen zur (Pseudo)Harmonie
und sind alle untereinander zerstritten.
Fundamentalistische muslimische Frauen vermummen sich völlig aus Angst vor dem
männlichen Blick und, um sie nicht zu verführen, mit der Burka. Dabei hat der
sexuelle Mißbrauch in diesen Kreisen durch die Väter und die Brüder in einem
hohen Prozentsatz längst statt gefunden.
Andere Kulturen verwenden magische Hilfsmittel wie Amulette gegen den allseits
verbreiteten bösen Blick. Eine Psychotherapeutin erzählte mir: Sie bekam von
einer türkischen Patientin ein merkwürdiges Abschiedsgeschenk. Sie wußte lange
nicht, was das sein sollte, hielt es lediglich für einen Dekoartikel, eine
etwa untertassengroße Keramikscheibe, besetzt mit Blümchen aus Perlen und
einer Art Spiegelei drin, weißes Rund mit blauschwarzer Mitte, das sie erst
Monate später als ein großes lidloses Auge erkannte. Ein magisches Hilfsmittel
zur Abwendung des bösen Blickes! Solche Gebilde werden in vielen Ländern immer
noch benutzt. Bei den alten Ägyptern gab es das "Udjat-Auge", das Falken-Auge
des Horus, es symbolisierte "weite Sicht und Allwissenheit" (Lexikon der
Symbole, Udo Becker). Das Amulett sollte Unverletzbarkeit und ewige
Fruchtbarkeit verleihen.
Mir fällt dabei auf, dass wir in unserer westlichen, aufgeklärten Kultur wenig
oder keine magische Hilfsmittel zum Schutz vor dem bösen Blick haben. Wir sind
dem schutzlos ausgeliefert. Illusionen haben auch ihre Tragkraft. Wir haben
lediglich einen Gott, der uns Schutz und Trost spendet – wenn wir daran
glauben. Und der Gott hat auch ein menschliches Gesicht, das der Vertreter auf
Erden, und diese sind oft alles andere als heilig.