Wie passiert es immer wieder, daß Ärzte sogar häufiger als ihre Patienten an dem Leiden leiden, für dessen Heilung sie berufen sind?

 

Serie: Burnout bei Ärzten (Teil1/3)

 

 

Frankfurt am Main (WELTEXPRESS) - Man sollte meinen, daß Ärzte aufgrund ihres Studiums und ihrer beruflichen Erfahrungen mit ihren Patienten gelernt hätten, wie sie sich vor dem Burnout-Syndrom schützen können. Dabei handelt es sich um einen Zustand körperlicher, emotionaler und geistiger Erschöpfung durch andauernde und wiederholte Belastungen. Publikumszeitschriften berichten ausführlich von Stress und Burnout. Fortwährend erscheinen Ratgeber zum Burnout, und in der ärztlichen Praxis stehen Depressionen und Burnout der Patienten ebenfalls auf der Tagesordnung. Aber, auch Ärzte selbst sind nicht davor gefeit, im Gegenteil, sie sind sogar häufiger als ihre eigenen Patienten selbst betroffen. Umfragen haben laut Deutschem Ärzteblatt schon 2004 ergeben, dass mindestens 20 Prozent der Ärztinnen und Ärzte unter Angst- und unter Depressionssymptomen und zu dessen Abwehr unter Süchten wie Alkohol- und Drogen-, Medikamenten- und Arbeitssucht leiden und diese Leiden unter ihnen stärker verbreitet sind als in der Normalbevölkerung. Manche Ärztegruppen wie Orthopäden, Urologen, hausärztlich tätige Internisten und Augenärzte sind sogar noch weit mehr betroffen. 78 Prozent äußern sich resignativ und unzufrieden über ihren Beruf. Das Erkrankungs-, Sterbe- und Selbstmordrisiko ist überdurchschnittlich erhöht. Das widerspricht eindeutig dem Glauben nicht weniger, die Ärzte seien unverwundbar.

 

Eine Besonderheit der Ärzte und aller helfenden Berufe ist, daß sie sich fast ausschließlich mit den negativen Seiten des Lebens, nämlich Krankheiten, beruflich beschäftigen, die Krankheitsvermeidung und die Hilfe ihr berufliches Ziel sind, während es in anderen Berufen um andere Ziele wie Produktivität geht und negative Faktoren und Stressoren höchstens Begleiterscheinungen sind. Infolgedessen ist von vorneherein das Negative und die Belastung in die helfenden Berufe eingebaut.

 

Als Gründe des Burnout von Ärzten werden angeführt: Die hohe Verantwortung für die Patienten, das Erfahren der Grenzen ärztlichen Handelns, die hohe intellektuelle und emotionale Präsenz im ärztlichen Alltag, der Zeitdruck, die Fremdbestimmung, der hohe Administrationsaufwand, die steigenden Anforderungen an wirtschaftliches Arbeiten, der Konkurrenzdruck und Rollenkonflikte. Jeder Mediziner wird im Laufe seiner Berufstätigkeit mit diesen Stressoren konfrontiert. Es gibt immer noch viele Ärzte, die ihren Beruf aus hehren, idealen Motiven wählen wie der menschlichen Beziehung, dem Gespräch und dem hohen Ziel zu helfen - und werden zutiefst enttäuscht. In vielen anderen Berufen wird über ähnliche Streßfaktoren geklagt. Deswegen ist der Burnout auch so weit verbreitet. Hier geht es aber um die Ärzte, von denen man meinen könnte, daß sie es besser wüßten. Burnout wird oft verstanden als Krankheit des Überengagements, als Folge des emotional belastenden zwischenmenschlichen Kontaktes am Arbeitsplatz und als Resultat des gesellschaftlichen Wandels.

 

Als wichtige individuelle, Burnout begünstigende Faktoren, wurden im Ärzteblatt Idealismus, Verantwortungsbewußtsein, Übereifer, Perfektionismus, von sich Höchstleistungen zu verlangen, Verkopfung und Zwanghaftigkeit sowie der Wunsch, alles selbst machen zu wollen, beschrieben. Die öffentliche Meinung und die immer höheren Qualitätskriterien verlangen den fachlich unangreifbaren Mediziner mit möglichst hoher emotionaler Kompetenz. Es greifen also äußere Faktoren und innere Faktoren des jeweiligen Arztes ineinander.

 

Gehen wir also die einzelnen Gründe und Punkte der häufigsten Klagen von Ärzten der Reihe nach durch, versuchen sie zu hinterfragen und zu durchleuchten und bringen sie in Zusammenhang mit kulturellen und gesellschaftlichen Bildern und Werten:

Allein schon das weit verbreitete (Zauber)Wort „Verantwortung“, für das sich Manager hohe Gehälter genehmigen und das häufig als Vorwurf, nämlich verantwortungslos zu sein, benutzt wird, impliziert im allgemeinen Sprachgebrauch und kulturellen Kontext die Verantwortung für andere. Diese wird überall groß geschrieben, speziell in Helferberufen und bei Ärzten. Schauen wir uns zunächst das Wort an, das sich aus der Vorsilbe „Ver“ und dem Wort „Antwort“ zusammensetzt. Die Vorsilbe `ver` spielt im deutschen Sprachgebrauch eine merkwürdige Rolle, die oft zu einer negativen Konnotation führt. Aber nicht immer. Die Antwort setzt eine Rede oder ein Wort, das können auch Verhaltensweisen sein, nämlich die des Patienten und die allgemeiner ärztlicher Normen, voraus. Das zwischenmenschliche Wechselspiel von Rede und Antwort wird durch diese Vorsilbe jedoch erheblich einseitig verändert. Diese Veränderung in dem Wort Verantwortung beinhaltet, daß in einem Wechselprozess, der für beide Seiten Folgen hat, die Folge einseitig an einem, nämlich dem Patienten hängen zu bleiben scheint und die wechselseitige Folge verloren geht. Dadurch scheint der eine für den anderen die Antwort mit zutragen, und diese wird zu einer doppelten Last, der hohen Verantwortung.

 

Besser wäre es also von den Folgen zu sprechen. Jede Handlung hat ihre Folgen, egal, was geschieht. Durch die Berücksichtigung der Folgen von Handlungen für alle Seiten wird die einseitige Verantwortung entzaubert. Darüber hinaus, neben der Verantwortung für andere, gibt es gleichberechtigt eine Verantwortung für sich selbst, ähnlich wie bei dem Wort Pflicht oder Verpflichtung, das auch meist im Sinne für andere verstanden wird und eine gleichrangige Selbstverpflichtung ignoriert. Schon Jesus sagte „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Sicher, wenn der Arzt oder die Ärztin eine falsche Diagnose treffen, daraufhin einen falschen Behandlungsplan entwerfen, kann das üble Folgen für den Patienten haben, aber nicht nur für diesen, sondern auch für den Arzt, der in einen üblen Ruf gerät, nicht mehr aufgesucht oder sogar vor den Kadi gezerrt werden kann. Der letzte Punkt ist zwar in Deutschland nicht so bedrohlich wie etwa in den USA, wird aber von vielen Medizinern gefürchtet und dadurch die Verantwortung imaginär verstärkt.

 

Die Erfahrung der Grenzen ärztlichen Handelns ist nur allzu natürlich. Krankheiten haben ihre Krankheitsverläufe und Selbstheilungsprozesse, in denen der Arzt oft nur beschränkt einzugreifen vermag. Bei manchen Krankheiten ist herzlich wenig zu helfen, und den Tod erleiden wir alle früher oder später. Aber, in den Köpfen vieler, Patienten und Ärzte, steckt vielfach, es muß etwas getan werden, gegen die Krankheit angekämpft werden. Dazu muß sofort der Arzt aufgesucht werden. Untätig zu bleiben, ist unerträglich, so daß es unmöglich ist, sich einfach diesem Selbstheilungsprozeß zu überlassen. Dieser Kampf gegen die Krankheit kann aber die Krankheit durch die innere Kampf- und dadurch Krampfsituation verstärken. Chirurgische Operationen haben deswegen ihre Faszination und sind so beliebt, da tatkräftig gehandelt wird und sie in einem organischen und naturwissenschaftlichen Krankheitsverständnis oft das Übel an der Wurzel auszurotten scheinen.

 

Manche Erkrankungen wie Schmerzkrankheiten sind das reinste Desaster für Arzt und Patient. Dem Schmerzkranken kann oft wenig geholfen werden. Er fühlt sich unverstanden, kann aber außer dem mitgeteilten Schmerz nicht vermitteln, was zu verstehen ist, und hinsichtlich des Krankheitsverständnisses bleiben der Arzt und Patient hilflos frustriert zurück. Ein mit mir befreundeter Orthopäde war seinen Beruf leid, da die Patienten, deren Beschwerden vonseiten des organischen Befundes nicht erklärbar waren, und deren Krankschreibungsanliegen er vorne in ihrem Angesicht meist ablehnte, wieder durch die Hintertür in ihrer Anspruchshaltung in seine Praxis kamen. Für die dahinter stehenden Prozesse und deren Sprachlosigkeit und damit für seine Patienten hatte er wenig Verständnis. Ein anderer Orthopäde meinte spontan zu dieser Erfahrung „Deswegen seien die Orthopäden auch so unbeliebt“. Vor allem die sogenannten „Blau-Macher" tauchen gerade am Montagmorgen mit wenig faßbaren Beschwerden und mehr oder minder direkt geäußertem Wunsch nach der AU-Bescheinigung möglichst noch ohne Termin auf. Sollte der Doktor nicht gleich „spuren", erfolgt oft noch der Hinweis ,,Ich kann ja auch woanders hingehen". Das ärgert und stresst den Arzt. Greift jedoch der Selbstheilungsprozeß, ist derjenige Arzt, der gerade zufällig seine Hände im Spiel hatte, der Größte.

 

Als Ursachen vieler Krankheiten spielen Angst, Bedrohung und dabei die Hilflosigkeit eine wichtige Rolle, die Erkrankungen stellen außerdem selbst eine Bedrohung dar, so daß für das Vertrauen in Selbstheilungsprozesse wenig Raum besteht und somit wenig Entspannung eintreten kann. Wegen der eigenen Hilflosigkeit des Patienten wird die Rettung von außen, nämlich von den Ärzten, erhofft, die jedoch heillos überfordert sind, da sie die Hintergründe und Zusammenhänge vieler Krankheiten nicht kennen und trotzdem Hoffnungsträger sein müssen. Im Nachhinein erinnere ich mich an meine frühere Praxistätigkeit als praktischer Arzt, wie froh ich damals war, wenn ein Patient nur den Blutdruck gemessen haben wollte, denn das konnte ich, und fühlte mich sicher. Aus dieser Erfahrung wurde mir deutlich, wie sehr die Unsicherheit des Patienten auf den Arzt übergreift. Aus meiner Notdiensttätigkeit weiß ich, daß bei den meisten Notfallpatienten hauptsächlich die Angst vor ihren Beschwerden und der Krankheit im Vordergrund stand, auch wenn es sich nur eine harmlose Grippe oder Erkältung handelte, und sie beruhigt werden wollten und mußten. Bei vorhandenem Vertrauen in Selbstheilungsprozesse wären die Ärzte zum Teil überflüssig. Sie müssen sich also durch ihre Aktivitäten, die ihren eigenen Burnout hervorrufen können, ihre Bedeutung erhalten.

 

Laut idealem Anspruch ergibt sich die „intellektuelle Präsens“ aus der langen Ausbildung und dem umfangreichen Wissensstand, den in der jeweiligen Beziehungserfahrung mit dem Patienten und dessen Beschwerden der Arzt jederzeit parat zu sein hat. Sein eigener idealer Anspruch und der seiner Patienten stellen also die Ursache seiner Überforderung dar. Jedoch kann ein Mensch nur an das denken, was ihm gerade in den Kopf kommt, und nicht an alles gleichzeitig denken und im Blickfeld haben. Sein Denken und Handeln resultieren aus seinen Erfahrungen, und diese kann er nicht in allen Bereichen haben. Dazu sind die Medizin und das Krankheitsgeschehen mit vielen unausgesprochenen Hintergründen zu umfangreich und ungeklärt. Als Folge ist die Untergliederung der Medizin in Fachbereiche einerseits sinnvoll, andererseits gehen die übergeordneten Krankheitszusammenhänge, der Mensch als biologisches, psychisches und soziales Wesen, verloren, so daß mancher Facharzt zum Fachidioten mutiert.

 

Die „emotionale Präsens“ ergibt sich in jedem Patienten-Arztkontakt, wie überhaupt in jeder zwischenmenschlichen Beziehung die Befindlichkeit des einen auf den anderen überschwappt und dieser einbezogen wird. Im Rahmen der Fünf-Minuten-Medizin, die sich heute auch meist aus der Gebührenordnung ergibt und ohne die der Arzt höchst unwirtschaftlich arbeiten würde, ergeben sich in kurzer Zeiteinheit möglichst viele Kontakte, in denen der Arzt in die Befindlichkeit und das Leiden des Patienten einbezogen wird. Es übertragen sich auf ihn Angst, Depression, Schmerz, Wut, Schuldgefühle, Schadenfreude, Rachegelüste, Überdruß, Hoffnung, wiederum enttäuschte Hoffnung und vieles mehr, das er alles in der kurzen Zeit kaum zur Sprache bringen und kaum verarbeiten kann. Der Arzt kann sogar so sehr mitbeteiligt sein, daß der Patient von seinen Emotionen und seinem Leiden entlastet und befreit ist und diese auf den Arzt übergehen, der sie dann trägt. Dieser Sachverhalt kann im Burnout zum Ausdruck kommen. Kein Wunder, daß diese Medizin zum reinsten Streß wird, und ein Arzt auf die Dauer ausgepowert sein kann.

 

Betrachten wir diesen Zusammenhang am Beispiel des „Herzkranken“, bei dem kein gravierender organischer Befund erhoben werden kann, den funktionellen Herzstörungen im Fachjargon oder negativ ausgedrückt, dem „Herzneurotiker“. Er hat etwa Herzschmerzen, Herzrasen und –stolpern bis zu Herzaussetzern, die ihm Angst machen und als Angst vor einem Herzinfarkt erlebt werden. Alle Untersuchungen können seine Ängste nicht beruhigen, und diese Ängste gehen auf den Arzt über, der selber unter der Angst leidet, etwas übersehen zu haben, und untersucht, untersucht und untersucht. Durch die vielen Untersuchungen, die eigentlich der Entlastung dienen sollen, kann der Patient bestätigt werden, daß doch etwas Schlimmes an seinem Herzen dran sein muß. Der Arzt verschmilzt sozusagen mit dem Herzen seines Patienten und kann im Extremfall selber unter Herzbeschwerden leiden. Die dahinter steckende Angst- und Panikkrankheit mit dem Fokus Herz und seine vielfältigen Bezüge können in keiner Weise bearbeitet werden.

 

Weitere Informationen können die Artikel über das Gesundheitswesen, die beiden Artikel über Schmerz und Empathie, über die Fibromyalgie und über den Aberglauben im Gesundheitswesen vermitteln (im Archiv: unter Suchen Bernd Holstiege eingeben).

Autor: Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 02.06. 2008

Verwertung: Weltexpress

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 02.06. 2008