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10. Juli 10 , 13:50
Fussball-WM in Südafrika - Höhenflug und warum die Deutschen
plötzlich verloren haben
Frankfurt
am Main (Weltexpress) - Der Angriffsfussball der deutschen jungen Wilden hat
nicht nur die Deutschen, sondern die ganze Welt verzückt und Erstaunen und
Begeisterung hervorgerufen. Ruckzuck ging es nach vorne, und drin war er. Sie
versetzten eine ganze Nation in einen Freudentaumel, ein neues Sommermärchen.
Die Erwartungen stiegen ins Unermessliche. Der Weltmeistertitel stand greifend
nahe vor Augen. Völlig unbekannte junge Spieler, kaum dem Teeniealter
entwachsen, wurden zu Weltstars und zeigten den etablierten Stars, wo es lang
ging. Dieser Höhenflug wurde gegen Spanien jäh unterbrochen. Das Land ist in
Trauer, es sei denn es begeistert sich an dem bisher Geleisteten. Spanien zeigte
sicherlich sein bestes Spiel, und Erfolge können nur solange eintreten, wie sie
der Gegner zulässt. England und Argentinien wurden überrascht und überrannt,
konnten sich nicht ein- und umstellen. Ihr Dünkel, symbolisch Maradonna, die
Hand Gottes, wurde ihnen zum Verhängnis.
Löws großes Ziel war der WM-Titel 2010. Heute spielt er mit seiner jungen
Mannschaft um Bronze. Er sieht sich als ästhetischen Trainer, der guten Fußball
bieten will.
Aber – der Ball ist rund. Jeder konnte im Spanienspiel sehen, das war nicht mehr
die vorherige Mannschaft. Die Pässe klappten nicht mehr. Das Team zog sich mehr
zurück, liess die Spanier spielen, der Drang nach vorne fehlte. Vieles von dem,
was bisher die Mannschaft auszeichnete, war nicht mehr vorhanden oder war nur in
Ansätzen zu sehen. Zwischendurch schien es wieder besser zu klappen, dann
bekamen die Spanier wieder die Oberhand. Aber nach der ersten Halbzeit war ja
noch nichts verloren. Wir alle hofften auf die zweite Halbzeit, auf die
Auferstehung. Leider wurde nichts besser. Trotzdem, die Abwehr hielt dicht, oder
der Teufelskerl Neuer hielt, oder die Spanier schossen weit drüber – bis auf
eine kleine Situation. Das erinnert an diese kleine verwundbare Stelle bei
Jungsiegfried oder Achill. Eine Ecke, drei Spanier auf einem Haufen und einer
erhielt den Ball und köpfte rein. Warum stand denn niemand dazwischen, etwa ein
baumlanger Peer Mertesacker? Die Situation wäre geklärt gewesen und die
Verlängerung oder sogar ein Elfmeterschiessen hätten bevorgestanden. Es wirkte,
als ob alle es so gewollt hätten, natürlich nicht bewusst. Bewusst wollten alle
den Weltmeistertitel.
Sicher, man kann in niemanden hinein schauen, schon gar nicht in eine Mannschaft
und deren Gefüge und Zusammenspiel. Dies Gefüge ist wie eine einzelne Person,
das Ganze mehr und anders als die Summe der Einzelteile. Erklärungen der Spieler
bleiben unzureichend. Wenn die Dinge unsichtbar in der Tiefe bleiben, kann man
einen Tiefenpsychologen bemühen wie den Sportpsychologen Andreas Marlowitz, der
Hannover 96 nach dem Tod von Robert Enke betreut hatte und in der Frankfurt
Rundschau interviewt wurde.
Alle Geschichten haben eine Vorgeschichte. In dieser spielt Michael Ballack eine
wichtige Rolle, die Leitfigur, der erfahrene Hoffnungsträger, unersetzlich,
Regisseur, Ballverteiler und jederzeit für ein Tor gut. An ihm hätte sich die
junge Mannschaft aufbauen können. Aber er wurde im Vorfeld von einem bösen Buben
getreten und ist verletzt. Jeder glaubte, die Mannschaft ist massiv geschwächt.
Im Gegenteil, wie das? Die Mannschaft spielte wie befreit auf, entwickelte
ungeahnte Tugenden, die zwar jeder einzelne Spieler schon vorher in den Vereinen
gezeigt hatte, aber alle auf einmal gleich zusammen zeigten? Diese Tugenden in
der besonderen Situation einer WM abzurufen, ist eine andere Sache. Yogi Löw
scheint der Zaubermann wie ein Yogi, ein indischer Zauberer, zu sein. Andere
Mannschaften konnten das nicht und haben nicht einen Yogi, einen derartigen
Zauberer.
Jeder weiss, wenn der Platzhirsch nicht mehr vorhanden ist, können die anderen
Hirsche sich frei entfalten. Der Platzhirsch stellt für die Anderen eine
Bedrohung dar. Einer hemmt alle. Diese Erklärung hat etwas für sich, ist jedoch
nicht im Sinne der Mannschaft und deren Ziele. Er soll ein Leithammel sein, an
dem sich alle aufbauen und entfalten sollen. Aber in der Realität ist das oft
nicht so. In einer Hierarchie können sich nicht alle entfalten. Deswegen wurde
ja auch versucht, einen Primus inter pares, eine flache Hierarchie aufzubauen,
wo jeder sich frei entfalten kann. Das ist bis zum Spanienspiel gut gelungen.
Ohne wenigstens ein bisschen Hierarchie, Kapitän Philipp Lahm und Beisitzer
Bastian Schweinsteiger, scheint es nicht zu gehen.
Michael Ballack ist und spielt, wie er ist. Und das sehr gut. Dadurch geriet er
ins Rampenlicht, wurde durch die Zuschreibungen der Nation und der Medien zum
Hoffnungsträger und zur Leitfigur hochgejubelt. Dafür kann er eigentlich
herzlich wenig. Viele wollen sich durch Erfolge berauschen. Wofür eigentlich?
Für den grauen Alttag oder die Misere und Zerstrittenheit der Regierung? Im
Rausch kann man sich so schön einig sein. Von den Erwartungen, die auf seiner
Schulter liegen, schien er schon mehrfach überfordert zu sein und war und ist
verletzt. Aber seine Rolle ist nicht nur ihm zuviel, sondern auch der übrigen
Mannschaft. Schon 2008 bei der EM wurde er angefeindet, weil die übrige
Mannschaft weniger benannt wurde und hinter ihm zurückfiel. Als Reaktion betonen
deswegen immer wieder erfolgreiche Spieler, das haben sie der Mannschaft und dem
Zuspiel zu verdanken. Das ist auch so.
Nachdem die Mannschaft ihr neues Gefüge der flachen Hierarchie gefunden hatte
und erfolgreich war, tauchte Michael Ballack auf, angeblich zur Unterstützung.
Wer hatte ihn gerufen? Der Mannschaft war er nicht willkommen. Er störte und das
spürend, verschwand er nach ein paar Tagen. Mit dem Ziele, das neue Gefüge zu
erhalten, betonte Lahm, dass er auch nach der WM Kapitän bleiben wolle. Sofort
wurde ihm Egoismus und Machtanspruch unterstellt und in den Medien breit
getreten. Für die Nation und ihr Sprachrohr die Medien war es offenbar eine
Ungeheuerlichkeit und Frevel, dass ein neuer Kapitän den Alten vom Sockel stiess.
Zumindest war so das Verständnis und Missverständnis, worum es eigentlich geht.
Exzellente Fussballspieler sind nach meinem Eindruck trotz ihrer Jugend recht
kluge und differenzierte Köpfe. Sonst hätten sie es nicht soweit gebracht. Dort
stört eine strenge Hierarchie nur und hemmt die Entwicklung.
Offenbar ging es manchen Leuten darum, in der Person von Ballack die alte
Hierarchie wieder herzustellen. Wie viele Teile der Gesellschaft ist der
deutsche Fussballverband wahrscheinlich streng hierarchisch organisiert. Die
Hierarchie dient dem Machterhalt, ist aber für eine erfolgreiche Mannschaft
höchst unproduktiv. Das weiss auch Löw und gerät mit dem Verband in Zwist.
Infolge des hochgeputschten Loyalitätskonfliktes und Kuddelmuddels schwante mir
vor dem Spanienspiel schon böses. Ich hoffte aber, dass die Mannschaft das
verkraftet und sehe darin auch nicht die eigentlichen Ursachen des mässigen
Spiels der deutschen Mannschaft.
Höhenflüge haben irgendwann ein Ende. Man denke nur an Ikarus. Je höher diese
sind, die Erwartungen ins Unermessliche steigen, desto tiefer ist der Absturz.
Jeder weiss, wie nahe Vergöttlichung und Verteufelung nebeneinander liegen.
Deswegen schwingt die Angst immer mit, macht den Höhenflug zu einer
anstrengenden Sache und führt leicht zu Verkrampfungen. Vielleicht deswegen
verkrampfte das deutsche Spiel. An dieser Stelle ist es doch besser und
vernünftiger eine Grenze einzuführen und den Höhenflug nicht zu überreizen.
Genau das hat die deutsche Mannschaft, wahrscheinlich unbewusst, getan und auf
das ersehnte Ziel des Weltmeistertitels klugerweise verzichtet. Wir können viel
davon lernen. Ausserdem haben sie genügend Erfolge gehabt, ihren Marktwert
erheblich gesteigert und die Chance, im Spiel gegen Uruguay noch einmal frei
aufzuspielen. Allerdings Ansätze dieser Form der Regelung, zuerst frei und
gekonnt aufspielen, dann die Verkrampfung, gab es schon nach dem Spiel gegen
Australien in den Spielen gegen Serbien und Ghana. Das machte Serbien und
Spanien stark.
Den neuen Geist der Form des Mannschaftsgeistes und des Verzichts hat
wahrscheinlich Klinsmann eingeführt. Auf dem Höhepunkt seines Erfolges hat er
auf eine Fortsetzung verzichtet. Anzunehmen ist, er hatte auch keine Lust mehr,
und es nicht nötig, sich mit den Betonköpfen des DFB auseinander zu setzen. In
seine Nachfolge und Fusstapfen ist Yogi Löw getreten. Möglicherweise hat er auch
Klinsmann inspiriert, ein Ausdruck des neuen sich gegenseitig inspirierenden
Teamgeistes. Löw war ja vor der WM schon mit dem DFB in Konflikt geraten.
Riesenerfolge hätten seinen Abgang und Verzicht sicherlich erschwert. Niemand
hätte das verstanden. Vielleicht hat er als Vorsorge die Devise zu einem
zurückhaltenden und vorsichtigen Spiel ausgegeben, die aber der Mannschaft nicht
entsprach, so dass sie gehemmt auftrat. Trotz allen Teamgeistes kocht jeder noch
an seinem eigenen Süppchen herum.
Erfolge verlangen nach einer Verbesserung und Wiederholung, wie überhaupt der
Mensch dazu neigt, nach Verbesserungen, Fortschritt und Aufstieg bis zum Griff
nach den Sternen zu streben. Sich mit dem zu bescheiden, was man hat, und das zu
geniessen, ist oft wenig drin. Der Schuss kann leicht nach hinten losgehen, da
Erfolge zu einer Angst vor dem Misserfolg führen und dadurch der Misserfolg
vorprogrammiert ist. So kann der Erfolg schnell zum Fluch werden und in Stress
ausarten. Deswegen müssen junge Spieler langsam aufgebaut werden, um sich
psychisch an die Fortschritte zu gewöhnen. In Südafrika ging alles mit der
jungen Mannschaft viel zu schnell, und sie hat lieber einen Schritt zurück
gemacht.
Kommen wir zurück zur Hierarchie, an der sich der Ballack–Lahm-Konflikt
entzündete, hinter der das Vater-Sohn-Verhältnis steckt. Um die
Hierarchiekonflikte verständlicher zu machen, ist es nützlich, uralte Mythen zu
bemühen. Mythen spiegeln in Form von Erzählungen Alltagskonflikte wieder, die
damals bestanden und noch heute bestehen, da sich der Mensch trotz aller
technischen Fortschritte im Laufe der Jahrtausende wenig verändert hat.
Erzählungen nehmen die Brisanz. Die Vater-Sohn-Beziehung ist in der Ödipussage
gut veranschaulicht. Der Sohn hatte mehr zufällig in einer Verkettung
unglücklicher Umstände seinen ihm nicht bekannten Vater getötet, nachdem der
Vater versucht hatte, ihn gezielt zu töten. Nach früheren tragischen Umständen
hatte der Vater das Orakel aufgesucht, um durch Vorbeugung Sicherheit zu
erlangen. Aber, wie das so oft ist, die Vorbeugung und Abwehrstrategie der
Prophezeiung führt gerade dazu, dass die Dinge geschehen können, die vermieden
werden sollen, in der Ödipussage, dass der Sohn seinen Vater umbringt und die
Mutter heiratet.
Aber, werden Sie sagen, das ist doch nicht unser Alltag! Bei uns bringen die
Väter doch nicht ihre Söhne um. Oder doch? Jedenfalls kamen in der
Menschheitsgeschichte ungezählte Söhne in den Kriegen um, die die Väter
angezettelt haben, und diese konnten die Hoffnung haben, die Mütter für sich
alleine zu haben. Zurecht haben folglich die Söhne die Väter zu fürchten. Ein
Hintergrund ist, dass die Mütter ihre Söhne oft hochjubeln, diese ihnen
wichtiger sind als ihre Männer, also mehr mit dem Sohn als dem Ehemann
verheiratet sind. Im Alltag machen oft die Väter die Söhne fertig, die Chefs
ihre Untergebenen, entwerten, demütigen sie, lassen sie nicht hochkommen. Warum
machen sie das? Vermutlich, weil sie in sich selbst das Alter und den Zerfall
sehen und in den Söhnen die Jugend, Attraktivität und Zukunft, also ihr Neid und
ihre Missgunst.
Im jungen deutschen Team steckt die Zukunft, vor allem durch ihren attraktiven
Fussball. Eigentlich müsste der Ödipuskonflikt zwischen Trainer und Spielern
herrschen. Aber es ist im Erfolgsstreben nicht die Aufgabe des Trainers die
Spieler nicht hochkommen zu lassen, obwohl auch das noch oft genug geschieht.
Zur Lösung dieses uralten Konflikts muss der Autoritätskonflikt auf jemand
anderes verschoben werden, hier auf das Bauernopfer Ballack, der im doppelten
Sinne verletzt ist. Der Zauberer Löw ist aus dem Schneider, kann sich die
Erfolge an seine Brust heften, und seine Söhne können ungeniert frei aufspielen
– eine wunderbare, gelungene Lösung.
Sicher, ein Spieler und eine Mannschaft spielen mal besser und mal schlechter,
so wie es im Leben auf und ab und hin und her geht. Das alles hängt von vielen
Faktoren ab, wo Kleinigkeiten entscheiden können. Man muss nichts Weiteres
dahinter sehen. Das bisher Geschriebene kann alles Spekulationen sei, nichts
Handfestes. Die Psychologen spinnen sowieso. Aber die Welt ist nicht so simpel,
die „weichen“ Daten führen zu harten Fakten, etwa das Image eines Produktes zu
handfesten Verkäufen und Gewinnen, und in der Deutung von Hintergründen liegt
ein besonderer Reiz.
Von Bernd Holstiege
1 Kommentar
Jürgen Schmidt schrieb am 11.07.2010 11:35
Guter Kommentar! Auch ich sah in der Forderung von Lahm Kapitän bleiben zu
wollen den Grund für die Störung im Gefüge der Mannschaft . Diese Forderung kam
aber zum falschen Zeitpunkt . Lahm hat es vergeigt ! Ballack war schließlich
noch verletzt und da haut man nicht noch drauf .Jürgen Schmidt Bottrop