09. April 14 , 09:05
Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
Sie selbst hatte, als sie feststellte, dass er keinen Zugang zu Frauen hatte,
ihn ständig aufgefordert, mit dem Mädchen etwas anzufangen. Das brachte ihn noch
mehr in die Bredouille. Seine grundlegende Erfahrung und somit sein Weltbild war
nämlich, dass er als Mann den Frauen Schmerz und Leid zufüge. Dazu stand im
krassen Missverhältnis, das er jetzt auf Frauen zugehen solle, und er war
vermehrt völlig überfordert.
Fangen wir zuerst mit dem Vater an. Er war ein zwanghafter Mann, der trotz
Beschwerden vor der Klasse stand und die Zähne zusammen biss. Er führte ständig
Sätze im Mund wie "man darf sich nicht gehen lassen, reiß’ dich zusammen, dass
ist unvernünftig“ bis zu dem Satz „er dürfe kein Traumtänzer sein und im
Wolkenkuckucksheim leben". So durfte sein Sohn nicht sein - ein Schreckgespenst.
Der Vater hatte als 25-jährige Lehrer mit der 17-jährigen Schülerin in einem
Durchbruch von Protest und Selbstverwirklichung ein Kind gezeugt, und der Sohn
war sozusagen die lebende Schande, zu dessen Wiedergutmachung er sich
verpflichtet sah und verpflichtet wurde. So wurde sein Leben zur Pflicht, die er
dem Sohn auch zur Pflicht machte, ihm keine Schande zu bereiten. Auch seine
Aufgabe im Natur- und Vogelschutz als Vorsitzender des Vereins war für ihn eine
Pflicht. Böse Zungen würden darin sehen und deuten, er hatte es mit den/dem
Vögeln.
Die Mutter hätte sich, hätte er anders gehandelt, von ihm im Stich gelassen
gefühlt. Sie wäre jedoch, ebenso wie er selbst, in ihrem tradierten Weltbild ge-
und verfangen gewesen, in dem sie einerseits von der Richtigkeit ihrer
Verhaltensweisen überzeugt gewesen war, andererseits unter ewigen Schuldgefühlen
gelitten hatte.
Anlässlich einer Krankschreibung ging er im Park spazieren, schaute
Boulespielern zu und dabei tauchten bei ihm längst verschüttete angenehme
Kindheitserinnerungen auf, angenehme Frühlingsgefühle, die ihm Hoffnung machten
und ihn bestärkten, während er sonst unter einem Druck gestanden hatte, der zu
den Verkrampfungen geführt hatte. Er kam selbst auf die Idee, ob er nicht die
Mutter mit seinem Leben, so wie er es führte, im Stich ließe. Würde er ihr
nicht, wenn er ein Leben frei von Normen und Regeln oder besser selbst gesetzten
Regeln, ein Vorbild sein und zu ihrer Befreiung und Emanzipation beitragen? Dann
hätte er sie vorher im Stich gelassen, als er getreu ihren ausgesprochenen
Erwartungen und ihrer Schmerzen selber ein schmerzerfülltes Leben im Leid
führte. Seine Mutter hatte unter seinem Leid gelitten, und er unter ihrem, und
damit war er ihr inniglich verbunden. Er deutete sogar sein Leid als Rache an
der Mutter auf eine selbstschädigende, masochistische Weise. Wir sprachen sogar
davon „das Imperium schlägt zurück“, da jeder Mensch entsprechend seinen
verinnerlichten Erfahrungen sich verhält.
Als er wieder arbeiten ging, baute sich in ihm der Druck auf, den Anforderungen
zu genügen, da in ihm das Böse, Schlechte steckte, ein Schreckgespenst, das
bisher sein ganzes Leben bestimmt hatte und vor dem er Angst hatte. Auf meine
Bemerkung hin, dass er sich nicht sieht, ausschließlich die anderen, und seine
eigenen Anforderungen und Ansprüche an die anderen nicht sieht. Das setzt ein
gehöriges Maß an Selbstakzeptanz voraus, indem ich mir sage, ich bin auch wer,
ein jemand, der Rechte hat, genau wie die anderen. Er antwortet, er sehe sich
nicht, sei nicht präsent, aber es könne schon sein, dass darin seine Wünsche und
Anforderungen stecken, und dann verknüpfe er das mit dem Bösen. Wünsche
überhaupt zu haben, sei das Böse.
Als Kind konnte er nicht verstehen, warum die Eltern so handelten. Jetzt kann er
es. Alice Miller schrieb ein Buch „Du sollst nicht merken“. Das Merken und
Wahrnehmen ist verboten, und wird von den Eltern streng bestraft In der
biblischen Schöpfungsgeschichte ist in einer Parabel für die herkömmliche
Familie das Pflücken eines Apfels vom Baume vom Baume der Erkenntnis frevelhafte
Gottgleichheit und wird mit der der Erbsünde über Generationen hinweg bestraft.
Bei den Mohammedanern führt Interessenwahrnehmung evtl. zum Ehrenmord.
Das Nichtverstehen hat eine eigene Qualität. Die Eltern nicht erkennen, hält ihn
in dem Zustand und schafft eine ewige Angst vor dem Verstehen und trägt somit zu
den Verkrampfungen bei. Er soll da bleiben, indem er sich selbst unbekannt
bleibt und ein ewiges Rätsel ist. In der Pubertät wurde das noch verstärkt durch
das Erwachen der Sexualität. Ein zusätzliches Böses kam in ihn herein und zwar
grundlegend und automatisiert. Auch erwachte in ihm ein Neid und Missgunst auf
andere, Schulkameraden, denen es soviel besser ging, die mit den Mädchen
rummachten, während er selbst nicht konnte. Vor allem erwachte ein Neid auf die
Mutter, der zuliebe er ihr all Wünsche erfüllte und sich selbst nichts gönnen
konnte. Das sei wie ein Böser Geist, ihnen darf es nicht gut gehen, wenn es ihm
selbst nicht gut geht, ein aus Schmerzen und Leid geborener Vernichtungswille.
Der Neid und der Vernichtungswille waren aber blockiert, da er Neid und
Missgunst nicht merken darf, und wenden sich gegen ihn selbst, werden zur
Autoaggression. Außerdem wolle er wiederum nicht merken, wie existentiell er
eingeschränkt ist. Dadurch fehlen große Teile in der Wahrnehmung. Weil er nicht
merken und wahrnehmen konnte, konnte er auch nicht rebellieren, denn das setzt
schon ein gehöriges Maß an Selbst- und Fremdwahrnehmung voraus.
Ein Gedanke tauchte in ihm auf. Wenn jeder in einem Erwachen so leben wollte,
wie er wollte oder nach selbst gesetzten Regeln, sich selbst verwirklichte, das
gäbe ja das reinste Chaos, da ginge es drunter und drüber. Wenn er früher kein
Vorbild gewesen wäre, das hätte er nicht verstanden, das hätte nicht in sein
Weltbild gepasst. Es wäre auch negativ bewertet worden, etwa mit Egoismus oder
Rücksichtslosigkeit. Schließlich musste er zustimmen, positiv sein, durfte nicht
egoistisch sein. Das sei seine Pflicht. Diese Pflicht galt anderen gegenüber als
Verantwortung für andere. Die Selbstverpflichtung und Selbstverantwortung sah er
nicht.
So pendelte er zwischen einem Frühlingserwachen und einem tiefen Stecken in
einer Nichtselbstwahrnehmung und Ängsten und Verkrampfungen hin und her. Sein
Leben hätte sich so fortgesetzt. Aber der Gedanke mit einer Selbstwahrnehmung
durch das eigene Vorbild auch der Mutter in ihrem Leid zu helfen, sowohl von
ihrem transgenerationell vererbten Leid als auch von dem Leide durch ihn, seine
masochistischen und gleichzeitig sadistischen Tendenzen, ließ ihn nicht los.
Schließlich wollen alle Mütter, dass es ihren Kindern gut geht und dann geht es
ihnen gut, wenn sie sich nicht in Neid und Missgunst verzehren und das Leben
ihrer Kinder kaputt machen. Die Ambivalenz der Mutter trifft auf seine eigene
Ambivalenz.
Die meisten Menschen erwarten die Hilfe und Erlösung von außen. Das Maß an
Selbstzufriedenheit und Selbstakzeptanz hängt von den äußeren Bedingungen und
den Mitmenschen ab. Religionen und Märchen erzählen darüber. Nur an Religionen
wird geglaubt und Märchen sind Märchen, wenn sie auch die mit- und
zwischenmenschlichen Verhältnisse in einer Parabel, einem Gleichnis exakt
darstellen. Auch lebt der Mensch im Vergleich, wenn es einem Menschen gut geht,
darf es dem anderen nicht schlecht gehen und umgekehrt. Andererseits lebt die
Werbung davon und ist deshalb so faszinierend, dass einer oder eine Gruppe
hervorstechen. Da zeigt sich die Widersprüchlichkeit des Menschen.
Seine Hilfe kommt von innen, seiner inneren Argumentation, die er sich in seinem
Kopf mit der gesamtem Palette von Gefühlen und Befindlichkeiten klar machen muß.
Und zwar tiefergehend klar, nicht nur auf einer rationellen Ebene. Seine
Überzeugungen müssen sich ändern, was sein gesamtes Weltbild infrage stellt. Ich
kann nur Anstoß und Hilfe zur Selbsthilfe sein. Wenn er mit seinen Argumenten
seiner Mutter gegenüber tritt, wird sie voraussichtlich mit den alten Argumenten
kommen, und er sich leicht überzeugen lassen, da für die alten Überzeugungen der
Boden vorbereitet ist. Er wird mit Schuldgefühlen reagieren. Diese Erfahrungen
muß er machen. Ob seine Mutter so offen ist und sich überzeugen lässt, ist
fraglich. Aber in diesem Prozeß selbst hat er sich in ihrem Angesicht verändert.
Dabei helfen positive Erinnerungen an die Kindheit.
Von: Bernd Holstiege