Vielseitig,
immer aber harte Kost und vor allem: gegen die Amerikanisierung der Frau!
Serie: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche bei DuMont (Teil
1/3)
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Wäre man die Erzählerin, die 18jährige Helen
Memel, würde man gleich versuchen, das reliefartige Pflaster, das auf dem
Buchtitel klebt, abzupulen, um drunter zu schauen, welches Blut- und
Eitergemisch sich darunter verbirgt. Das könnte man, wäre man Helen, zum einen
gut verspeisen, schmeckt nämlich Helen lecker und ekelt die anderen, was zum
Genuß von Helen beiträgt. Gleichzeitig wäre dies darunterliegende, durch das
Pflaster der gesamten Welt gegenüber als unsichtbar erklärte Blut- und
Eitergeschwür das Symbol für unsere Welt, die nach außen gut geschminkt, sauber
rasiert, mit allen chemischen Düften versehen so tut, als ob der Mensch kein
animalisches Wesen mehr sei, sondern eine synthetische Erfindung der modernen
Industriegesellschaft, wo es nur noch eines kleinen Schrittes bedarf, diese
Synthetisierung dann gleich virtuell werden zu lassen. Die Entmenschlichung des
Menschen sozusagen, aber diesmal nicht durch Entseelung und schlimme Verbrechen,
sondern gleich durch Entkörperlichung. Dagegen setzt die Autorin Charlotte Roche
die Ekelgeschichte ihrer „Feuchtgebiete“.
Wir, die Redaktion von Weltexpress, halten dies Buch der unkonventionellen
Fernsehmoderatorin und Neunundzwanzigjährigen für so wichtig einerseits, für so
vielschichtig – ja, eklig gehört auch dazu- andererseits, daß wir diese vielen
Schichten gleich mehrmals besprechen lassen. Einmal spricht eine der mittleren
Generation den Widerstand an, den sie bei Buch und Autorin eigentlich ausmacht,
einmal diagnostiziert ein männlicher Psychotherapeut im Doppelpack –beide schon
älter - die Erzählerin als klinischen Fall, einmal sagt eine Jüngere ihre
Meinung zum Ganzen. Die Rezensionen gehören zusammen, weil sie jeweils einen
eigenen Schwerpunkt haben. Dieser Besprechung geht um das, was die Autorin in
Interviews ihren Kampf gegen die „Amerikanisierung“ der Frau nennt.
„Gepflegte Frauen habe Haare, Nägel. Lippen, Füße, Gesicht, Haut und Hände
gemacht. Gefärbt, verlängert, bemalt, gepeelt, gezupft, rasiert und gecremt. Sie
sitzen steif wie ihr eignes Gesamtkunstwerk rum, weil sie wissen, wie viel
Arbeit darin steckt, und wollen, daß es so lange wie möglich hält. solche Frauen
traut sich doch keiner durchzuwuscheln und zu ficken. Alles, was als sexy gilt,
durcheinandere Haare, Träger, die von der Schulter runterrutschen, Schweißglanz
im Gesicht, wirkt derangiert, aber anfaßbar.“ (106), wäre so ein Zitat aus dem
Buch, das die eigentliche Zielrichtung der Autorin, die sie in Interviews
äußert, angibt und wo die Erzählerin Helen und die Autorin Charlotte tatsächlich
einmal in Eins fallen. Das nämlich ist die große Gefahr beim naiven Lesen, daß
man die Icherzählerin tatsächlich für die Autorin selbst hält.
Dies aus zwei Gründen. Zum einen ist der als innerer Monolog geschriebene
Gedanken-, Gefühls- und Handlungsfluß – in Teil 2/3 genau nachvollzogen – in
einer Umgangssprache und teilweisem Jugendjargon geschrieben, der den Text von
allein weiterlesen läßt, zum anderen kann man sich oft gar nicht vorstellen,
woher die Autorin ihr Wissen und ihre Erfahrungen, gespickt mit Phantasie,
hernimmt, um Derartiges überhaupt niederschreiben zu können. Sicher ist es eine
Melange aus allem, die wir hier auch nicht aufdröseln wollen, nur zart andeuten,
daß die Erfahrungsdichte der 18jährigen, was das männliche Glied, Beischlaf,
Krankheiten und das Leben angeht uns gewaltig erscheint und auch traurig macht,
sind wir doch erwachsen und haben positive Liebeserfahrungen, was lustvolle
Liebe angeht, weil Lust und Liebe für uns zusammengehören. Aber darum geht es
nicht. Es geht darum, daß hier jemand provokant mit den Mitteln der Übertreibung
etwas aussagen möchte, was wir herausschälen wollen.
Das ist zum einen die Sprachlosigkeit, die Männer und Frauen angesichts der
weiblichen Sexualorgane befällt. Ja, wie nennen wir sie nun, die kleinen
Teilchen, die jedes für sich einen eigenen Namen verdient? Auch die renitente
Erzählerin beläßt es bei „Muschi“, ein Begriff, der für die Rezensentin, auch
wenn sie wohl eine hat, so grauslich ist, daß er ihr gleich einen Scheidenkrampf
verursachen könnte, weil sie eben sprachempfindlich ist. Über Scheidenkrampf
spricht die Erzählerin nie, obwohl man diesen bei der Wiedergabe ihrer
Sexualpraktiken – seien es männliche Organe oder Duschköpfe oder Avocadokerne,
die wir übrigens auch züchten - schnell bekommen kann. Dazu gleich. Vorher aber
mehr als ein Lobeswörtchen für die Autorin. Sie gönnt nämlich ihrer Erzählfigur
eine weibliche Individualisierung durch Sprache: „ Mein Muschijucken kann nur
durch starkes Auskratzen gestillt werden. Ich kratze zwischen den inneren
Schamlippen, von mir Hahnenkämme genannt, und den äußeren Schamlippen, von mit
Vanillekipferl genannt, …“ Das setzt sich auch in anderen Textstellen fort. Sie
erfindet sogar immer wieder Wörter, die man sofort versteht. Allerdings konnte
ich lange mit ‚Poritze’ nichts anfangen, weil ich beim Lesen das ‚i’ betonte,
bis ich merkte, daß dies weder ein Fremdwort noch eine Erfindung ist.
So ist das Lesen dieses Buches immer auch eine Erfahrung mit sich selbst.
Wieviel halte ich aus, wie oft will ich das Buch voller Widerwärtigkeiten in die
Ecke schmeißen, wie oft mich übergeben? Aber hier wir wollten das Wesentliche
über den Inhalt hinaus angeben. „Da bei mir der Arsch offensichtlich zum Sex
dazugehört, ist er auch diesem modernen Rasurzwang unterworfen wie meine Muschi,
meine Beine, meine Achselhöhlen, der Oberlippenbereich, beide große Zehen und
die Fußrücken auch.“ (9) Die Erzählerin beschreibt hier eine Tatsache, die in
Amerika schon lange zum guten Ton gehört und in gleichem Maße für die Männer
gilt.
Von Amerika ausgehend existiert eine Hygienehysterie, geht ein „Hygienefeldzug“
über die Welt, von dem die Kosmetikabteilungen der Fünf-Sterne-Hotels in aller
Welt profitieren, indem die Epilation als das Heil und die neue Form des
gesunden Volksempfindens propagiert wird. Widerlich. Nur leider sind wir
gewohnt, bei Eiter und Dreck und Aufessen von Popel und anderen
Körperexkrementen von ’Widerlichkeit’ zu reden, und zu wenig uns gegen das
Widerliche bei der angeblichen Hygiene zu wenden. Was soll schön sein an einem
Menschen ohne Körperhaare? Und an einem, der nach Chemie riecht? Welchem Diktat
unterwirft sich da die westliche Welt? Und da der Westen ideologisch die Welt
beherrscht, bald die ganze Welt?
Das ist wirklich so und ich muß mich nur an den Schock erinnern, den unsere sehr
liebe amerikanische Cousine erlitt, als sie uns mit echten Achselhaaren
wahrnahm. Tags darauf hing – wortlos - eine teure, formschöne, supermoderne
‚Venus’ von Gillette an der Innenwand der Besucherdusche. Die hängt nun da,
unbenutzt. Wir finden nämlich unsere Haare schön und zart und angenehm. Und wir
denken nicht daran, die amerikanische Körperhysterie, die wir für körper- und
lustfeindlich halten, mitzumachen. Man muß sich diese Entwicklung nur
weiterdenken. Dann muß irgendwann auch der Beischlaf daran glauben. Igittigitt!
Da gibt es doch Sperma, das tropft und gleich muß ich an die Ehefrau eines alten
Freundes denken, die ihm jedes Mal ‚zuvor’ ein Taschentuch in die Hand drückte,
damit ‚danach’ nichts aufs Laken geriet. Wenn man mit dem Sauberkeitswahn – und
es ist ein Wahn, es gibt nicht umsonst Waschzwänge – erst einmal anfängt, wo
soll das enden? Hygiene ja, aber Wahn nein.
Frauenärzte wissen, welch Unheil Intimsprays auslösen können, schon körperlich,
indem die eigene Flora zerstört werden kann, die nötig ist, um die weiblichen
Organe zu schützen. Denn schließlich ist der Mensch mit seinen
Körperflüssigkeiten nicht umsonst ausgestattet, die haben alle eine wichtige
Funktion. Allein, dieses gesellschaftlich Verdikt, das gerade über uns schwebt,
nicht mehr nach uns selbst riechen zu dürfen und keine Haare auf dem Körper
tragen zu dürfen, in Frage zu stellen und endlich eine öffentliche Diskussion in
Gang zu setzen, welche Synthetisierung des Menschen hier betrieben wird, lohnt
es, dieses Buch zu lesen, auch wenn das mit Übertreibungen in die andere
Richtung arbeitet. Wir können und wollen nicht entscheiden, ob es mit weniger
Ekel auch gegangen wäre.
Die Hauptfigur Helen ist einerseits unerwartet weise und das Gegenteil von
wehleidig, andererseits ein armes Schwein. Ein Kind mit kindlichen Bedürfnissen
nach heiler Welt, das erst lernen muß, daß man die Welt nicht im eigenen Kopf
zusammenbasteln kann und anderen Menschen ihre eigenen Vorstellungen vom Leben
und Zusammenleben lassen muß, die man zu respektieren lernen muß, was dem
egozentrischem Weltbild eines Kindes nicht gelingt. Von daher finden wir den
Schluß nicht ‚rührend’, sondern gemäß einem ‚Lore’-Roman. Aber das erwünschte
Zusammenleben der Eltern wäre noch kitschiger gewesen, weshalb wir diesen Schluß
als die Beendigung des ‚Nur Kindseins’ ansehen und den Sprung in die
Erwachsenenwelt, weshalb wir Helen auf ihrem Wege, sich endlich um ihr eigenes
Leben zu kümmern, alles Gute wünschen.
Anmerkung:
Uns kam beim Lesen immer wieder ein Buch in den Sinn, das uns einst sehr
beeindruckte, eigentlich ein anderes Thema hat und doch ähnlich radikal einen
Standpunkt zum Thema Frau vertritt. Das ist Christina von Braun, die in „Nicht
Ich“ über die Synthetisierung der Frau spricht, die eingetreten ist – wir
referieren aus der Erinnerung – als den Frauen Ende des 19. Jahrhunderts ihre
Hysterien ausgetrieben wurden. Sie beschreibt diese Hysterie als das letzte
Aufbäumen von realen Frauen in einer sich nur noch männlich verstehende Welt,
deren ‚Behandlung’ und ‚Ausrottung’ von den Psychoanalytikern und sonstigen
Therapeuten eben zur Synthetisierung der Frau geführt habe, wir Frauen also
heute alle nur noch synthetische Frauen sind. Sich auszudenken, was diese
ehrwürdigen männlichen Psychoanalytiker, zuerst einmal Sigmund Freud, zu
Charlotte Roches „Feuchtgebieten“ gesagt hätten, bzw. wie sprachlos sie gewesen
wären, das hat was!
Christina von Braun, Nicht Ich, Verlag Neue Kritik 1985
Charlotte Roche, Feuchtgebiete, DuMont 2008
Autor: Anna von Stillmark
E-Mail: anna-von-stillmark@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 28.03. 2008
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 28.03. 2008