Schamlosigkeit, Sexbesessenheit auf dem Boden von
Schamhaftigkeit, Selbst- und Familienbewahrung
Serie: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche bei DuMont (Teil
2/3)
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Die Drastik und Natürlichkeit der Sprache läßt
vermeintlich, denkt der naive Leser, an einen autobiographischen Roman denken.
Hier spricht und schreibt jemand, der die Erfahrungen seines eigenen Intimlebens
preisgibt. Die Schamlosigkeit und Obszönität der Inhalte lassen die
„Feuchtgebiete“ schnell an die Spitze der Bestsellerlisten steigen, für
Moralisten, Puristen, traditionell Religiöse und Hygienebesessene eine
Provokation pur, die ihnen die Schamröte und Empörung in die Gesichter treibt.
Andere, die ähnliche, vielleicht nicht so konsequent und in milderer Form,
Sexualpraktiken durchführen, deren Leben ähnlich sexualisiert ist, mögen sich
verstanden, befreit fühlen und eher zu sich stehen können. Für diese mag es
sogar ein Befreiungsroman sein.
In einem Prolog schreibt die Icherzählerin, daß es für sie als Scheidungskind
das höchste Glück bedeutet, ihre geschiedenen Eltern dereinst zu Hause zu
pflegen, sie in ein und dasselbe Ehebett zu legen, bis sie sterben, und deren
neue Partner ins Altersheim zu stecken. Das mag pathetisch klingen und bedeutet
für ihre Eltern und deren neue Partner in dieser kindlichen Egozentrik eine
Grausamkeit: Denn schließlich sind sie auseinander gegangen, weil sie sich nicht
verstanden haben.
Übergangslos geht die 18jährige fiktive Schreiberin Helen Memel in ihrem Buch
gleich zur Sache, ihre Hämorrhoiden, einer Rosette um den After, seitdem sie
denken konnte, über die sie – ansonsten unmädchenhaft - keinem etwas sagen
durfte, außer ihrem Proktologen, stolz, daß sie trotz wucherndem Blumenkohl
erfolgreich Analverkehr ausüben konnte. Sie betrachtet ihr Arschloch täglich im
Spiegel. Dieser und andere Vorgänge werden in allen Einzelheiten beschrieben.
Wie alle ihre körperlichen Teile, an denen überhaupt Haare wachsen können,
unterwirft sie ihr Arschloch dem für sie modernen Rasurzwang. Dabei hatte sie
sich verletzt, eine Analfissur zugezogen, die sich entzündet hatte, weswegen sie
sich zur Operation auf der proktologischen Abteilung eines Krankenhauses
befindet. Ihr monologförmiger Bericht erzählt abwechselnd von der Sexualisierung
ihres Lebens, ihren Sexualpraktiken, den Ereignissen und ihren Handlungsweisen,
auch von ihren Gedanken und Sorgen auf der Krankenstation, beispielsweise einer
nach der Operation zurückbleibenden potentiellen Analinkontinenz, auch wie ihr
der Chefarzt bei der Voruntersuchung unvorbereitet seinen Daumen ins Arschloch
rammte.
Die Provokation für „Hygieniker“ geht weiter: Hygiene ist bei ihr klein
geschrieben, da ihre Mutter auf Muschihygiene immer größten Wert gelegt hatte
und daraus eine riesenernste Wissenschaft machte. Es sei natürlich Unsinn, daß
es äußerst schwierig sei, die Muschi wirklich sauber zu halten. Sie meint, durch
Muschi-, Schwanz- und Schweißgerüche werden wir alle geil und bei einer
einparfürmierten Frau werde ihr kotzübel. Deswegen tunke sie ihren Finger in die
Muschi und verreibe den Schleim hinter den Ohren. Auf öffentlichen Toiletten
genieße sie es, mit einem kunstvollen Hüftschwung und schmatzendem Geräusch
ihrer Muschi die Klobrille sauber zu reiben. Trockenen Frauen rät sie, echten
Frauenschleim statt Gleitmitteln zu verwenden. – In unserem Artikel über die
Sexualberatung hatte wir ja auch schleimige Spucke als Gleitmittel empfohlen und
uns die Empörung der „Hygieniker“ vorgestellt. – Sie beschreibt auch ihre
Geilheit bei der Beobachtung der Pfurzluftblasen in der Badewanne und ihre
Vaginal- und Rektalduschen. Die – etwas angestrengt wirkende - (Woll)Lust am
eigenen Körper beschreibt sie auch im Schulunterricht, wo sie sich selbst
befriedigt, während der Lehrer über Gottesbeweise redet, und sie vom Unterricht
kaum etwas mitbekommt. Stolz berichtet sie, so sei der Unterricht gut zu
ertragen. Überhaupt ist sie stolz auf den Erfindungsreichtum ihrer
Sexualpraktiken und Phantasien.
Bei diesen Kostproben ihrer Beschreibungen wollen wir es belassen. Wegen der
Monologform wird das Lesen, wie überhaupt bei langen Monologen, wenn der Dialog
fehlt, auf die Dauer anstrengend und trotz aller Obszönitäten leicht langweilig.
Ihre Sexualität wirkt auch in den häufig wechselnden Sexualkontakten
autoerotisch und beziehungslos. Es ist ähnlich wie bei Pornofilmen, die auf die
Dauer langweilig werden. Die Sexualität ist wie ein Rückzug aus bedrohlichen
Beziehungen, und das wirkt im Grunde traurig und frustrierend. Andererseits, in
dieser latenten Trauer macht sie diese Bedürftigkeit und innere Einsamkeit
liebenswert und sympathisch. Wir sind halt oft für die Schwachen und
Bedürftigen, weil wir in ihnen Teile von uns selbst wieder erkennen.
Trotz der vorübergehenden Langeweile können wir interessiert weiter lesen, da
die Ichfigur Helen uns inzwischen ans Herz gewachsen ist, wenn man sich von der
äußeren Schamlosigkeit nicht ins Boxhorn jagen läßt, und im Untergrund eine ganz
andere Geschichte eine Tragkraft entwickelt und uns deren Fortgang interessiert.
Und diese Geschichte ist alles andere als obszön oder lustig. Wie schon
angeklungen, war sie von ihrer Mutter rigide moralisch und überpenibel und
-sauber erzogen worden. Diese Mutter war, wie die Tochter berichtet, wie alle
Frauen in ihrer Familie erheblich psychisch gestört, streng religiös und
depressiv. Siebenjährig hatte die Schreiberin sogar ihre Mutter bei einem
Selbstmordversuch mit Gas, in dem diese den Bruder miteinbezog, gerettet. Die
Bedrohung des Gasgeruchs spürte sie noch später wahnhaft. Ähnlich wie beim
Wechselspiel vom Ertappen beim Lügen und vermehrtem Lügen und Verheimlichen, wie
das in vielen traumatisierten Familien üblich ist, hat diese Erziehung einen
traumatischen Charakter. Die Erzählerin hatte sogar, um der Französischarbeit zu
entkommen, eine Krankheit vorgespielt und sich nach dieser Lüge an einem
intakten Blinddarm operieren lassen und wurde wiederum als Lügnerin
abgestempelt. Wir wissen aus eigener Anschauung, daß viele operierte Blinddärme
nicht entzündet sind. Die Einstellung der Chirurgen ist, lieber bei
Unterbauchschmerzen einmal zuviel operiert als zu wenig.
Bei einer solchen Psychotraumatisierung wie die von Helen, die durch eine
körper- und lustfeindliche Erziehung durch die Mutter in Gang gesetzt wurde,
aber noch weitere ungenannte Faktoren einschließt, findet eine Spaltung der
Person statt. Entweder wird sich streng an diese Erziehung gehalten oder diese
mit dem Ziele der Selbstbewahrung und -behauptung in Trotz, Boykott,
Verweigerung oder Sabotage durchbrochen und unterlaufen. Oft findet beides
wechselweise statt. Auch bei Helen sind Schamlosigkeit und ab und zu anklingend
Schamhaftigkeit nebeneinander vorhanden. Diese Wechselhaftigkeit führt zur
Verwirrung und zum Chaos, so daß, um diesen zu entgehen, eine rigide Linie als
entweder – oder vertreten werden muß. Also, gerade die traumatisierende Lust-
und Sexualfeindlichkeit führt wie bei Helen zu einer Sexualisierung des Lebens.
Diese Autoerotik und Sexualisierung ist lebensrettend und gleichzeitig
beziehungslos traurig. Ansonsten wäre sie wie ihre Mutter in der Depression
versunken. So hat sie Stolz, angestrengte Freude und tausendfache, enorme
Orgasmen.
Im Kinsey-Report wurde offenbar, wie im Artikel über Sexualberatung dargestellt,
daß viele sexualfeindliche Amerikaner ständig gegen ihre inneren Normen
verstießen und eine ganz andere Sexualität ausübten, als sie selbst für die Norm
hielten. Im Alltag erleben wir oft, daß gerade in einem rigiden Sexualmilieu
andauernd die deftigsten Sexualwitze erzählt werden. Das Rotlichtmilieu hat
gerade darin seine Faszination, obwohl das Spiel beziehungslos abläuft.
Innerhalb einer rigiden Moral ist die Doppelmoral und Bigotterie die einzige
Form von Freiheit und Selbstbestimmung. In einem von Nonnen geführten
Krankenhaus, die meist recht heilig taten, erlebte ich selbst, wie einmal drei
Nonnen auf dem Flur zusammen standen, und als ich hinzu kam, ungeniert die
schweinigsten Witze vor dem jungen Mediziner weiter erzählten, so daß ich nur
staunen konnte. Von mir selbst kenne ich es, daß ich sozusagen automatisch
zweideutige Bemerkungen mache, wenn eine Frau in der sexuellen Thematik naiv und
unschuldig auftritt. Und gerade diese haben es oft faustdick hinter den Ohren,
denkt meine Phantasie, die auch immer wieder recht hat.
Der Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler vertritt die Ansicht, daß die
Perversion, die Sexualität des Mädchens liegt wohl am Rande der Perversion, eine
Plombenfunktion gegenüber dem Zusammenbrechen der Persönlichkeit erfüllt.
Inneres Chaos, Verwirrung und aggressive Explosion werden dadurch verhindert und
verplombt. Stattdessen werden wie beim Exhibitionisten Triumphe über die
herrschende Sexualmoral gefeiert. So triumphiert die Hauptfigur über die
Erniedrigung und Demütigung in ihrer Erziehung und Prägung und in der Beziehung
zu ihrer Mutter. Da aber die alten schamhaften Bilder im Untergrund dauerhaft
weiter wirken, muß sie auch diese lebensrettenden Provokationen dauerhaft
fortsetzen. Sie wirken sich wie eine Sich-selbst-erfüllende Prophezeiung aus,
und die Mutter kann wiederum Triumphe über die „verderbte“ Tochter feiern.
Häufig sehen die Triumphe der Eltern so aus „…Ich habe ja schon immer gewußt,
was du für eine … bist!“ Ob die Romanheldin mit diesen Deutungen des Geschehens
einverstanden ist?
Ein anderer Strang der Geschichte ist für ein traumatisiertes Kind typisch,
nämlich der Traum der heilen Familie. Helens Eltern waren geschieden. Für diesen
Traum und die Eltern wieder zusammen zu führen, ist sie bereit, ihren
Krankenhausaufenthalt zu ihren Lasten zu verlängern und führt dazu
selbstdestruktive Manipulationen durch. Die Selbstaufopferung zum vermeintlichen
Wohle der Familie kann bei vielen traumatisierten Kindern etwa in der
Symptomatik der Pubertätsmagersucht oder des Asthmas wieder erkannt werden.
Unsere christliche Kultur feiert in der Selbstaufopferung von Jesus Christus die
Göttlichkeit. Da Helen aber die Zusammenführung der Eltern bisher nicht gelingt,
greift sie zu einem letzten verzweifelten Mittel. Sie reißt sich buchstäblich
den Arsch auf und muß notoperiert werden, um nicht zu verbluten. Daß sich
Patienten buchstäblich und nicht nur symbolisch für andere den Arsch aufreißen,
hören wir nicht zum ersten Mal.
Andererseits bringt diese Verzweiflungstat sie zur Besinnung. Sie gibt auf,
Leute, die nicht zusammengehören wollen, zusammenbringen zu wollen, zieht
demonstrativ einen Schlußstrich, indem sie die Gasselbstmordszene mit Mutter und
Bruder nachstellt und sich dabei ihre eigenen Haare ausreißt. Der Schlussstrich,
ihr Abschied vom egozentrischen kindlichen Kind, fällt ihr umso leichter, da
sich gerade durch ihre Bedürftigkeit zarte Bande zu ihrem Pfleger entwickelt
hatten. Da sie nicht mehr zu ihrer Mutter zurück will - wie klug! - zieht sie zu
ihm. Der überraschende, ‚glückliche’ Ausgang rührt die Herzen. Im deutschen
Märchen heißt es „und wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“.
Leider fängt in der Lebensrealität die Geschichte dann, wenn sie sich gekriegt
haben, normalerweise erst an, wohlweislich im Märchen verschwiegen, da sich
Traumatisierungen im weiteren Leben fortsetzen. So endet ein schamloses,
skandalöses, und provokatives Buch mit einem märchenhaften, liebenswerten,
rührenden Schluß.
Charlotte Roche, Feuchtgebiete, DuMont 2008
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 28.03. 2008
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 28.03. 2008