Fibromyalgie - die rätselhafte, unerkannte, weit verbreitete Krankheit

 Ärztliche Empfehlung: Körper und Seele behandeln

Die 43jährige Bankangestellte A.A. schildert, sie habe seit acht Jahren Rücken-, Kopfschmerzen und Panikattacken. Sie sei das leid, immer die Tabletten und Spritzen. Wegen des Schwindels traue sie sich kaum auf die Straße, sie fürchte, sie könne jederzeit tot umfallen. Auch könnten die Leute denken, sie sei besoffen. Sie sei schon in der Röhre gewesen, es sei nichts gefunden worden. Sie erhalte die Erwerbsunfähigkeitsrente. Bei allen Schmerzen steigere sie sich hinein, oje!, fürchte immer das Schlimmste. Wenn die achtjährige Tochter von der Schule nach Hause komme, gerate sie in Spannung. Die Kinder stechen sich gegenseitig in der Schule mit spitzen Bleistiften. Das könne ins Auge gehen. Die junge Lehrerin werde mit den Kindern nicht fertig. Früher habe sie Angst gehabt, der Tochter zu essen zu geben, sie könne ersticken. Wenn diese hustet, gerate sie gleich in Spannung, sie könne sich verschlucken, dann ersticken. Bei der Arbeit habe sie noch mehr Stress gehabt. Sie schaffe das nicht mehr, gesundheitlich und mit dem Rücken. Zwei Stunden mit dem Zug nach Frankfurt zu fahren, dabei könne ihr was passieren und keiner helfe.

 Vor acht Jahren sei ihre Mutter gestorben. Sie habe sie ein Jahr täglich im Krankenhaus besucht. Die Geschwister hätten schon zum Teil große Kinder. Als sie der Mutter gesagt habe, sie sei schwanger, sei diese acht Tage später gestorben, als ob sie gewartet hätte, „jetzt habe sie alle unter Dach und Fach“. Sie habe ein schlechtes Gewissen „wenn ich nicht das Kind bekommen hätte, wäre die Mutter noch am Leben“. Ich bemerke dazu, sie habe der Mutter Gutes getan, diese habe beruhigt sterben können. Nach dem Tod der Mutter hätten die Geschwister gesagt, früher habe die Mutter ihnen gesagt, sie sollten aufpassen, dass sie sich nichts antue. Nie sei ihr gesagt worden, dass sie das Sorgenkind sei. Sie habe sich nie was anmerken lassen. Ihre ewigen Sorgen fräßen sie auf. Sie traue sich nicht mit jemanden über ihre Probleme zu reden, sie fürchte, sie mache sich lächerlich. In der Klinik waren alle krank, keiner hat sich verstellt. Ihre vier Geschwister hätten alle gesundheitliche Probleme.

 Bei der Fibromyalgie prägen ständige Schmerzen den Alltag. Viele Kranke berichten von endlosen Odysseen von Arzt zu Arzt. Und immer wieder haben sie das Gefühl, als Simulant abgestempelt zu werden. Chronische Schmerzen im Bereich von Muskeln und Gelenken nennt man heute Fibromyalgie (Bindegewebs-Muskel- Schmerzen), früher u. a. Weichteilrheumatismus. Die Faser-Muskel-Erkrankung, die Frauen acht Mal häufiger als Männer befällt, wird leider immer noch zu selten diagnostiziert. Manche Ärzte betrachten die Fibromyalgie als Verlegenheitsdiagnose und Sammelbecken für verschiedenste Krankheiten oder streiten die Existenz dieser Krankheit schlicht ab. Das Fehlen naturwissenschaftlich leicht fassbarer Merkmale, zum Beispiel Labor- oder Röntgenbefunde, weckt ihre Zweifel.

 Im Vordergrund stehen Schmerzen, die meistens an einer oder wenigen Stellen beginnen und sich über den gesamten Bewegungsapparat ausbreiten können. Die Wirbelsäule ist häufig zuerst betroffen. Von dort aus können die Schmerzen in den Hinterkopf, die Schultern, Ellbogen und Hände, die Hüftregion, in Knie und Knöchel ziehen. Verstärkt werden kann das Beschwerdebild noch durch Morgensteifigkeit, Müdigkeit, häufiges Frieren, vorschnelle Erschöpfung, Schlafstörungen, Stimmungslabilität,  Merk- und Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Kopfschmerzen, Magen-Darm-Störungen, Panik und depressive Verstimmungen. Das größte Problem für die mehr als eine Million Betroffenen in Deutschland ist der Verlust eines spontanen und aktiven Lebensstils. Ein Teufelskreis beginnt: Das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Isolation wirkt sich ungünstig auf die Erkrankung aus, die Schmerzen nehmen zu. Die Betroffenen verlieren sich im chronischen Schmerz, unternehmen weniger, verzichten auf soziale Kontakte.

 „Diese Einstellung müssen Sie unbedingt überwinden; denn sie führt auf lange Sicht dazu, dass Sie mit Ihrem Leben nicht mehr zurechtkommen", gibt der Autor Wolfgang Brückle in seinem Ratgeber "Fibromyalgie – endlich richtig erkennen und behandeln“ zu bedenken. Erst wenn die Patienten akzeptierten, dass sie die Veranlagung haben, auf bestimmte Belastungssituationen mit den Symptomen der Fibromyalgie zu reagieren – so wie andere Menschen mit Migräne oder Ekzemen – dann gelänge es den Betroffenen langfristig, krankmachende Faktoren ab- und gesundheitsfördernde aufzubauen.

 Laut „Ärztlicher Praxis“ Nr. 19 vom 8.5.07 helfe bei Patienten mit Fibromyalgie bei der Krankheitsbewältigung, diese einfühlsam über ihre Erkrankung aufzuklären. Das wirke einer Verunsicherung der ängstlichen Betroffenen entgegen. Die Empfehlung lautet: „Sprechen Sie über mögliche günstige Verläufe und erläutern Sie, dass es weder zu Gelenkdeformitäten noch zu Gelenkschäden kommt.“ Dies sei umso wichtiger, da Betroffene oft dazu neigen, ihre gesundheitlichen Probleme zu Katastrophen zu stilisieren.

 Neben den üblichen physikalischen Anwendungen und aktiven Therapieformen  wird medikamentös das Antidepressivum Amitryptilin und ein moderner selektiver Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Duloxetin empfohlen und zwar auch dann, wenn keine Depression vorliege, während die üblichen Rheuma-Schmerzmittel nicht helfen würden. Bei starken Schmerzen wird Tramadol oder ein Antikonvulsivum (ein Mittel gegen Anfälle) Gagapentin empfohlen. Psychotherapeutische Maßnahmen werden von den Patienten vielfach abgelehnt, da sie befürchten, als „verrückt“ stigmatisiert zu werden. Trotzdem solle man beharrlich sein und den Patienten vom Sinn solcher Maßnahmen überzeugen. Neben dem Körper die Seele zu behandeln, erziele deutlich größere Effekte. Bewährt hätten sich die kognitiv verhaltenstherapeutischen Verfahren. Ziel sei, die Fähigkeit zur Schmerz- und Krankheitsbewältigung zu fördern und die häufigen Schlafstörungen zu bessern. Therapien können daher nur an einzelnen Symptomen ansetzen. Leider seien wir noch weit davon entfernt, die Krankheit heilen oder eine völlige Schmerzfreiheit erreichen zu können. Nur mit einer Vielzahl kleiner Schritte gehe es in Richtung Krankheitsverbesserung.

 Schmerz ist in der Zwischenzeit messbar. Schon vor Jahren hatten Untersuchungen Hinweise auf unterschiedliche Aktivitäten in Schmerzzentren des Gehirns zwischen Fibromyalgie-Patientinnen und gesunden Frauen ergeben. So sehr man jedoch gegen den Vorwurf angehen kann, die Betroffenen bildeten sich ihre Schmerzen ein, so wenig weiß man nach wie vor über die Ursachen der Erkrankung. Die Ursachen bleiben also unklar, wahrscheinlich ist eine Kombination aus körperlichen Schwachpunkten und vor allem seelischen bzw. psychosozialen Beeinträchtigungen (gemütsmäßige Vernachlässigung, wenn nicht gar Misshandlung im Kindes- und Jugendalter). Folgende ungünstige Faktoren können die belastenden Schmerzen am ganzen Körper hervorrufen: organische Krankheiten, schwere körperliche Über- oder Fehlbelastungen, familiäre Sorgen, Trennungs- und Ablösungskrisen, aber auch berufliche oder finanzielle Probleme.

 Die Folgen im späteren Leben sind ein komplexes, schwer durchschaubares und noch schwieriger behandelbares Leidensbild, das die Ärzte und Psychologen immer wieder vor Rätsel stellt. Das führt nicht selten zu einer so genannten Therapie-Resistenz, d. h. es helfen weder Psycho-, noch Soziotherapien und letztlich auch keine Medikamente, insbesondere keine Schmerzmittel. Dafür fällt ein häufiger Arztwechsel auf, der dann auch entsprechende Kosten nach sich zieht – ohne befriedigendes Ergebnis für alle Beteiligten.

 Das Bisherige habe ich der ärztlichen Praxis und der Literatur entnommen, z. B. in Wikipedia, (www. wikipedia.de, Stichwort Fibromyalgie eingeben). In meinen Artikeln über Schmerz und Empathie („Über die göttliche Gabe des Menschen …“ und  „Über die teuflische Gabe…“) hatte ich vor allem an dieses Krankheitsbild gedacht. In den obigen Ausführungen wurden die zwischenmenschlichen empathischen Aspekte kaum erwähnt. Diese sind im medizinischen Erklärungsmuster auch herzlich wenig enthalten, weshalb die beiden Schmerz/Empathie-Artikel einen Kontrapunkt setzen sollten.

 Fibromyalgie-Kranke finden selten den Weg in die psychotherapeutische Praxis, eher schon aus den oben erwähnten Gründen, um sich bestätigen zu lassen, dass sie nicht psychisch oder psychosomatisch krank seien. Schließlich haben sie ja Schmerzen und keinen Dachschaden. Sie lassen sich eher mit physikalischen Maßnahmen behandeln. Falls die auslösenden Ursachen nachlassen, greifen diese Behandlungen auch. Erwähnt man derartige Diagnosen den Betroffenen, fühlen diese sich völlig unverstanden und diskriminiert.

 Bei einer Fibromyalgiekranken, vom Orthopäden überwiesen, erinnere ich mich, dass sie von ihren erwachsenen Kindern, sobald sie über ihre Schmerzen klagte, zu hören bekam, so wie sie diese erzogen hatte, „reiß’ Dich zusammen!“ Ehe und Familie hatte sie gegen den Widerstand ihrer weit entfernten Eltern aufgebaut. Nach meinem Eindruck hätte sie sich gerne von ihrem Mann getrennt, stand aber noch im Kampf mit ihrer Mutter, dieser zu beweisen, dass er für sie der richtige Mann sei, und konnte sich deswegen nicht trennen. Sie versuchte mit Sport gegen ihre Schmerzen anzukämpfen. Einige Zeit später sprach mich ein Nervenarzt an, selbige Frau habe erwähnt, dass sie auch bei mir gewesen sei. Ihm war das Mitleid für sie deutlich anzusehen, sie litt unter einem Ganzkörperschmerz, so daß jegliche Berührung schmerzhaft war. Ich fühlte mich auch sehr betroffen. Das empathische Leid hatte sich übertragen und war von einem zum anderen gewandert.

 Nach meinen Erfahrungen reagieren die Kranken auf die entwertende, beschämende, verurteilende und aggressionsunterdrückende (Un)Kultur ihrer Kindheit, in der ihnen sozusagen im Sinne einer Gehirnwäsche ins Gewissen geredet, ständig ihre Fehler und Schwächen vorgehalten wurden, mit einem  Leistungs- und Perfektionsanspruch, alles richtig, keinen Fehler zu machen, keine Schwäche zu zeigen und alle zufrieden zu stellen. Diese Reaktion, auch meist nach elterlichem Vorbild, dient dem Schutz, sich unangreifbar zu machen. Da jedoch kein Mensch perfekt sein kann und die Mitmenschen ihre Kritik und ihre Vorwürfen nach den unterschiedlichsten, für sie oft nicht nachvollziehbaren Maßstäben anbringen, werden sie, wie im Mythos die Unverletztlichkeit Jungsiegfrieds oder Achills durch Verrat und eine einzige Schwäche, durch die kleinste Kritik zutiefst getroffen. In ihren Augen haben sie doch alles getan! Um jegliche Kritik an ihnen zu vermeiden, arbeiten, schaffen und tun sie, bis der Körper schmerzt, ihnen alles weh tut, manchmal Wirbelsäule und Gelenke kaputt sind. Dann haben sie ihre organische Krankheit, und die Diagnose kann trotz der Schmerzen für sie wie eine Erlösung wirken. Jetzt wissen sie, wo sie dran sind, gelten nicht mehr als verrückt, Simulanten, Weichlinge oder eingebildete Kranke.

 Hinzu kommt, wenn der Partner in ihrem Streben nicht mitzieht, schwappt die Empörung über dessen Verhalten hoch. Aber ihre Aggressionen müssen sie unterdrücken, um die harmonische Beziehung nicht zu gefährden – ein zusätzlicher autoaggressiver Schmerz in der Pseudoharmonie. Dafür sind sie als Belohnung das Zentrum der Familie, ein Turm in der Brandung. In unserem Kulturkreis betrifft dieser Zusammenhang hauptsächlich Frauen im fortgeschrittenen Alter, wenn die Kraft und Energie infolge des Altersabbaues nachlässt, sie sich zu wenig darauf einstellen können, die Hoffnung auf einen besseren Lebensweg schwindet, Hilfs- und Hoffnungslosigkeit sich breit macht.

 Weiterhin kann hinzukommen, dass sie in ihrem Kampf, „abgeschafft“ wie sie sind, in ihrer Hilflosigkeit im Streben um Anerkennung, für den Partner in ihren Handlungen und im Ausdruck unattraktiv werden und sich somit zusätzliche Kritik einhandeln. Der Mann sucht eventuell sein Glück woanders bei einer anderen und jüngeren Frau, für sie eine zusätzliche Kränkung und Bestätigung, dass sie ihr Leben falsch angepackt haben, wie ihnen früher immer prophezeit wurde. Schließlich vereinen sich nicht alle Männer mit ihren Frauen im Kampf um das perfekte Leben, sondern haben die Schnauze voll. Häufiger ist allerdings der männliche Weg ins Rotlichtmilieu. Dadurch bleiben sie ihren Frauen treu.

 Infolge ihrer traumatisierten unglücklichen Kindheit und deren Prägungen, ihres weiteren unglücklichen Lebens sind sie für alles Unglück in der Welt aus eigener Erfahrung sehr empfänglich, machen sich überall Sorgen und versuchen alle zu retten. Alles Unglück und alle Krankheiten in der Familie saugen sie mit Magnetfingern in sich auf, leiden empathisch noch mehr als diese, bevormunden und mischen sich als Schutz vor den Bedrohungen ein. Der Teufelskreis ist, dass sie dadurch Widerstände, Verweigerung und Sabotage aufbauen, gegen die sie wiederum ankämpfen müssen. Die Honorierung für ihren Kampf und ihre Mühe bleibt aus, ein Anlaß zu weiteren Vorwürfen der Undankbarkeit und Verantwortungslosigkeit. Sie können zur Last für das Umfeld werden. Es kann eine Leidensspirale entstehen. Der biblische Mythos des irdischen Jammertals wird zur Realität. Das Leben wird bei aller Mühe um das Gute zur Katastrophe, so daß die oben beschriebene Katastrophisierung, zwar meist nicht im Sinne des organischen Befundes, aber in den zwischenmenschlichen Beziehungen und im Beschwerdebild berechtigt ist.

 Den anfangs beschriebenen Fall der Patientin A.A .versuche ich skizzenhaft auf seine Hintergründe und Zusammenhänge hin zu illustrieren. Er zeigt eine Mischsymptomatik von Schmerz und Angst, wie dies häufig ist. Die Katastrophisierung infolge frühkindlicher Katastrophen wird deutlich im linearen Verlauf, dass alles nur schlimmer werden kann. Da in sie als Sorgenkind empathisch die Katastrophe hinein gesehen wurde, hat sie, wie es häufig ist, ihre Beschwerden verheimlicht, um nicht noch mehr stigmatisiert zu werden und noch mehr Leiden zu übernehmen. Da organisch nichts gefunden wurde, kämpft sie um Anerkennung ihrer Krankheit und fühlt sich unter ihresgleichen in der Klinik wohl. Schmerz und gleichzeitig die fehlende Akzeptanz verstärken die Symptomatik.

 Bei allgemeiner Vulnerabilität (Verletzlichkeit) durch die Sorgen, Ängste und Stigmatisierung entgleist sie nach dem Tod der Mutter und der Geburt der Tochter. Die Geburt der Tochter ruft in ihr Schuldgefühle hervor, dadurch die Mutter getötet zu haben. Dieser Zusammenhang spiegelt janusgesichtig mehrere Faktoren wieder: Einmal ihre eigene Geburt in der Tochter, ihrer Mutter nur Sorgen bereitet zu haben und ihr eine Last gewesen zu sein, die ihr jetzt und zukünftig ihre Tochter ist. Sie nimmt nur die negativen Aspekte aufgrund der mangelnden Differenzierung nach der frühkindlichen Traumatisierung, nicht die positiven, mit ihrer Tochter die Mutter beruhigt zu haben, so daß diese sterben konnte, wahr. Infolge der Prägungen ihrer Kindheit ist sie mit sich selbst an die Tochter gebunden, sozusagen als Selbstobjekt. In dieser Sorgen- und Schutzdyade (Zweiergemeinschaft) spielt ihr Ehemann keinerlei Rolle, wird nicht mal -  ähnlich wie der Vater - erwähnt. Ihre Aggressionen auf die Mutter als unbewusste Tötungswünsche, durch diese erheblich in ihrem Leben beeinträchtigt worden zu sein, und auf ihre Tochter, nie frei von Ängsten um diese zu sein, wandelt sie in Fürsorge um, und ist dadurch komplett überlastet. Dies äußert sich in Rückenschmerzen, und die Sorgen bereiten ihr Kopfschmerzen. Hinter der Panik stecken ihre Aggressionen, vor diesen hat sie Angst, und dass diese ihr im Umfeld angesehen werden und sie sich mit ihrem Innenleben lächerlich macht, so daß sie kaum das Haus verlassen kann. Andererseits wirkt der Tod der Mutter wie eine Befreiung, dass sie sich nicht mehr verstellen muß und ihre Symptomatik ausleben kann. Die Rente ist die Honorierung, der sekundäre Krankheitswert, was sie ohne handfeste organische Befunde erstaunlicherweise so früh durchgesetzt hat.

 Auch zeigt der Fall, dass in einer traumatisierten Familie alle betroffen sind und mit Krankheiten reagieren können. In der Medizin spricht man häufig von Vererbung, dass bestimmte oder überhaupt Krankheiten gehäuft auftreten, und meint damit eine anlagemäßige in den Genen verankerte Vererbung. Aus dem Text geht hervor, dass man auch infolge der traditionellen Prägungen des Umfeldes von einer psychosozialen Vererbung sprechen könnte.

 Weiterhin zeigt dies Fallbeispiell, dass sie durch die Mühlen der verschiedensten fachärztlichen Untersuchungen und Behandlungen gegangen ist, der Hausarzt, der Internist und HNO-Arzt wegen des Schwindels, der Neurologe für die Kopfschmerzen, der Orthopäde für den Rücken, der Radiologe für das Röntgen und den Kernspin, der Psychiater, weil keiner mehr weiter weiß. Das macht das Gesundheitswesen so teuer. Algesiologen, inzwischen eine anerkannte Fachrichtung für den Schmerz als eigene Krankheit, und die Psychotherapeuten, zuständig für seelische Befindlichkeiten wie die Panik, beklagen deswegen, dass in unserem Gesundheitswesen dort untersucht und behandelt wird, wo die jeweilige Symptomatik auftritt, nicht aber da, wo sie herrührt, sich also völlig verzettelt wird, und nicht auf den Menschen und sein Leiden als Gesamtperson in seiner körperlichen, seelisch-geistigen und sozialen Situation eingegangen wird. Beim Kranken wiederholt sich, wie es ihm im prägenden Werdegang ergangen ist. Er als Mensch spielt keine Rolle, nur auf Teile von ihm wird eingegangen wie früher auf  Teile seines unangemessenen Verhaltens. Einerseits geht es um Besitzstandwahrung und somit Interessenspolitik. Was bliebe bei den vielen Schmerzkranken für die übrigen Fachrichtungen noch übrig? Jedenfalls erhebliche Einbußen des Gewinns. Der Kranke will den Schmerz los werden, die verschiedenen medizinischen Fachgebiete ihn behalten. Andererseits entsteht bei rein körperlicher Teilbetrachtung Hilflosigkeit, gepaart mit Aktionismus, wobei sich diese wechselhaft von Patient auf Arzt und von Arzt auf Patient überträgt.

 Glücklicherweise ändern sich Umstände, geschehen  oft mehr zufällig, positive und erfolgsversprechende Ereignisse wie Enkelkinder, ein Hort der Freude und neue Lebensmotivation. Es wird, meist mehr unbewusst, hinzu gelernt, und es werden innermenschliche und zwischenmenschliche empathische Grenzen geschaffen. Viele nehmen ihr Leben doch nicht mehr so genau und perfekt, können loslassen, fünf gerade sein lassen, so daß Krankheitsverläufe sich im Sande verlaufen und nicht alle einen schwer behandelbaren Ganzkörperschmerz entwickeln. Im noch weiter fortgeschrittenem Alter kann es passieren, dass sie von all dem Leid und Kampf nichts mehr wissen wollen und in einen dementen Zustand abgleiten, nicht als bewusste Flucht, sondern es geschieht einfach, wo sie so versorgt werden, wie sie immer alle versorgt haben.

 Typisch halte ich derartige kurz skizzierte Hintergründe und Zusammenhänge für die Fibromyalgie. Man könnte das Krankheitsbild auch als Körpersprache oder körperliches Äquivalent der Depression und diese wiederum als psychosoziales Wechselgeschehen auffassen, in die es auch münden kann. Wie soll man auch hoffnungsfroh und lebenserfüllt an ein Leben herangehen, dass so sehr von Schmerzen und Misserfolgen gekennzeichnet ist? Es können aber auch andere Krankheitsverläufe auftreten. Warum diese oder jene, ist nicht wissenschaftlich erklärt, da die unterschiedlichen Gegebenheiten und traumatisierenden Bedingungen in der Kindheit nur schwer erfassbar und oft von gegenseitigen Vorwürfen begleitet sind, so daß nur Schwierigkeiten und Konflikte entstehen. Kein Wunder, dass Arzt und Patient ihr Heil in klar faßbaren, unanfechtbaren körperlichen Diagnosen und Behandlungen suchen.

 Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 15.07. 2007
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 15.07. 2007