Fünf-Minuten-Medizin, Wirtschaftlichkeit und Konkurrenzdruck
 

Serie: Burnout bei Ärzten (Teil 2/3)


Frankfurt am Main (WELTEXPRESS) - Im ersten Teil der Serie wurde nach einer Einführung auf Burnout auslösende Faktoren wie die Verantwortung, den Krankheitsdruck, die Selbstheilungstendenz, die intellektuelle und emotionale Präsenz des Arztes, in der sich die Befindlichkeit des Patienten auf den Arzt überträgt, und die Schutzmaßnahme der Fünf-Minuten-Medizin eingegangen. Jedoch hat die Fünf-Minuten-Medizin einen Doppelcharakter.

Mit der indirekten Hilfe der Gebührenordnung, wodurch der Arzt sich möglichst kurz auf den Patienten einläßt, wird er vor dem Einbezogensein durch den Patienten geschützt und somit auch seine Arbeitsfähigkeit. Der kurze Kontakt etwa bei Medikamentenverschreiberei oder anderen Verordnungen entspricht andererseits dem Bedürfnis des Patienten, sich nicht lange mit den Hintergründen seines eigenen Leidens, die immer unangenehm und für ihn in seiner Widersprüchlichkeit schwer zu verarbeiten sind, auseinanderzusetzen, sondern dieses möglichst schnell beseitigt zu sehen. Somit sind dem Patienten die kurzen Kontakte hochambivalent durchaus recht, das heißt, einerseits möchte er ausführlich zu Wort kommen und wünscht sich ein Eingehen auf sein Anliegen, andererseits möchte er die unangenehmen Hintergründe und Zusammenhänge nicht offenbaren. Außerdem teilt der Patient häufig mit seinem Arzt das organische Krankheitsverständnis, so daß er längere Gespräche nicht für notwendig erachtet. Arzt und Patient arbeiten also Hand in Hand unter Verdrängung tieferer Ursachen zusammen. Ein anderer Weg der Verordnungen im Sinne des Schutzes für den Arzt ist, die Behandlung etwa an die Massage zu delegieren, wo der Masseur die Zunge des Patienten lockert, gleichzeitig auch die übrige Muskulatur, und dann dieser sich die Leiden stellvertretend für den Arzt anhören muß.

Durch die kurze Zeit, das Durchschleusen von möglichst vielen Patienten in möglichst kurzer Zeiteinheit - schließlich möchte der Arzt auch seine Freizeit haben -, die Gewinnoptimierung nach der Gebührenordnung und der Notwendigkeit, nicht allzu sehr in die Emotionalität des Patienten einbezogen zu werden, gerät der Arzt unter Zeitdruck. Allerdings werden auch der Druck, in den der Arzt durch die interpersonelle Konfrontation gerät, und das drängende auf Heilung zielende Anliegen des Patienten ärztlicherseits oft als Zeitdruck wahrgenommen.

Die Fremdbestimmung ergibt sich in der klassischen und traditionellen Arzt-Patienten-Beziehung, außer aus der von außen viel zitierten Gebührenordnung, aus dem alleinigen Ausgerichtetsein des Arztes auf seinen Patienten, dessen Leiden, Anliegen und Heilung, wie es auch schon in der einseitigen Verantwortung zum Ausdruck kommt, und dem fehlenden Ausgerichtetsein auf sich selbst, seine Interessen, seine Befindlichkeit und Emotionalität. Anders ausgedrückt: der Arzt berücksichtigt nur den Patienten und geht rücksichtslos mit sich selbst um. Dadurch geht seine Selbstbestimmung verloren, und er wird vom Patienten und den übergeordneten Richtlinien fremd bestimmt. Oft bleibt nur als Selbstberücksichtigung das materielle Interesse als Ersatz für gelungene menschliche Beziehungen übrig.

Dadurch, daß uns allen die Kosten im Gesundheitswesen über den Kopf wachsen, versucht die ärztliche und nationale Politik durch eine Begrenzung des Budgets und immer neue Verordnungen und Bürokratie diese in den Griff zu bekommen. Die Folgen sind, daß diese Administration einen Mehraufwand an Zeit anfordert, der der Patientenbegegnung verloren geht. Die höchsten Kosten verursachen die letzten ein bis zwei Lebensjahre des Patienten, wobei die ärztliche Ethik verlangt, nichts unversucht zu lassen, das Leben zu verlängern. Man kann nicht einfach jemanden ohne ärztliche Einwirkungen sterben lassen. Die technischen Fortschritte, verfeinerte Diagnostik und Therapie verursachen enorme Kosten, die alle von der Bürokratie begleitet werden. Der Arzt verliert den Patienten und seine eigenen, ursprünglichen hehren Ziele immer mehr aus den Augen. Infolge des Budgets entsteht ein ärztlicher Verteilungskampf, in dem naturgemäß diejenigen, die sowieso schon Macht und Geld in ihren Händen tragen, die Regeln und Einkünfte bestimmen und die Gewinner sind.

Durch die vermehrten Kosten steigen auch die Anforderungen nach wirtschaftlichem Arbeiten. Die Gesundheit der Bevölkerung wird heute fast ausschließlich mit ökonomischen Interessen verknüpft. Auf diesem Altar wird das ärztliche Tun über Regulierungen und Bürokratisierungen geopfert, obgleich die Qualität und die Bedeutung der menschlichen Zuwendung nicht ökonomisierbar sind. Zur Kontrolle dienen die bürokratisch vorgegebenen Abrechnungen, unter der alle leiden. Das widerspricht den Erwartungen der meisten Ärzte nach sinnvoller und selbstständiger Arbeit. Als Folge des Budgets und des ärztlichen machtpolitischen Verteilungskampfes gehen paradoxerweise die höchsten Gewinne an die Fachrichtungen, die am meisten Personal und Technik einsetzen, denn diese sind teuer. Diese arbeiten also im Sinne der Kostenersparnis am unwirtschaftlichsten, aber gerade diese sitzen an den Hebeln der Macht und kontrollieren die Wirtschaftlichkeit.

Der Verteilungskampf ruft den Konkurrenzdruck hervor. Schließlich ist es eine menschliche Eigenschaft, Erfolg und Gewinn zu suchen, und sich nicht einfach mit wenigen Patienten, einem bescheidenen Einkommen und einer bescheidenen Praxisausstattung zu begnügen. Außerdem meinen auch die Patienten, daß ein guter Arzt sich durch seine Ausstattung, seine Patientenzahl und somit seinen Erfolg auszeichnet. Dessen Praxis ist voll, und somit wählt der Patient ebenfalls eine teure Medizin aus. Die bescheidenen und wenig Kosten verursachenden Ärzte ziehen den Kürzeren. Zwar gilt der Spruch „eine Krähe hackt der anderen nicht die Augen aus“, aber trotzdem sind Entwertung und Mobbing unter Ärzten wie auch sonst unter Menschen weit verbreitet. Das schafft Druck.

Oft kommt der Glaube der Patienten hinzu, Teueres könne mehr helfen als Billiges, für ihn sind nur das Beste und der beste Arzt der Richtige. Dadurch entsteht der Zulauf zu den Privatkrankenkassen bei denen, die es sich leisten können, und diese suchen sich ihre Mitglieder nach dem Erkrankungsrisiko aus oder bitten die anderen mit erheblichen Risikoaufschlägen zur Kasse. Das allgemeine Kostenrisiko bleibt an den gesetzlichen Kassen hängen. Die bevorzugte Behandlung für Privatpatienten findet allerdings auch in vermehrten Untersuchungen und Behandlungen statt, nicht immer zum Besten des Patienten, durch die sich die Ärzte für die bei den gesetzlichen Kassen entgangenen Einnahmen sanieren. Neuerdings findet die Konkurrenz auch bei den sogenannten Igel-Leistungen (Leistungen außerhalb der Erstattungspflicht der Kassen) statt. Eine kleine Erfahrung: Als ich nach mehreren Jahren Altersweitsichtigkeit einmal eine Augenärztin aufsuchte, fragte sie mich am Ende, ob sie mir eine Brille verschreiben solle. Ich zeigte grinsend auf meine billige Fertigbrille von der Stange, und meinte, die reiche mir. Sie erklärte, sie meine auch, das das reiche, aber die Patienten sagten „für ihre Augen nur das Beste!“ und kauften sich für 1000 DM (damals noch DM) eine teure Brille. Naturgemäß warnen die meisten Augenärzte und Optiker vor den Billigprodukten, so daß aus rechtlichen Gründen auf einem Begleittext stehen muß „Nur als Sehhilfe zum vorübergehenden Gebrauch!“.

Im Gesundheitswesen ist eine Menge Geld zu verdienen, und somit wird die Gesundheit der Bevölkerung fast ausschließlich mit ökonomischen Interessen verknüpft. Pharmaindustrie und Medizintechnik kämpfen mit allen Tricks, um sich möglichst große Scheiben am Gesamtkuchen abzuschneiden und zu sichern. Auf diesem Altar wird das ärztliche Tun über Regulierungen und Bürokratisierungen geopfert, obgleich die Qualität und die Bedeutung der menschlichen Zuwendung nicht ökonomisierbar sind.

Durch all diese Umstände gerät der Arzt auch in Rollenkonflikte. Soll er auf den Patienten ausführlich eingehen, wozu er wenig Zeit hat, und wenn er sie sich nimmt, dann wenig verdient, oder ausschließlich auf Gewinn aus sein? Diesen Spagat zu schaffen und auszubalancieren, mag erneuten Druck hervorrufen, der den Arzt auf die Dauer ausbrennen läßt. Durch die emotionale Beteiligung, der er auch nicht durch Zeitverkürzung und Reduzierung auf körperliche Fakten entfliehen kann, verliert er seine Souveränität und Unabhängigkeit und mag sich von seinen Patienten kaum noch unterscheiden.

Weitere Informationen können die Artikel über das Gesundheitswesen, die beiden Artikel über Schmerz und Empathie, über die Fibromyalgie und über den Aberglauben im Gesundheitswesen vermitteln (im Archiv: unter Suchen Bernd Holstiege eingeben).
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 09.06. 2008
Foto: © dpa
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 09.06. 2008