Männer-Traumatisierung im Film „Elementarteilchen“
Claudia Schulmerich im Gespräch mit dem Arzt und Psychotherapeuten Bernd Holstiege
Haben Sie das Buch von Michel Houellebecq gelesen?
Ich habe das Buch nicht gelesen, werde es aber angeregt durch den Film tun.
Das paßt mir sehr. Dann können wir allein den Film, den jeder Zuschauer in zwei Stunden erleben kann, zum Ausgangspunkt nehmen.
Mit welchen Gefühlen haben Sie das Kino verlassen? Was bleibt vom Film?
Ich habe das Kino zwiespältig, teils nachdenklich verlassen. Einerseits war ich von der Geschichte, den menschlichen Abgründen, als Mann von den Sexszenen, dem bissigen Humor - ich habe viel wie andere Zuschauer gelacht - fasziniert, anderseits erwischte ich mich dabei, daß ich dachte, wann ist der Film endlich zu Ende. Dies Gefühl, das sicherlich manche als ein Gefühl der Langeweile erleben, führe ich auf den doch traurigen und tragischen Hintergrund zurück, insofern schwinge ich innerlich mit, der unser Gesellschafts- und Kulturdrama widerspiegelt, sicherlich in den Augen vieler verzerrt, vor allem solcher, die sich ihre heile Welt bewahren möchten. Mir geht es ähnlich, da ich von der Traurigkeit und Tragik als unmittelbare Reaktion naturgemäß wenig wissen möchte. Jeder möchte schließlich seine kleine heile Welt erhalten wissen. Insofern bin ich ein Mensch wie andere.
Herr Holstiege, Sie haben mir gerade den Begriff Traumatisierung als neu auftretenden zwischenmenschlichen Konflikt einer Person dargestellt, die diese auf die alte - eben durch die Traumatisierung - vorgegebene Art durchläuft. Wie würden Sie die Traumatisierung des durch Moritz Bleibtreu dargestellten sexsüchtigen und todunglücklichen Bruno Klement beschreiben: Ursache, Folge, Handlungs- und Befreiungsmöglichkeiten?
Sie haben das Grundproblem richtig erfaßt. Ist der Mensch erst mal traumatisiert, lebt er sein Leben in der durch das Trauma vorgegebenen Art und Weise mit all seinen Folgen. Bruno wurde durch den Verlust, die Abschiebung an die Großeltern und Vernachlässigung seiner Mutter schwer traumatisiert. Er muß sich enttäuscht, ungeliebt und entwertet fühlen. Und wer die Liebe und Achtung nicht kennen lernt, kann sie nicht weiter geben und wird in allem die Enttäuschung und Mißachtung erleben. Als Kind kann er ja nicht die Motive, Not und den Hintergrund seiner Mutter erfassen, sondern nimmt nur wahr, was er vordergründig erlebt, und macht es sich zu eigen. Die Mutter muß in ihrer Kindheit und ihrem Elternhaus ebenfalls schwer traumatisiert worden sein, sonst hätte sie nicht den Weg der sexuellen Freiheit und kurzfristigen Bindungen gewählt. Im Film wurde sehr deutlich gezeigt, wie deplaziert in ihren Sprüchen und kontaktabbrechend die Mutter sich gegenüber den Söhnen verhält. So lustig, wie es klang, so traurig war es. Ihr fehlt das Vertrauen in Menschen, in tiefere und gewachsene Bindungen, sodaß sie dies ihren Söhnen nicht weiter geben kann.
Ein wenig findet sie
offenbar ein Zuhause in den Hippiekommunen. Die Hippieszene halte ich für eine
Reaktion auf den engen, sexualfeindlichen und menschenverachtenden überkommenen
Zeitgeist, wie früher in den weit verbreiteten pädagogischen Büchern von
Schreber dargestellt, der weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts hineinreichte
und z.T. noch heute besteht. Als Reaktion auf die Enge mit vielen
emanzipatorischen Elementen werte ich auch die 68er-Bewegung.
Sie überließ ihren Sohn ihren Eltern. Wie ich das von Patienten kenne, hinterlassen die Kinder, um von ihren eigenen Eltern frei zu kommen, ihre eigenen Kinder diesen. Mit den Worten einer Patientin gesprochen, sie werfen ihren Eltern ihre eigenen Kinder zum Fraß vor, um nicht selber gefressen zu werden. In dieser Konstellation kenne ich tragische Schicksale. Meist kämpfen die vernachlässigten, ungeliebten Kinder durch Untertänigkeit erfolglos um die Liebe ihrer Mütter. Nun gehen die Großeltern mit ihren Enkeln oft viel liebevoller um als mit ihren eigenen Kindern, aber nur solange sie nicht in der Elternverantwortung sind. Geraten sie in die Erziehungsposition, wiederholen sie meist ihr Verhalten, so wie es ihnen steckt. Im Film wurde nicht gezeigt, in welchem Milieu Bruno bei seinen Großeltern aufwuchs. Anzunehmen ist ein ähnliches Milieu wie bei seiner Mutter, da er einen ähnlichen sexuellen Lebensweg nimmt.
Den bindungslosen Sex sehe ich als Reaktionsform und Reparierungsversuch auf eigene innere Mißachtung, Enttäuschung und Verzweiflung. Die Folge ist durch die Verdrängung produzierte innere Leere. Wegen der inneren Ohnmacht wird oft Macht und Kontrolle gesucht und gleichzeitig dabei Haß, Wut und Entwertung untergebracht. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert, da ja im Grunde etwas ganz anderes gesucht wird. Und wegen dieser Enttäuschung muß oft noch eine Steigerung drauf gesetzt werden, neue Sexualpartner, ausgeklügeltere Techniken, im Alter die Suche nach jugendlichen Partnern, Kicks wie in Swingerclubs. Das sind Thrills, die Angstlust, die im Film auch die Zuschauer faszinieren, wo Lust und Angst vor näheren Beziehungen und Enttäuschungen mitschwingen. Dadurch wird der Film wiederum Kritiken der Moralisten ausgesetzt.
Ein anderer Weg der
Erlösung der Zyklen von Enttäuschung und Mißachtung ist der der Liebe, die vor
allem Unglück feit, aber in die durch das Trauma das Vertrauen fehlt.
Zwangsläufig muß die Geliebte von Bruno sich lieber in den Tod stürzen, als nach
einer Reihe von Enttäuschungen eine erneute Enttäuschung erwarten zu müssen. Ein
weiterer Weg, der Schutz und Rettung verspricht, ist der der Religion. Das
Trauma wird im Teufel personifiziert, durch den ein Gegenbild des Gottes
automatisch entsteht. Immerhin hat Bruno in seiner Wahnwelt noch ein bißchen
Glück und Liebe, seine Form der Lösung, gefunden.
Ist auch der nach
außen so still und zufrieden wirkende Halbbruder Michael, dessen Leben in der
Forschung aufgeht, der aber - bisher - selbst nicht lebt -, traumatisiert? Für
mich als Frau ist er dies eindeutig - auch ohne daß ich Therapeutin wäre. Dieser
Michael hat aber dieselbe Mutter wie Bruno und man erlebt auch nicht, daß sie
sich zu den beiden Brüdern unterschiedlich verhält. Wie sehr spielt in einer
traumatisierenden Familiensituation dann das Indivíduelle eines Kindes eine
Rolle? Grob gesagt, wieviel Möglichkeiten haben kleine Menschlein?
Der Halbbruder Michael
wurde ebenfalls traumatisiert. Sicherlich hat er auch andere Erbanlagen
mitbekommen. Er ist jedoch bei einer anderen Großmutter aufgewachsen und wurde
infolgedessen anders geprägt. Die meist anwesende Person übt mit ihrer Person
den stärksten Prägeeinfluß aus, auch ohne dies bewußt zu wollen. Das ist das
Schicksal beider Protagonisten, Erziehern und Zöglingen. Der nach außen still,
fast tiefgründig wirkende Mann offenbart gegenüber seiner Jugendfreundin und
späten Liebe seine innere Leere und fehlenden intimen zwischenmenschlichen
Beziehungen, da er sich noch nie mit einer Frau eingelassen hat, weder liebte,
noch geliebt wurde. Warum er einen gegensätzlichen Weg eingeschlagen hat, läßt
sich weiterhin darin vermuten, daß er als mathematisches Genie in der
Wissenschaft für seinen Defekt etwas wie eine Plombe, eine
Kompensationsmöglichkeit, sah, nicht zufällig dort, wo sein Defekt lag, in der
menschlichen Reproduktion, ohne Einlassen in die bedrohlichen
zwischenmenschlichen Beziehungen. Dieser Hinweis läßt spekulieren, welche
persönlichen Erfahrungen Menschen haben, die künstlich befruchten, über
Samenbanken, Retorten und Klonen Menschen produzieren oder in der Psychiatrie
Erbanlagen und nicht zwischenmenschliche Beziehungen und Prägungen als
Erklärungen für die Störungen hinzuziehen. In dieser Reproduktionswissenschaft
sieht er seine Möglichkeiten. Diese Möglichkeiten hat er wohl nicht bewußt,
gezielt gesucht, sondern sie haben sich einfach durch seine besonderen
Fähigkeiten ergeben. Gerade traumatisierte Menschen, falls sie nicht völlig
gelähmt sind, legen alle Kraft in ihre Fähigkeiten, die sie zur Kompensation
ihrer Probleme vital benötigen, und sind zu hervorragenden intellektuellen und
künstlerischen Leistungen in der Lage, wie die Biographie vieler Genies beweist.
Genie und Wahn können nahe beieinander liegen.
Auch wenn "Elementarteilchen" auf für mich beängstigende Weise ein Männerfilm ist - beängstigend, weil Frauen dort nur eine Funktion für Männer zugewiesen wird und die möglichen Rollenklischees unter "Aburteilung" von Feministinnen männergerecht verteilt sind -, wird doch von diesen Männern in den Frauen das Heil gesucht, in den Frauen, die Erotik und Sexualität verkörpern, aber doch auch irdische Stabilität und Spiritualität. Wie analysieren Sie die drei Frauen: die Mutter, Christiane und Annabell unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung, also bezogen auf sie selbst und nicht auf deren Funktion als Mutter und Geliebte für Männer?
Traumatisierte Menschen suchen oft in Rollen und Klischees Sicherheit und Schutz – das Zauberwort ist oft „normal“ oder „Normalität“ - vor der für sie bedrohlichen Ungewißheit und Unberechenbarkeit des Lebens, aber genauso zur Selbsterhaltung die Durchbrechung der Tabus, Opposition und Provokation, wie dies der Film weithin darstellt. In der Durchbrechung finden sie noch einen Rest Lust, auch gerade in dem Verbotenen. Gleichzeitig schwingt die Angst mit, deswegen Angstlust.
In der Pressemitteilung erwähnt der Regisseur Oskar Roehler, daß er und der Autor Michel Houellebecq bei ihren Großmüttern aufgewachsen sind und in der Kindheit die Ablehnung der Mütter erfahren mußten. O.Roehler erwähnt, daß Houellebecq über die Großelterngeneration und deren aufopferungsvolle Nächstenliebe mit großer Herzlichkeit schreibt. Er sagt "erstaunlicherweise", weil er vermutlich die Ansprüche kennt, die sich aus dieser Aufopferung ergeben. M.Houellebecq war sogar mehrfach in der Psychiatrie, ob als Patient oder etwa zur Recherche wurde nicht erwähnt. Insofern ist der Film ihr eigenes Thema.
Im Film äußern sich Christiane und Annabel enttäuscht von den Männern. Annabel sagte sogar, keiner sei wert, im Gedächtnis behalten zu werden. Für Männer eine massive Ohrfeige. Diese Enttäuschungen haben sicherlich ihre Vorläufer in deren Traumatisierungen in der eigenen Kindheit, über die im Film nichts erwähnt wird.
Der Film ist für mich nicht nur ein Männerfilm, in dem Frauen nur eine Funktion für Männer zugewiesen wird. Wenn auch die Hauptprotagonisten Männer sind, der Film von Männern geschrieben und von einem Mann Regie geführt wurde, so treten die Frauen durchaus als eigene Personen auf, die eigene Ziele, wenn auch als Traumatisierungsfolge, suchen. Manche sehen in Feministinnen Frauen, die in den Männern das Böse sehen, die Macht und Unterdrückung, und gegen sie ankämpfen oder ihre Männer domestizieren, bis diese die Welt aus den Augen von Frauen sehen. Ich halte solche „Emanzen“ oft für traumatisiert, meist von ihren oft untertänigen Müttern, von denen sie den Auftrag erhalten, das stellvertretend auszufechten, was diese selbst nicht konnten. Gegen solche Frauen wehren sich Männer mit allen Kräften, werden böse, sodaß sich die Frauen bestätigt sehen. Darin liegt der tragische Teufelskreislauf.
Die Männer werden ebenfalls
meist von ihren Müttern geprägt, und von traumatisierten Müttern geschlachtet,
sodaß sie sich vor diesen bedrohlichen Frauen in die Männerwelt, etwa in die
Arbeitswelt zurückziehen, in der sie ihre Pöstchen untereinander verteilen und
möglichst wenige Frauen hereinlassen. Zusätzlich treten Frauen, die es schaffen,
in die Männerwelt einzudringen, besonders stark und selbstbewußt auf, sodaß sie
die Ängste der Männer und deren Widerstand verstärken
Autor: Claudia Schulmerich
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Abfassungsdatum: 23.02. 2006
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Update: Berlin, 23.02. 2006