Was Helen Memel mir erzählt
 

Serie: „Feuchtgebiete“ von Charlotte Roche bei DuMont (Teil 3/3)


Frankfurt am Main (Weltexpress) - Ich bin 26 Jahre alt, Italienerin und habe das Buch “Feuchtgebiete” von Charlotte Roche mit Neugier angefangen und sehr schnell durchgelesen. Der Monolog von Helen Memel, der Hauptfigur und Ich-Erzählerin, erweckt durch die in einer frechen Sprache erzählte Szenerie von (Selbst)Erotismus und körperlichen Selbstuntersuchungen eine Mischung von Gefühlen, die sicher nicht langweiligen können: Vom Ekel zum Mitleid, vom erschreckenden Erstaunen zur mitfühlenden Traurigkeit. Im Buch verflechten sich verschiedene Themen, worüber man sehr lange diskutieren könnte und worüber ich mit anderen Menschen viele Tage lang gesprochen habe. Deshalb denke ich, ein Buch, über das man so viel sprechen muß, Gutes und Schlechtes, das ist ein wichtiges Buch, auch wenn ich sicher bin, dass meine Eltern viel Kritik daran hätten und das Buch nicht fertig gelesen hätten.

Helen ist ein trauriges Scheidungskind, das bereit ist, sich zu opfern, damit die Eltern wieder zusammen kommen, egal ob sie sich lieben; alle sollen wieder eine Familie sein mit den Eltern, Helen und dem kleineren Bruder. Aber Helen ist auch ein rebellierendes Mädchen, sie protestiert gegen die übertriebene Hygiene und die kalte Schamhaftigkeit ihrer Mutter. Helen kümmert sich nicht um Tabus und um das “Man tut es nicht”. Ihr Verhalten und ihre Sprache machen den Moralismus lächerlich, der dazu geführt hat, die sogenannten 'unmädchenhaften’ Aspekte des weiblichen Körpers zu negieren und deshalb stumm zu werden, und Helen macht dazu das Bild einer überperfektionierten Frau genauso lächerlich, wie beispielsweise die Krankenschwester, die wie eine Barbiepuppe geschminkt ist.

Die eigene Körperuntersuchung wird aber bei Helen eine Besessenheit und eine Art von Autoaggression. Es geht bei Helen nicht nur um eine tiefere Selbsterkenntnis, sondern um ein körperliches Sühnen von seelischen Qualen. Sie entreiβt (buchstäblich) ihrem Inneren Teile nach außen, verletzt diese, um ihre Alpträume und schlechte Erinnerungen auftauchen zu lassen und um die ‚Erbkrankheiten’ ihrer Familie (ihre Mutter leidet wie die Vorfahrinnen unter Depression) auszulöschen. Sie will Schluß machen mit der weiblichen Opferrolle. So erkläre ich mir auch die für mich furchtbare Entscheidung, sich als 18jährige sterilisieren zu lassen, die hier als selbstverständlich hingestellt wird.

Am Ende ihres Aufenthaltes im Krankenhaus ist Helen vielleicht ihrer selbst sicherer geworden. Am Ende des Buches fühle ich keinen Ekel mehr, sondern viel Mitleid und ich stelle mir Frage über meine eigene Tabus, meine Beziehung zu meinem Körper und mein Bild der Weiblichkeit. Ich fühle mich glücklich: Ich erinnere mich daran, dass ich als Kind meine Mutter beobachtete, als sie sich schminkte und parfümierte. Das ist mein Bild der Weiblichkeit: eine Frau, die sich selbst im Spiegel beobachtet, ihre kleine Fehler entdeckt und schätzt und sich pflegt. Dann kam mein Vater und er küsste sie.

Ich wünsche mir, dass das Buch auf Italienisch erscheint, was sicher viele Proteste mit sich bringt, aber mir nötig erscheint, damit man über das Eklige im Roman der Helen hinaus erkennt, dass es in Wahrheit darum geht, wie Frauen sein dürfen. Wie man sie haben will oder wie sie sind, wenn sie sein dürfen, wie sie sind.

Charlotte Roche, Feuchtgebiete, DuMont 2008

Autor: Paola Salvato
E-Mail: paola.salv@gmail.com
Abfassungsdatum: 30.03. 2008
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 30.03. 2008