Weltexpress

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25. Januar 10, 10:49

Akuter und chronischer Schmerz

 

Der Sozialraum bei der Entstehung und Erhaltung des chronifizierten Schmerzes

 

Frankfurt am Main (Weltexpress) - Ein Mann hatte durch einen Unfall einen Schädelbasisbruch erlitten, der inzwischen ausgeheilt war. Aber schwere Kopfschmerzzustände blieben zurück. Er hatte das Glück, dass die behandelnden Ärzte die Kopfschmerzen nicht allein vom Bruch ableiteten, sondern ihn in eine psychosomatische Klinik schickten, wo er mein Patient wurde. Der an sich sehr friedliche und aggressionsgehemmte Mann erzählte, seine Familie beobachtete ihn nach der schwerwiegenden Verletzung argwöhnisch, ob nicht doch etwas zurück geblieben sei, behandelte ihn mit Samthandschuhen und nahm ihm vieles ab. Dadurch fühlte er sich nicht mehr für voll genommen und wurde wütend. Wenn er dann einen Wutanfall bekam, hieß es sofort, „Sieh'ste, sieh'ste, so war er vorher nicht gewesen!“ Daraufhin habe er seine Wut unterdrückt. Die Kopfschmerzen ließen sich gut mit der unterdrückten Wut erklären, wie überhaupt Kopfschmerzen nach meiner Erfahrung oft viel mit unterdrückter Wut zu tun haben. Als er diesen Zusammenhang sah, hatte er eine bessere Position des Umgangs für sich gefunden und die Kopfschmerzen ließen nach.

 

Schmerz ist das häufigste Krankheitssymptom, einmal als Begleiterscheinung anderer Erkrankungen, aber auch als eigenständige Erkrankung, der Schmerzkrankheit. Deswegen sind Schmerzmedikamente die am häufigsten verbrauchten Arzneien. Akuter Schmerz nach Verletzungen oder Operationen klingt nach Ausheilen der meist äußeren Ursachen ab und ist mit der Hoffnung und Zuversicht des Nachlassens verbunden. Lässt der Schmerz jedoch nicht nach, ist der Schmerzwahrnehmende in seiner Zuversicht verunsichert. Diese Verunsicherung alleine kann schon schmerzhaft empfunden werden und zum Schmerz beitragen.

 

Aus körperlichen Gründen empfundener Schmerz reizt die Schmerzzentren im Gehirn. Die Aktivierung ist durch bildgebende Verfahren wie in der funktionalen Computertomographie nachweisbar. Jeder weiß, daß auch Kränkungen schmerzhaft empfunden werden können, zuerst einmal seelisch, das körperliche Empfinden ist oft nicht so bekannt. Bei diesem seelischen Schmerz werden die gleichen Schmerzzentren aktiviert, so daß körperlicher und seelischer Schmerz im Gehirn nicht unterschieden werden können.

 

Schlecht dran sind Schmerzkranke, für die kein ausreichender organischer Befund erhoben werden kann. In einem naturwissenschaftlichen Krankheitserklärungsmodell, etwa "wo etwas weh tut, muß etwas kaputt sein", das von vielen Kranken und ihren Ärzten geteilt wird, geraten sie, wenn nichts kaputtes gefunden wird, in einen Legitimations- oder Rechtfertigungdruck, einer Beziehungsfalle, der alleine schon durch den Druck zu Schmerzen führen kann. Sie haben ja in ihren eigenen Augen und in deren des Umfeldes keinen Grund, Schmerzen zu haben, alles ist o.k., und trotzdem nehmen sie den Schmerz wahr. Sie sind verunsichert, innerlich zerrissen zwischen ihrer Wahrnehmung und einer Realität, was sein kann, nicht sein kann und nicht sein darf. Nicht nur in ihrem inneren Bild, auch von den Ärzten und einem weiteren Umfeld können sie leicht als eingebildete Kranke, Hypochonder oder Simulanten angesehen werden. Dadurch geraten sie in eine Stigmatisierung- und Entwertungssituation, die kränkend und folglich schmerzhaft sein können.

 

Dabei kommen wir zum menschlichen Sozialraum oder Umfeld. Der Mensch lebt nicht durch und für sich alleine, sondern ebenfalls in den Augen des Umfeldes. Achtung, Ehre, Stolz, Anerkennung, Wertschätzung sind für ihn als sein eigenes seelisches Erleben und zum Überleben im Sozialraum essentiell notwendig. Der Mensch lebt in und durch die Bedeutung bei anderen. Deswegen sind der Ruf, gute Eindruck und das Image so wichtig. Das schafft Vertrauen und gute zwischenmenschliche Beziehungen. Also spielt auch ein entwertendes Umfeld bei der Schmerzauslösung eine ursächliche Rolle. Schmerztherapeuten sprechen deshalb beim Schmerz von einem bio-psycho-sozialem Geschehen. Weiterhin sprechen sie von einem Schmerzgedächtnis. Die Erfahrung des Schmerzes setzt sich im Gehirn fest und kann allein durch diese Einprägung über die körperliche Schmerzauslösung hinaus fortbestehen, wodurch der ursprünglich körperliche Schmerz zu einem seelischen umfunktioniert wird. Dies gilt auch für andere körperliche Befindlichkeiten wie Juckreiz, Ohrgeräusche (Tinnitus), Herzrasen, Atemnot, Schweissausbrüche, Durchfall oder Schwindel.

 

Jedoch auch bei massiven körperlichen Befunden wie etwa einem Bandscheibenvorfall oder einer schweren Kniegelenksarthrose sind es nicht nur die körperlichen Verschleißerscheinungen, sondern es können durchaus andere nicht körperliche Faktoren vorhanden sein, die den Schmerz hervorrufen und aufrecht erhalten. Es kommt häufiger vor, daß ein Bandscheibenvorfall und gleichzeitig ein schwerer Ischiasschmerz vorliegen. Jedoch befindet sich der Bandscheibenvorfall auf der falschen Seite, so dass kein Zusammenhang zwischen Beschwerden und körperlichem Befund  bestehen kann. Ein solcher Patient fühlt sich leicht nicht ernst genommen. Oder bei vorliegenden massiven Knieschmerzen finden sich degenerative Veränderungen im Kniegelenk, sodass der Orthopäde prophezeit, dass etwa ein Läufer nie mehr laufen könne. Allerdings können trotz dieses organischen, nicht gebesserten Befundes einige – nach dem organischen Krankheitsverständnis erstaunlicherweise - wieder beschwerdefrei laufen, solange sie nicht überziehen und ihren Gelenken zuviel zumuten. Schließlich lässt im Alter die Gewebetoleranz nach, und dadurch steigt bei Überbeanspruchung die Schmerzempfindlichkeit.

 

Ein Schmerzkranker mit organischen Veränderungen hat das Glück, dass seine Schmerzen gut erklärbar – er gerät nicht in die Legitimationsfalle - und nach den medizinischen Standards oft auch gut behandelbar sind. Dadurch erlebt er Hoffnung, die entspannt, der Schmerz trotz unveränderten Befundes heilen kann - jedoch nicht immer. Eine Ungewissheit bleibt, und sollte er in dieser Ungewissheit das Schlimmste sehen, werden Angst und Spannung den Schmerz aufrechterhalten, was wiederum aus organischer Sicht vom Befund her oft gut erklärbar ist. Andererseits hat er das Pech, dass für ihn keinerlei Anlass besteht, nach anderen Schmerzgründen zu suchen, und er gerät in Abhängigkeit von Ärzten und Industrie. Beim Schmerzkranken ohne erklärbaren organischen Befund – Mediziner sprechen von somatoformen Störungen oder Somatisierungsstörungen - besteht aller Anlass, nach anderen Ursachen zu suchen, die ihn schmerzen, so dass er die Möglichkeit hat, diese für sich zu akzeptieren, während dazu der organisch Kranke, der allerdings sich nur solange krank fühlt, wie er Schmerzen verspürt, weniger Gelegenheit hat. Sollten die psychosoziale Ursachen nicht gefunden und akzeptiert sein, findet allerdings oft ein Organwechsel statt, etwa von den Knien zum Rücken, Nacken, Kopf oder Bauch mit eventuell wechselnden Beschwerden bis zum Ganzkörperschmerz. Man spricht dann von einer Fibromyalgie.

 

Um sich das Geschehen des psychischen Schmerzes zu veranschaulichen, ist der Phantomschmerz meines Erachtens ein guter Zugang. Nach dem Verlust eines Körpergliedes kann ein Schmerz auftreten, in dem das verlorene Organ schmerzhaft wahrgenommen wird, so als ob das Glied noch vorhanden wäre, der Phantomschmerz. Das nicht mehr vorhandene Glied schmerzt alleine durch die Vorstellung und Wahrnehmung. Im Schmerzzentrum ist das Glied als Bild und dessen Wahrnehmung noch vorhanden. Jedoch bekommen nicht alle in gleicher Weise Phantomschmerzen. Der Unterschied ist, ob jemand ohne das Glied ganz gut leben, sich arrangieren kann, oder ob der Verlust für ihn etwas Schlimmes oder sogar eine Katastrophe darstellt. Auch spielt eine Rolle, ob der Sozialraum, das Umfeld ihn weiterhin für voll nimmt oder ihn als Krüppel ansieht. Siehe obiges Fallbeispiel.

 

Also, ob ein Mensch sich selbst, seine Handicaps, Schwächen und Fehler akzeptieren kann, hängt von seiner eigenen Bewertung und dem Urteil des Sozialraums ab. Bewertungen und Bedeutungen werden im Entwicklungsprozess in der Kindheit durch Erfahrungen geprägt, an sie wird geglaubt und nach ihnen wird gelebt. Der Mensch lebt halt nach dem, was er glaubt, was ist. Das ist das Schicksal eines jeden Menschen. In dieser Kindheit spielt eine entscheidende Rolle, ob das Heranwachsen einer reifen, komplex wahrnehmenden und differenziert betrachtenden, also einer integrierten Persönlichkeit gelingt, abhängig vom fördernden Umfeld, oder mehr oder wenige massive alltägliche Verletzungen in Entwertung, Verurteilung, Schuld, Verachtung, Blamage und Schande stattfinden. Man spricht von einer (Psycho)Traumatisierung, einer Verletzung der Seele. Diese Verletzungen bilden den Maßstab für spätere Wahrnehmungen, in denen im Selbstbild und im Sozialraum verletzende Aussagen wahrgenommen werden. Ein traumatisierter Mensch ist im Sozialraum stark vulnerabel (verwundbar). Auch die Verletzungen gehen ins Schmerzgedächtnis ein, das später immer wieder bei vorliegender Vulnerabilität aufgefrischt wird.

 

Insofern kann man sämtliche seelischen Verletzungen, die auf früheren Erfahrungen beruhen und im späteren Sozialraum wahrgenommen werden, als Phantomschmerz bezeichnen. Nun können spätere Aussagen tatsächlich verletzend sein, u.a. „Du Versager, Weichei, Schwächling, bist schuld, Simulant“, aber derjenige, der differenziert zu betrachten gelernt hat, wird die Gründe für derartige Aussagen am anderen festmachen und sich wenig schmerzhaft in seinem Selbstbild verunsichern lassen. Wer jedoch aufgrund früherer Traumatisierungen die Verletzungen in sich trägt, dessen Boden vorbereitet ist, wird verletzt und gekränkt reagieren. Auch werden Verletzungen im Sinne von Missverständnissen oft heraus gehört, wo sie gar nicht als solche gemeint sind. Diese seelischen Verletzungen und Schmerzen können auch als körperliche Schmerzen empfunden werden.

 

Nun neigt derjenige, der die Verletzungen in sich trägt, sich in seinem Wert und seiner Bedeutung herabgesetzt sieht, alles zu tun, um sie nicht im Sozialraum in Erscheinung treten zu lassen, also etwa besonders stark, leistungsbetont, perfekt, erfolgreich aufzutreten und zu sein, was durchaus gelingen kann, um seine selbst wahrgenommene Schwäche nicht zu entblössen. Man könnte meinen, in Anbetracht unserer Kultur als Leistungsgesellschaft, in der der Wert eines Menschen nicht an sich gilt, sondern durch Erfolg und Leistung definiert ist, ist die Traumatisierung weit verbreitet. Dieser Meinung bin ich. Dafür spricht, daß Schmerzen, am häufigsten als Rückenschmerz, der jährlich die Gesellschaft neben Verlust der Lebensqualität durch Arbeitsausfall und Behandlungskosten Milliarden kosten soll, sehr weit verbreitet sind. Zigtausende von Behandlern und eine milliardenschwere Industrie leben von diesen Schmerzen. Leistungsbereitschaft stellt einen hohen Wert dar und ist in aller Munde, ohne Rücksicht auf die eigenen Person.

 

Stark, erfolgreich und perfekt zu sein, in der ständigen Angst zu versagen, führt zu Überlastungen, vor allem, wenn etwas geschieht, wenn diese Bewältigungsmechanismen nicht mehr greifen, etwa eine Berufsentlassung oder die geliebte Gattin diese Form der Leistungslinie auf Dauer nicht mehr liebt, andere Vorstellungen vom Zusammenleben hat, und sich scheiden lässt. Da hat man sein ganzes bisheriges Leben alles getan, was man für richtig hielt und wofür man viel Beifall erhielt und dann - so was. Man hat sich sein ganzes Leben bemüht, alles richtig zu machen, Normen und Erwartungen zu erfüllen und erntet als Dank das Gegenteil. Undank ist der Welten Lohn. Dieser Undank führt zu Wut, oft unterdrückter Wut, um sich nicht alles mit dem Umfeld zu verscherzen und die Harmonie zu wahren, die nun wiederum schmerzhaft sein kann. Eine Welt stürzt zusammen. Solche und andere Dinge sind dann schon sehr schmerzhaft.

 

Ein Chirurg erzählte mir „Der Kreuzschmerz ist das Kreuz des Lebens, das der Kranke sich selbst aufgeladen hat, aber nicht bereit ist zu tragen.“ Diesen Satz habe ich gut behalten, weil ich ihn so zutreffend finde. Der Kranke trägt also nicht geduldig sein Kreuz, sondern auf der unteren, meist unbewussten Ebene wehrt er sich dagegen, zurecht, denn dies Kreuz wurde ihm schon seit der Kindheit auferlegt, und er hat allen Grund sich dagegen zu wehren. Aber gerade dadurch ist er in sich völlig zerrissen und deswegen schmerzhaft völlig verspannt. Ich bin der Meinung, daß aus den Folgen die Absichten, meist völlig unbewusst, abzulesen sind. Jedenfalls braucht der Rückenkranke eine zeitlang nicht mehr zu arbeiten. Die Migränekranke kann sich ins Bett legen, das Zimmer abdunkeln und alle Anforderungen abweisen. Der Herzkranke kann sich in der Klinik erholen.

 

Innerhalb dieser Leistungslinie wird die Erkrankung häufig als Versagen interpretiert, oft nicht nur vom Kranken selbst, sondern auch vom Umfeld, etwa am Arbeitsplatz „..will sich nur drücken..“. Als Drückeberger zu erscheinen, ist eine schmerzhafte Kränkung und Stigmatisierung, die den Schmerz verlängert, weswegen der Kranke alles zu tun versucht, möglichst schnell wieder auf den Beinen zu sein. Durch die weitere Überforderung spielt sich ein Schmerzkreislauf ab, der den Schmerz chronifizieren lässt. Andere Ursachen des Schmerzes sind, nicht mehr geliebt, anerkannt zu werden oder der Umwelt zur Last zu fallen.

 

Es gehört zur Natur des Menschen, unangenehmes und schmerzhaftes nicht wahrzunehmen, zu verdrängen, verleugnen und zu vergessen. Eine traumatisierende Kindheit wird oft vergessen, und es bleiben nur noch die Bewertungen und Bedeutungen übrig, ohne die Zusammenhänge und Hintergründe zu erinnern. Ist dann die Zielrichtung des Lebens die Leistung, der Erfolg und die Leistung, werden oft der innere und äußere Aufwand und die dazu gehörenden seelischen und körperlichen Schmerzen nicht wahrgenommen. Rücksichtsnahme auf sich selbst ist ein Fremdwort. In diesem Zustand besteht also eine Indolenz. Ein solcher Mensch überfordert sich ständig selbst und ist bereit, sich überfordern zu lassen, merkt nichts, mag sogar seinen Körper ruinieren, bis das System schmerzhaft zusammen bricht. Aber auch dann sind die Kränkung, das Versagen in den eigenen Augen und im Umfeld, der Verlust der Unversehrtheit und das Zerbrechen des Größenbildes, alles schaffen und leisten zu können, der Hauptschmerzgrund.

 

In dieser kompensatorischen Leistungs- und Erfolgslinie ist allein schon der Alterungsprozess schmerzhaft. Mit zunehmenden Alter wird das Gewebe schmerzempfindlicher und weniger belastbar. Die Gewebetoleranz lässt nach. Äusserlich ist das schon an der alternden Haut erkennbar, und im Inneren des Körpers ist es nicht anders. Weniger belastbar zu sein, ist dann seelisch und als Folge körperlich schmerzlich. Zusätzlich neigt der Alternde dazu zu versuchen, seine Leistungsfähigkeit aufrecht zu erhalten und seinen Körper und seine Seele zu überfordern, etwa als Sportler mehr und härter zu trainieren. Weiterhin neigt er dazu, sich nicht nach sich selbst, seiner Bereitschaft und seinem Körper zu richten, sondern sich all die Beispiele gleichaltriger oder sogar noch älterer Belastungssfähigerer vor Augen zu halten, diese als Maßstab zu nehmen, sich vermehrt zu überfordern und sich selbst etwa als Weichei zu entwerten. Hinzu kommt ein zur Traumatisierung meist hinzu gehöriger linearer Zukunftsentwurf „wenn das jetzt schon auftritt, kann es nur noch schlimmer werden!“. Die Angst vor der Zukunft und die Wut über diese so wahrgenommene Ungerechtigkeit führen zu Verspannungen und verstärken den Schmerz. Diese komplexen, hier nur ansatzweise aufgezeigten Prozesse der Alterung treten meist ab Ende 40 auf, also in der Zeit der sogenannten Wechseljahre.

 

Zwischenmenschlich bei Ehepaar- oder Familienzerwürfnissen kann jemand in eine Schlichter- oder Prellbockposition geraten. Sollte er diese Funktion schon in der Kindheit erlebt haben, wird er sie oft wieder herstellen, da er es nicht anders kennt. Diese Positionen können durchaus mit Kränkungen und Schmerzen verbunden sein.

 

In meiner eigenen Erfahrung wurde mir ein weiterer Zusammenhang deutlich. Ich hatte ab und zu Kreuzschmerzen. Vor ein paar Jahren hatte ich mir in meinen Augen einiges an Arbeit vorgenommen. Die Arbeit erschien mir wie ein Riesenberg, und ich bekam im Angesichtes dieses inneren Berges solche Rückenschmerzen, daß ich wochenlang nichts tun konnte. Ich sah die Ursache des Schmerzes in der Wahrnehmung des Berges und dem Überlastungsgefühl. Ich hatte mich ja noch nicht körperlich belastet. Nachdem die Schmerzen abgeklungen waren, habe ich ohne jegliche Schmerzen Schritt für Schritt alles erledigt. Als Folge dieser Wahrnehmung passe ich seitdem auf, wenn sich wieder etwas aufzutürmen anfängt, und sage mir „langsam, langsam, eins nach dem anderen, wie der Bauer die Klöss’ isst“. Seitdem traten diese Schmerzen nicht mehr auf. Mein als psychotherapeutisch tätiger Arzt geschultes inneres Auge ließ mich diesen Zusammenhang bewusst erleben. Ich erlebte auch keine Kränkung, sondern ein aufschlussreiches Erlebnis. Nicht die tatsächliche Arbeit, sondern das innere Bild riefen die körperliche Überlastung und den Rückenschmerz hervor. Aus eigener Erfahrung schliesse ich, daß bei vielen Schmerzen mehr als die tatsächliche körperliche Belastung das innere Bild, der Riesenberg von Arbeit schmerzauslösend sind. Also war ich tatsächlich ein eingebildeter Kranker, aber trotzdem kein Simulant. Für die meisten Kranken bleibt dieser Zusammenhang wohl völlig unbewusst. Sie können sich aber Gedanken machen und Assoziationen heranziehen über die Situation und das Umfeld, oder die Gedanken und Erfahrungen anderer zu Hilfe nehmen.

 

Meine Erklärung dieses Berggefühls bzw.- bildes ist, dass die Differenzierung der Zeit im Angesicht dessen, was ich alles schaffen und leisten wollte, eins nach dem anderen, Schritt für Schritt, verloren geht. Hinzu kommt, daß in diesem inneren Bild alle Lasten des Lebens, wo ich mich bisher überfordert, aber grösstenteils bisher schadlos überstanden hatte, sozusagen an einem Punkt kristallisieren und addieren. Auch kann die Vorausschau bei neuen Lebensschritten zu den schmerzhaften Überlastungen führen, wenn in der Vergangenheit schon ein überlastetes Leben geführt wurde. Der Kranke sagt sich, schliesslich wird es zukünftig nicht anders sein, als es schon immer war.

 

Alle psychosomatischen Zusammenhänge sind seit Jahrhunderten im Volkmund festgehalten. Dazu eine kleine Auswahl: …ist ein Kreuz, Nackenschläge und Halsstarrigkeit, Wut im Bauch, Ärger hineinfressen oder runterschlucken, grün und blau ärgern (Galle), die Galle läuft über, es macht mir Kopfschmerzen, geht mir an die Nieren, Herzweh und das Herz bricht (Herzkranzgefässe), das Herz bleibt vor Schreck stehen, steht unter Hochdruck (Hypertonie), jemand ist verstopft (Verstopfung), Angstschisser und jemanden Anscheißen (Durchfälle), Schleimscheisser (Colitis mucosa), es geht an die Nieren. Beim Schleimscheisser sind die tragischen Kreisläufe besonders deutlich. Er kommt dem Umfeld überfreundlich, schleimig entgegen, wird gerade deshalb oft zurück gewiesen, unterdrückt seine Angst vor der oft erfahrenen Zurückweisung und Wut über diese erlebte Ungerechtigkeit "er ist immer freundlich und die anderen so unfreundlich", hat stattdessen schleimige Durchfälle und ist am Ende mit allen zerstritten. Ewig lässt sich ja die Wut nicht unterdrücken. Dabei ist er nur wie die übrigen Familienmitglieder, und hat es als Lebenstechnik nicht anders gelernt. Zum Teil sind diese Volksmundausdrücke mit massiven Entwertungen verbunden. Dem Leser wird noch vieles mehr einfallen.

 

Körperliche Schmerzen etwa durch Überlastungen vergehen im allgemeinen bei Schonung, solange nicht die seelischen Schmerzen durch Kränkungen hinzukommen. Das Wort Kränkung oder Verletzung benennt die seelischen Gründe der Krankheit. Wahrscheinlich ist es so, dass auch bei chronischen körperlichen Defekten die seelischen Schmerzen den Hauptschmerz ausmachen, vor allem zur Chronifizierung beitragen. Viele Bandscheibenvorfälle, Wirbelsäulenruinen oder fortgeschrittene Knie- und Hüftgelenksarthrosen sind schmerzfrei, solange der Geschädigte sich nicht überlastet. Viele wissen gar nichts davon. Erst beim Schmerz werden sie geröntgt, und ihr Schmerz auf diese Schädigung zurückgeführt. Tragen sie Entwertungen und Ängste in ihrem Selbstbild und fürchten diese in der Außenwelt, entstehen Angst und Wut, die zu Verspannungen führen und vor allem in unterdrückter Form schmerzhaft sind. Also können allein durch die Diagnose Schmerzen und schmerzhafte Zyklen entstehen. Deswegen gehen manche erst gar nicht zum Arzt.

 

Anschaulicher sind diese Zusammenhänge bei der Krebsdiagnose aufzuzeigen. Allein durch die Diagnose geraten viele Krebskranke in Panik, Katastrophenstimmung und Verzweiflung und, wenn sie nicht selbst, dann das Umfeld. Aber Verzweiflung und Katastrophenstimmung wirken sich ungünstig auf das Immunsystem, das Krebswachstum und die weitere Prognose aus. So kann sich allein schon die Diagnose als sich selbst erfüllende Prophezeiung auswirken. Bei manchen oft harmlosen Krebsformen wie dem Prostatakrebs ruft allein die Diagnose Weltuntergangsstimmung hervor, so daß mit allen Mitteln alles getan werden, d. h. radikal operiert werden muß. Der Krebs, der keinerlei Beschwerden verursacht hätte und nicht lebensverkürzend gewesen wäre, dessen Beobachtung gereicht hätte, hat durch die Überbehandlung unheilvolle Folgen wie Impotenz und Inkontinenz, die wiederum Scham, Peinlichkeit, Versagensgefühle und Schmerz hervor rufen können.

 

Vor allem der chronifizierte Schmerz ist ein komplexes Geschehen, von denen ich nur einige Faktoren und Zusammenhänge beschreiben kann. Kränkungen, Bloßstellungen, Demütigungen, Schuldgefühle, Legitimationsdruck, Verunsicherung, Angst, unterdrückte Wut, innere Zerrissenheit, das Berggefühl, Leistungsansprüche stellen eine teuflische Mischung dar. Bei Fortsetzung der Chronifizierung kommen Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, Schmerz als der körperlichen Seite der Depression und oft genug die Depression hinzu. Trotzdem kann der Schmerz wie jegliche Erkrankung als Signal und Chance in jedem Stadium be- und ergriffen werden. Dabei gilt es, zuerst einmal den Schmerz anzuerkennen, nach den Ursachen zu forschen und diese ebenfalls anzuerkennen, dadurch nicht gekränkt zu sein, also sich selbst zu achten, denn an den Ursachen in der Kindheit und den späteren Wahrnehmungen ist der Kranke an sich schuldlos. Wer Körper und Seele trennt, hat schlechte Chancen, aber auch dann vergehen oft auch chronische Schmerzen. Die Aktionen der Körpermedizin greifen. Aber, wie ist es möglich, derartig unangenehmes anzuerkennen oder sogar dankbar zu sein? Trotzdem, wer es nicht tut, muß noch viel mehr unangenehmes ertragen.

 

Dieser Artikel ist sicherlich nicht im Interesse der Medizinindustrie, die an der Spaltung der Psyche-Körper-Einheit, Körper ohne Seele und Seele ohne Körper, und der Verleugnung des sozialen Raums goldene Nasen verdient. Beispielsweise dem Herzkranken, dessen Kranzgefässe immer wieder verstopfen, sein Herz bricht sozusagen. Bei der Bewältigung seiner inneren Konflikte und Kränkungen erfolgreich zu helfen, würde Herzkliniken arbeitslos machen. Neurochirurgen leben von Bandscheibenoperationen und Orthopäden von Kniegelenksarthroskopien, wo sie glätten, abschneiden und flicken. Oft geht es dann besser oder auch nicht. Aber gottseidank setzen ihre Patienten alle ihre Hoffnungen in die Apparatemedizin. Der Bewusstseinsstand der Patienten, an dem die Industrie mitwirkt, schafft neue Märkte, und führt mit der Hilfe der Schmerzkranken zu neuen hoffnungsvollen finanziellen Ufern.

 

Bernd Holstiege