Dopingsucht: Männlichkeits- und Jugendwahn
Exradprofi Jesus Manzano schildert im Stern den Übergang von Doping zu Kokain und Antidepressiva.
Durch die Aussagen von Manzano wurde die Operacion Puerto der spanischen Polizei, bei der 200 Blutbeutel gefunden wurden, in Gang gebracht. Er hält den Radsport für die Vorstufe zur Drogenabhängigkeit und schildert den Übergang mancher Radsportler zu Kokain und zu aufhellenden und glücksbringenden Antidepressiva. Insider meinen, im Fahrerfeld der Tour de France herrsche eine Junkiementalität und nur die Dümmsten der Dummen würden erwischt. Die Tour de Franc wird zur Tour de Farce.
Seit Jahren ist bekannt, dass unter den Radprofis gedopt wird. Schon Fausto Coppi, Eddy Mercks und einige andere gestanden ihr Doping, von Lance Armstrog und Jan Ulrich kann es mit Sicherheit angenommen werden. Aber beide schweigen weiterhin hartnäckig. Neu ist in der Gemengelage lediglich, dass inzwischen aufgedeckt und das flächendeckende Doping eingestanden wird. Die vorherige stillschweigende Übereinkunft, von der alle profitierten, wandelt sich jetzt in ihr Gegenteil. Bisherige duldende Förderer verwandeln sich in Moralapostel. Profitierten die Medien vorher von Berichten über die Helden und steigerten ihre Auflagen, die Medienpräsenz und ihre Werbeeinnahmen, profitieren sie jetzt von der medialen Herausstellung der Unmoral. Der Mythos der Tour des France wird jetzt Tour de Farce genannt. Heroische Leistungen, wenn auch mit Rückenwind, gelten nicht mehr und führen eher zu mehr Verdächtigungen, wenn auch oft sicherlich zu Recht. So wie einige den Betrug und die Unmoral zum „Kotzen“ finden, sogar schon Schadenersatz fordern, finden andere die jetzige Diskriminierung der (Un)Täter und dadurch die eigene Erhebung zum Saubermann zum Kotzen. Gesellschaftlich nicht nur im Sport weit verbreitet, folgen Liebe und Haß, in den Himmel heben und in die Hölle verdammen, oft den Gesetzen der Traumatisierung.
Suchtmittel und Arzneien sind zu allen Zeiten und in allen Kulturen allgegenwärtig. Warum sollten heute Spitzensportler bessere Menschen sein, nur weil sie laut gesellschaftlichem Auftrag eine Vorbildfunktion erfüllen sollen? Und Menschen sollen durch Spitzensport, an dem sich Medien, Industrie und Fans laben, zu Helden und Göttern werden, die erhaben über allen Anfechtungen und Verführungen stehen? Nirgendwo wird soviel gelogen und betrogen wie im Suchtbereich, vor allem, wenn es um Geld, Ruhm und Karrieren geht. Das gehört nun mal zum großen einträglichen Spiel.
Für ewigen, unvergänglichen Ruhm, kollektives und individuelles Heldentum, „Männer machen Geschichte“, wurden Feldzüge geführt (Alexander der Große, Napoleon) und Pyramiden gebaut. Sportlicher Erfolg, Ehre und Ruhm, das Schwimmen auf dieser Welle, können für sich alleine schon einen Drogencharakter darstellen, der süchtig gesucht werden kann. Allein schon die intensive körperliche Betätigung setzt körpereigene Opiate frei, die sogenannten Endorphine, die süchtig auf Bewegung machen können. Also kann alleine schon die Kombination von seelischem und körperlichem Hochgefühl ohne jegliche sonstigen Hilfsmittel zu einer Suchttendenz führen. Nach einem großartigen Erfolg treten bei vielen Sportlern im Angesicht des normalen Alttags leicht depressive Nachschwankungen, ein sogenannter Kater, auf. Um diese zu vermeiden und weiter die Droge Erfolg genießen zu können, muß dieser wiederholt werden. Dann kann nach Anfangserfolgen Angst und Streß vor dem Versagen hinzutreten und den Erfolg unterminieren. Deswegen verschwinden viele anfangs erfolgreiche Sportler in der Versenkung, wenn sie nicht in ihrer Erfolgsverarbeitung behutsam aufgebaut werden. Der Erfolg kann zum Fluch des Erfolges ausarten.
Nun lebt der Sportler in einem Umfeld, das an seinen Erfolgen innerlich auf dem Wege der Identifikation und äußerlich mit eigenen finanziellen Erfolgen beteiligt ist, wie Medien, Betreuer, Verbände, Sponsoren, nicht zuletzt die Fans. Es gilt für den Sportler, diese so wenig wie sich selbst zu enttäuschen, schließlich hat er auch eigene Erfolgserwartungen. Zu der Last des eigenen Erfolges tritt also die Last der Verantwortung für dieses Umfeld hinzu.
Die Vergöttlichung durch Erfolg trägt den Dualismus schon in sich, neigt deshalb zu ihrem Gegenteil, der Verteufelung im Misserfolg und des Erfolglosen. Hinzu kommt, dass viele Menschen schon vorher in einer dichotomen (gespaltenen) Welt des Entweder - Oder, Gut - Böse, Himmel - Hölle leben, wodurch die Neigung zur Verteufelung verschärft wird. Dann wird der Sportler bei Erfolgen in den Himmel gehoben und bei Misserfolgen entwertet und verteufelt. Diese Verteufelung muß er fürchten.
Wenn nun der Sportler selbst und sein Umfeld glauben, dass die Erfolge ohne Hilfsmittel nicht zu erreichen sind, etwa eine Tour de France ohne Doping in diesem hohen Tempo nicht erfolgreich durchzustehen ist, ist die Verführung für alle Beteiligten groß, zu diesen Mitteln zu greifen. In letzter Zeit wird vermehrt aufgedeckt, dass Doping in den Rennställen schlicht dazu gehört, ja sogar obligatorisch ist: Wer nicht dopt, bekommt keinen Vertrag! Zur offiziellen Regelung und Richtschnur des dopingfreien Sports kommt die inoffizielle Regelung, Subkultur oder Parallelwelt der Dopingverpflichtung. Zu dieser Verpflichtung gehört, diese Regelung unter allen Umständen nicht öffentlich zu machen. Der Sport soll gemäß den offiziellen Richtlinien, wofür bezahlt und Werbung gemacht wird, sauber sein. Als Folge kommt es oft genug vor, daß Antidopingvorkämpfer selbst dopen oder das Dopen unterstützen, eine offensichtliche Doppelmoral und Scheinheiligkeit. In der offiziellen Regelung der Saubermänner gilt einerseits Doping als Lug und Betrug, die sie mit Grausen verteufeln, und in dieser Subkultur gelten andererseits Aufdeckung, Bloßstellung und Geständnis als Nestbeschmutzung und Verrat an der gemeinsamen Sache.
Zwischen diesen beiden Extremen steht der Spitzensportler, muß diese innerlich mit sich vereinbaren und damit fertig werden. Er bewegt sich auf einem schmalen Grad der Bedrohung, sozusagen zwischen Skylla und Charybdis, einerseits erwischt und bestraft zu werden, andererseits ohne Hilfsmittel nicht mithalten zu können, zu „versagen“ und seine eigenen Erwartungen und die des Umfeldes zu enttäuschen. Für einige Nationen und Spitzensportler gilt Doping dazugehörig wie die Butter auf das Brot, und alles wird unaufgeregt behandelt. Diese haben auch keinerlei Unrechtsbewusstsein. Durch Doping lassen sie sich ihren Spaß nicht verderben.
Zum Suchtmittel Erfolg kommt also in der Subkultur des Spitzensports verschärfend das Suchtmittel Doping hinzu, auch mit Mitteln, die auf die geistige und körperliche Wahrnehmung einwirken, etwa den Schmerz nicht mehr so stark zu spüren. Der Weg zur Sucht ist nahe liegend. Ein großer Anteil der Deutschen neigt zur Sucht oder ist süchtig: ein bis zwei Millionen Alkoholiker, Drogen- und Medikamentensüchtige, Fett-, Mager- und Bulimiesüchtige, Spielsüchtige, Sexsüchtige, Workaholiker. Von allen profitiert wie bei den Sportlern eine gewaltige Industrie. In manchen Nationen wie in Russland ist das Suchtpotential noch höher. Wenn man diesen prozentualen Bevölkerungsanteil auf die Sportler überträgt, neigen eine Reihe von ihnen schon von vorne herein zur Sucht. Deren Suchtneigung wird durch die Erfolgssucht, Doping und Medikamente mit allen Begleiterscheinungen noch verstärkt.
In der Sucht wird ein Rauschzustand gesucht, begleitet von Größen- und Allmachtsvorstellungen, auf dem Hintergrund gegenteiliger Erlebnisse von Selbstzweifeln, Versagensgefühlen, Schuld- und Schamgefühlen und beinhaltet weiterhin die Neigung zur Selbstzerstörung, einer Form der Depression. Die Gründe liegen in einer traumatisierten Entwicklung, wofür die Süchtigen und Depressiven ursprünglich nichts können. Der Rausch ist an sich ein willkommener Zustand, dient aber in der Sucht der Kompensation und Abwehr anhaltender gegenteiliger Zustände, stellt also eine Art Medikament dar. Dem Süchtigen fehlt in weiten Bereichen Selbst- und als Folge Fremdachtung und infolge der Bedrohungen innerer Frieden, Genuß-, Liebes- und auch oft Arbeitsfähigkeit. Im leichten Zustand des Rausches besitzen die Süchtigen deswegen oft Selbstachtung, Selbstsicherheit und Arbeitsfähigkeit, im stärkeren Zustand verlieren sie alle Grenzen und können zu einer Gefahr für sich und das Umfeld werden. Schwäche, Weichheit und Altern sind den Süchtigen ein Graus. Härte, Stärke und Durchhaltevermögen sind ihre Ziele und erregen ihre höchste Bewunderung. Deswegen ist die Sucht mit einer Männlichkeits- und Jugendsucht bzw. –wahn kombiniert. Schwächen und Weichheit sind mit diesem Wahn unvereinbar. Wegen dieses Männlichkeitswahns ist Doping - vor allem im Kraftsport wie Bodybuilding - besonders weit verbreitet.
Der Spitzensport bietet für den heroischen Männlichkeitswahn und Jugendkult ideale Voraussetzungen. Darin liegt seine Faszination. Menschen mit Selbstwertdefekten neigen deshalb zu größten Anstrengungen, mit allen Mitteln das Ziel, den rauschartigen Erfolgszustand zu verwirklichen, und wenn sie dazu nicht in der Lage sind, vielleicht aufgrund ihres Alters oder anderer Lebenseinbettungen in Familie und Beruf, neigen sie dazu, wenigstens an den Erfolgen ihrer Helden mittels Identifikation zu partizipieren, sodaß sie sich rauschhaft selbst großartig fühlen können. Bei stärkerem Selbstwertdefekt ist der Erfolg und Rausch ein absolutes Muß. Wehe!, wenn er nicht erbracht wird, besteht die Neigung zur Verteufelung, so daß die „Versager“ in den Medien und von den Fans zerrissen werden. Wenn der Sportler selber zu diesen Zuschreibungen neigt, wird er in seinem Selbstwert zutiefst getroffen und kann durch die Neigung zu verstärkter Sucht wie etwa der italienische Radprofi und Volksheld Marco Pantani zerbrechen und zugrunde gehen. Für die Profis kommt noch hinzu, dass sie durch den Sport ihre finanzielle Lebenssicherung erreichen müssen und durch das „Versagen“ dies Ziel nicht erreichen können, es sei denn, sie widmen sich später der gut dotierten Spitzensportlerbetreuung, sind dann aber von deren Erfolgen abhängig.
Daß nur die Dümmsten der Dummen erwischt werden, halte ich für eine zu oberflächliche Erfassung des Geschehens. Ähnlich wie bei der Kleptomanie stecken mehr unbewusste Motive dahinter. Bei dieser, dem Zwang, meist unnötige Kleinigkeiten stehlen zu müssen, um dann erwischt und bei zwanghafter Wiederholung in einem Maße weit über den Wert der gestohlenen Dinge hinaus bestraft zu werden, dient die Strafe der Wiedergutmachung von Schuldgefühlen, die einer seit der Kindheit in der Familieneinbettung zugeschriebenen Schuld entstammen. Auch Sportler, die nach außen Selbstgerechtigkeit und Unrechtbewusstsein verkörpern, werden infolge der herrschenden Moral vom Unrechtsbewusstsein infiziert und suchen durch die Strafe im Sinne einer Wiedergutmachung, ähnlich wie bei der Beichte die Reue und Buße, eine Erlösung von ihrer Schuld. In ihrer Schuldübernahme halten sie als Sündenbock ihren Kopf hin für alle übrigen Beteiligten an der kollektiven Dopingschuld. Moralapostel können sie trotzdem nicht bemitleiden. Das würde auch nicht in den Männlichkeits- und Stärkewahn passen. Außerdem sind sie vom dauerhaften Streß des Spitzensports, den unmenschlichen Leistungsanforderungen in Training und Wettkampf, ihrer Angst vor den Folgen des Dopings befreit und müssen nicht mehr den Absturz fürchten, da sie dann sowieso ganz unten sind. Sie lassen sich also aus unbewussten Motiven erwischen.
Als Vorbild, bis auf ihre Dummheit des Dopens, möchte ich den Weg von Nina Kraft, der bisherigen einzigen deutschen Gewinnerin des Ironman auf Hawai (2004), aus ihrem Dilemma heraus zu kommen, anführen. Nachdem sie beim Epo-Doping erwischt und ihr der Titel aberkannt wurde, fiel sie in ein depressives Loch. Von vielen Seiten wurde sie verunglimpft und verfolgt. Nachzulesen ist auf ihrer Homepage (www.nina-kraft.de) in einem Interview, dass für sie lebensrettend war, als sie einen Artikel über das Schicksal von Marco Pantani in die Hand bekam, in dem beschrieben wurde, wie er von Medien und früheren Fans verfolgt wurde, und als Folge mittels Drogen zugrunde ging. Das erweckte ihre Lebensgeister, und sie sagte sich „so will ich mich nicht fertig machen lassen!“ Nach ihrer Sperre nimmt sie als zweite Chance einen neuen bisher recht erfolgreichen Anlauf.
Im Gesellschaftssystem gibt es legale und illegale Drogen und Medikamente. Die Droge Alkohol ist legal, solange nicht Fremdschäden oder deren Gefährdung wie etwa Alkohol am Steuer verursacht werden, obwohl Alkohol bei Suchtpersönlichkeiten, soweit er zur Minderung von dauerhaften Spannungszuständen dient, zur Sucht und Selbstzerstörung führen kann. Drogen wie Cannabis, LSD, Heroin, Kokain u.a. sind illegal, da sie viel häufiger zur Entgrenzung und Selbstschädigung führen. Psychotrope (auf die Psyche einwirkende) Medikamente, die weniger als Drogen definiert sind, wie Tranquilizer und Antidepressiva sind legal, solange sie als Medikamente eingesetzt und von Ärzten verschrieben werden. Entsprechend der Legalität gibt es legale und illegale Industrien, diese oft mit Maffiastrukturen, die allesamt an Herstellung und Vertrieb der Drogen kräftig prosperieren.
Eine Sonderstellung nimmt der Einsatzbereich Sport ein. Anabolika bei Bodybuildern sind völlig legal trotz körperschädigender Folgen. Durch sie wird ein Männlichkeits- und Kraftkult verwirklicht. Hat sich der Sport dem Reinheits- und Sauberkeitsgebot verschrieben, der von offiziellen Verbänden kontrolliert wird, wird die Einnahme von ansonsten legalen Medikamenten zur Leistungssteigerung illegal und bestraft. Die Folge ist der Vertrieb in maffiaähnlichen Strukturen, während die Herstellung in Pharmafirmen legal ist. Aber diese wissen nur allzu gut, dass die Menge ihres Materials, an dem sie verdienen, nicht nur von Kranken, für die es ursprünglich auf den Markt gebracht wurde, konsumiert wird. Was heißt hier Kranke? Sind die Spitzensportler und das System nicht ebenfalls krank? Sie benötigen, wie Manzano beschrieb, für ihre Krankheit Psychopharmaka. Wer eine Tour de France in einem derartigen Tempo durchsteht, müßte schon vor Gesundheit strotzen und macht sich gleichzeitig krank. Der Übergang ist fließend, und der Unterschied von Gesundheit und Krankheit - wie bei den Bodybuildern - kaum noch zu definieren. Unter diesen Umständen ist Sport gleich Mord.
Daß das öffentliche Fernsehen ARD und ZDF von der Berichterstattung zurückgetreten ist, halte ich für nahe liegend, da sie als öffentliche Institution der offiziellen Moral verpflichtet sind. Private Sender sind kommerziell auf Gewinn ausgerichtet und mehr den Gesetzen des Geldes verpflichtet, bei dem diese Moral eine geringere Rolle spielt. Das ganze Spektakel Tour de France funktioniert wie eine Gelddruckmaschine und kann deswegen nicht einfach beendet werden. Viele partizipieren daran und müssten ungeheure finanzielle Einbußen in Kauf nehmen. Eine Beendigung könnte nur erfolgen, wenn der moralische Druck doch zu groß würde. Folgerichtig ist der Privatsender Sat1 in die Fußstapfen getreten. Allerdings blieben die erhofften Einschaltquoten aus, vielleicht, weil für viele der Radsport durch das Dopingspektakel und die Ungewissheit, fair oder unfair, nicht mehr so interessant sind. Des Einen Weh ist des Anderen Wohl. Trotzdem könnte man bei den öffentlichen Sendern eine Doppelmoral sehen, da sie sie trotz besseren Wissens lange schwiegen und erst nach Publikwerden einzelner Fälle die Berichterstattung beendeten.
Der Spitzensport soll eine Vorbild- und Nachahmerfunktion erfüllen. Er soll vor allem Spaß bereiten. Für einen Profi sind die Erfolge aber mühsam und hart erarbeitet, oft eine Quälerei und Tortur, für die er eine Honorierung in Ruhm und Geld beansprucht. Kommt noch Doping hinzu, ist diese Tortur von Gesundheitsgefahren begleitet. Um sich in dieser Tortur ein wenig Glücksgefühle zu verschaffen, ist die Einnahme von psychotropen Medikamenten und damit die Suchteintrittspforte nahe liegend. Alkohol ist bei Profis wegen der Leistungshemmung verboten, bei Hobbysportlern jedoch nicht, sodaß in manchen Kreisen nach dem Training und nach Wettkämpfen ganz schön gesoffen wird. Trotzdem sind die Leistungen mancher ältere Sportler erstaunlich.
Kaufen sich in der Nachahmung möglichst viele, von den Erfolgen ihrer Helden beseelt, Rennräder, Laufschuhe und Accessoires, und radeln über die Straßen - höchstens die Autofahrer und Ehepartner beschweren sich - oder joggen durch die Parks und nehmen an Stadtmarathons teil, tragen sie zur Volksgesundheit bei und kurbeln die Industrie an. Jedoch greift in dieser Nachahmerfunktion auch bei leistungsambitionierten Hobbysportlern das Subsystem und die Subkultur der Selbstquälerei und der Leistungssteigerung, vor allem wenn in unserer Leistungsgesellschaft die ehrgeizigen Leistungen wie im Beruf, im Bett oder am Stammtisch nicht mehr erbracht werden können. Sie verlieren ihre Hemmungen, sich zu dopen. Am Verkauf gewinnt zwar wiederum die Pharmaindustrie, aber nicht die Volksgesundheit. Und diese Hobbysportler können sich meist eine ärztliche Betreuung zur Reduzierung der Gefahren nicht leisten. Wir alle sind in einer Tradition groß geworden, wo nicht allein der Spaß und Genuß regiert, obwohl dauernd davon geredet wird, sondern der Erfolg, die Schulnote, das Image. Eine großartige Medienwirksamkeit hat der Hobbysportler selten. Er muß sich mit sich selbst begnügen und kann aus eigener Erfahrung die Leistungen der Profis nur bestaunen. Damit er nicht frustriert zurück bleibt, wird der Slogan verbreitet „jeder Teilnehmer ist ein Sieger!“.
Aus dem Beschriebenen, den negativen Folgen für Profis und Hobbysportler, ergibt sich für mich, und nicht nur für mich, sondern auch für die Verantwortlichen in Verbänden und Politik, Doping mit allen Mitteln zu bekämpfen. Die Crux dabei ist, solange man vom Doping nicht profitiert, ist diese Einstellung leicht. Sollte aber der eigene Erfolg vom Doping abhängig sein wie bei den Profis und den umgebenden Nutznießern, wird diese Einstellung ungemein schwerer. Man sollte den Sport auf der Ebene des körpereigenen Rausches zu belassen. Wir sind Menschen und keine Götter, auch wenn wir noch so sehr vergöttlicht werden. Aus eigener Erfahrung als Langstreckenläufer und Triathlet weiß ich, wenn es so richtig gut läuft und rollt, das macht high. Auch wenn ich mit Problemen belastet zu einem längeren Lauf startete, wurde ich nach einiger Zeit richtig frei und fand Abstand, der auch über den Lauf hinaus anhielt. Ich weiß aber auch, Erfolge führen zur Neigung der Wiederholung bis zum Erfolgszwang, der die Freude und den Spaß unterminieren und die Leistung torpedieren, vor allem, wenn dann zu viel trainiert und erwartet wird.
Meiner Meinung nach sollten die erwischten Doper nicht verteufelt, dagegen eine zeitlang aus dem Verkehr gezogen und ihnen eine zweite Chance gegeben werden. Sie sind zwar Täter, aber auch Opfer eines Systems, an dem viele beteiligt und somit Mittäter sind, und leben in einem System, in dem Doping dazu gehört. Vielfach wird eine andere Einstellung, eine neue Mentalität gefordert und Hoffnungen mit dem Nachwuchs verknüpft. Zu bedenken ist, jeder Mensch hat ein Selbstbestimmungsrecht, auch sich selbst zu schädigen, solange nicht andere dabei geschädigt werden. Auch hat er das Recht auf seine Aussage, in dieser Aussage etwas anderes auszusagen, als er selbst für die Wahrheit hält, also bewusst zu lügen, solange er nicht wiederum andere dadurch schädigt, auch wenn er durch die Lüge, wiederum selbstschädigend, seine Glaubwürdigkeit verliert. Er sollte in der Wahrnehmung seines guten Rechts nicht diskriminiert werden. Wenn nun im Dopingspitzensport die Mehrheit Hilfsmittel einnimmt, dies jedoch verschweigt, sogar die Sauberkeit vorgibt, schadet die Aufdeckung dieser Doppelmoral der Glaubwürdigkeit des Sports, während der Betrug in dieser Form des Sports die für alle Seiten einträgliche Kontinuität fortsetzt. Durch dieses Subsystem, das sich auch außerhalb des Sports in vielen Bereichen z. B. der ehrenwerten Gesellschaft, der italienischen Maffia abspielt, wird die herrschende Moral auf den Kopf gestellt. Aber das ist ein ganz heißes Thema, bei dem die Wellen der Empörung hoch schlagen. Allen, auch den Illusionisten, die von der Reinheit und Stärke ihrer Helden träumen und desillusioniert werden, kann man es nicht recht machen.
Gottseidank werden nicht nur die Dopingtechniken verbessert, sondern auch die Nachweismethoden. Jüngst wurde Alexander Winokurow bei seinem Parforceritt in den Pyrenäen nach einem Schwächetag, durch den er im Klassement weit zurückfiel, beim Blutdoping erwischt, Floyd Landis vor einem Jahr in ähnlicher Situation noch nicht. Die beiden Führenden der Tour de France durften trotz Verdachtsmomenten zuerst weiter radeln. Der vorher in der Gesamtwertung führende Rasmussen ist inzwischen wegen starkem Dopingverdacht von seinem Team heraus genommen worden. Der Sieger Alberto Contador wird in seiner Heimat Spanien als neuer Volksheld trotz Dopingverdachtes gefeiert. Die Unterlagen zu den von ihm vermuteten Blutbeuteln sind in Spanien einfach verschwunden. Viele sehen den Profirennradsport am Boden. Das wäre schade, wo doch gerade der Profirennradsport soviel Begeisterung erweckt!
Siehe auch die beiden Artikel „Doppelmoral im (Doping)-Spitzensport“, den ersten im Archiv (unter Suchen Bernd Holstiege eingeben).
Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 06.08. 2007
Foto: © Ampliar
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 06.08. 2007