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21. March 11 , 14:09
Warum
der Kindsmörder Magnus Gäfgen nach den Folterdrohungen Schmerzensgeld erklagen
„muss“
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Für den Normalbürger
erscheint es ungeheuerlich und schamlos, dass ein Kindsmörder nach seiner Untat
noch auf Schmerzensgeld klagen kann. Als gerechte Strafe für die
Ungeheuerlichkeit seines Verbrechens sitzt er lebenslang im Knast. Er hatte
schon aus Geldgier gemordet und eine Million erpresst. Hört seine Geldgier immer
noch nicht auf? Er argumentiert, durch die Folterandrohung sei er traumatisiert
worden und fordert Schmerzensgeld. Die Folterdrohung hat ihm eine derart
traumatisierende Angst bereitet, dass er bereit war, die Stelle des Kindes preis
zu geben.
Der Polizeivizepräsident Daschner und ein weiterer Beamter sind deswegen schon
vom Dienst suspendiert und zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Die unteren
Gerichtsinstanzen lehnten die Schmerzensgeldklage ab und verwiesen auf eine
Traumatisierung infolge des Verbrechens, wurden aber vom europäischen
Gerichtshof zur Revision zurück gewiesen. Dieser bizarre Fall macht den
Gerichten viel Kopfzerbrechen. Die Folterandrohung war als Mittel eingesetzt
worden, weil noch gehofft wurde, den Jungen lebend vorzufinden.
Ich habe Magnus Gäfgen nicht gesprochen und untersucht und bin nur auf meine
Erfahrungen und Gedanken angewiesen. Nimmt man Gäfgen und seinen Fall aus
tiefenpsychologischen Erwägungen ernst, fragt nach den Hintergründen und
Zusammenhängen und versucht diese zu verstehen, ergeben sich andere und neue
Perspektiven. Verständnis heißt nicht Akzeptanz. Es bleibt immer noch ein
fürchterliches Verbrechen.
Offenbar hat Gäfgen sein Verbrechen als Verbrechen völlig verleugnet. Aber
wahrgenommen haben wird er wohl in traumatisierender Weise die Ächtung durch die
Gesellschaft, sogar im Knast, seine lebenslange Haft und seine verlorenen
Zukunftschancen, vor allem bei einem Menschen, der so existentiellen Wert auf
äußeren Glanz und Schein legt. Ich nehme an, hätte er seine Untat als Verbrechen
realisiert, wäre er durch sein Verbrechen derart traumatisiert, dass er
erheblich suizidgefährdet wäre. Insofern garantiert die Verleugnung seines
Verbrechens sein Überleben, und die bisherigen Gerichtsentscheidungen haben
aufgrund der unterschiedlichen Wahrnehmung beim Hinweis auf den Grund der
Traumatisierung unrecht.
Der Fall ist auch deswegen interessant, da Gerichte normalerweise auf die
Wahrnehmung und den Rechtsstandpunkt des Verbrechers in keiner Weise eingehen,
sondern sich nach der Rechtsordnung richten, die in derartigen Fällen auch der
Rechtsstandpunkt eines Großteils der Bevölkerung ist. Auch deswegen ist der Fall
interessant, da an ihm gut die Unterschiede in der Wahrnehmung einer massiven
Persönlichkeitsstörung zu einer gesunden Persönlichkeit mit einer
Rechtsauffassung nach der Rechtsordnung zu studieren ist. Für den europäischen
Gerichtshof ist der Knackpunkt die im Völkerrecht verbotene Folterung. Gäfgen
wurde aber gar nicht gefoltert, sondern diese nur angedroht. Für einen
ängstlichen Menschen, der er trotz und gerade wegen seines blasierten und
egozentrischen Auftretens, der von seinem Opfer wie von einem Objekt und nicht
einem Menschen spricht und fürchten muss, dass sein Lügengebäude zusammen
bricht, ist allein die Androhung der Folterung gleich zu setzen. So als ob er
gefoltert worden wäre, gab er deswegen sein Geheimnis preis. Aufgrund der
Nichtwahrnehmung seines Verbrechens kann er innerhalb seiner Wahrnehmung und
Rechtsauffassung zurecht auf Schadensersatz klagen.
Der Fall erinnert mich auch an den Amokläufer Wagner Anfang des letzten
Jahrhunderts. Wagner konnte sich seinen Wahn, dass ihm jeder auf der Straße
seine Sodomie ansehe, bis zuletzt nicht eingestehen. Dieser Wahn diente seinem
Überleben. Bei einer Realisierung seines Verbrechens hätte er sich vermutlich
umgebracht. Als Lehrer und gebildeter Mann hatte er Bücher geschrieben und war
von Fachleuten interviewt worden. Andere Amokläufer, die als Rache für ihre
vermeintlich innere Schmach töten, bringen sich meist nach den Opfern um oder
lassen sich umbringen. Wagner trug die Sodomie als massive Entwertung und
Schmach im Selbstbild mit sich herum und blieb lebenslang überzeugt, jeder würde
sie ihm ansehen. Dadurch war er traumatisiert, und sein Verbrechen in seinen
wahnhaften Augen irgendwo gerechtfertigt. Die grundlegende Traumatisierung,
einmal das innere Böse und die Wahrnehmung, jeder sehe es ihm an, muss schon
weit vorher in der Kindheit gelegen haben und mit einer tödlichen Wut verbunden
gewesen sein, aus der er einen Rechtsanspruch, zwar vermutlich im Affekt, des
Mordens ableitete.
Welche Bilder, welchen Makel oder Stigmatisierung mag ein aus einfachen
Familienverhältnissen stammender intelligenter und tüchtiger Jurastudent in sich
herum getragen haben, der, statt stolz auf seinen Werdegang zu sein, meinte, mit
den reichen Söhnen der Stadt Frankfurt in einem finanziell aufwendigen
Lebensstil mithalten und die Mädchen blenden zu müssen? Die Inhalte kenne ich
nicht. Seine selektive Wahrnehmung war, nicht seinen Erfolg zu sehen, sondern
ausschließlich seine Schmach und Schande und als Ausgleich beansprucht er den
Glanz der Reichen. Irgendetwas musste er in grandioser Weise kompensieren und
eine tödliche Wut in sich herum getragen haben. In der Kompensation sah er und
sieht noch heute als Wiedergutmachung einen Rechtsanspruch. Dieser
Rechtsanspruch ging sogar soweit, dass er Entführung und Erpressung für
gerechtfertigt ansah und in seiner tödlichen Wut sogar sein Opfer ermordete.
Auch im Gefängnis dringt er noch beharrlich auf Wiedergutmachung. Tief in seinem
Inneren muss er sich immer noch entwertet und irgendwo und irgendwie zutiefst
ungerecht behandelt fühlen.
Da ich es nicht weiß, kann ich nur Rückschlüsse aus sonstigen Krankheiten und
Persönlichkeitsstörungen ziehen. Der häufigste und krankmachende Weg einer
traumatischen Kindheit ist infolge der Verinnerlichung der frühen Objekte, meist
der Eltern, und der Aggression gegen diese die Autoaggression. Autoaggression
deshalb, weil die Eltern in der eigenen Person stecken und sich die Wut
infolgedessen gegen die eigene Person richtet. Dabei werden nach außen die guten
Beziehungen gewahrt, und die Aggression mit sich selbst ausgemacht. Durch die
kulturell bedingte auf Äußeres ausgerichtete „gute“ Erziehung sind insofern
Krankheiten ein Kulturprodukt.
Bei Persönlichkeitsstörungen ist das anders. Sie lassen andere leiden, sozusagen
als Wiedergutmachung oder Rache für ihr eigenen Leiden. Oft wechselt sich beides
ab oder vermischt sich. Der Depressive, Schmerzkranke oder der Alkoholiker im
Rausch lassen gelegentlich ihre Aggressionen heraus. Wenn sie diese akzeptieren
können und sich die Ursachen und Zusammenhänge klar machen, sind Schmerz und
Depression gebessert, wenn nicht, verstärkt sich ein unheilvoller Teufelskreis
von Schuld, Scham und Krankheit bis zum Suizid.
Von Angstkranken weiß ich, dass sie meist glauben, man würde ihnen ihre Angst,
ihren Makel und ihre Schwäche ansehen, tun alles, um das in einem Gegenbild von
Stärke und Souveranität zu verbergen und sind dann immer noch erstaunt, wenn man
ihnen nichts ansieht. Mancher Angstkranke erzählte mir, die Öffentlichkeit ist
für ihn wie ein Spießrutenlaufen, kein Wunder, dass sie sich manchmal in der
Wohnung verkriechen. Infolge ihrer inneren und oft genug äußeren Entwertungen
erleben beispielsweise Arbeitslose und Hartz4-Empfänger eine unglaubliche
Belastung, stehen unter stärkerem Druck, als wenn sie arbeiten würden. Dermaßen
entwertet zu werden, erzeugt in ihnen Aggressionen. Eigentlich ist die
Angstkrankheit noch mehr als die Angst vor Stigmatisierung und Ausgrenzung die
Angst vor der eigenen Wut. Die Angstkranken müssen schon in ihrer Kindheit
verinnerlicht haben, dass ihnen ihre Entwertung angesehen wird. Die
Angstkrankheit mit ihren körperlichen Formen ist eine der häufigsten
Erkrankungen. Der Übergang zur Depression ist fließend.
Ein weiteres Beispiel für die Macht der in dieser Weise wahrgenommenen
Zwischenmenschlichkeit: 80% der Psoriatiker (Schuppenflechte, dritthäufigste
Hauterkrankung) glauben, die Anderen glauben, sie selbst haben eine ansteckende
Krankheit, 50% glauben selber noch, sie haben eine ansteckende Krankheit. Im
zwischenmenschlichen Bereich derartig stigmatisiert und gemieden zu werden,
erzeugt bei ihnen Wut, die als Hautausschlag nach außen sichtbar körperlich
gebunden hervor tritt.
Viele stürzen sich in Schulden, um ihren Erfolg und Status in der Umwelt zu
zeigen und müssen immer Angst haben, ihre Hochstapelei komme heraus oder werde
durchschaut. Der äußere Glanz dient der Absicherung der Entwertung. Magnus
Gäfgen ist so jemand, trägt dazu noch eine tödliche Wut in sich herum und kämpft
für seine Wiedergutmachung. Die Höhe seines Geltungsanspruches in Geld, eine
Million, steht im Verhältnis zur Tiefe seiner inneren Entwertung. Diese Wut wird
seinen Primärbeziehungen entstammen, wo er entwertet, durchschaut, ihm das Böse
angesehen wurde, und er mit allen Mitteln als Ausgleich auf Wiedergutmachung
sinnt, früher in einer blendenden Welt, wo ihm sogar eine Millionenerpressung in
seinen Augen zustand. Ohne diese Voraussetzungen wäre das spätere Verbrechen
kaum möglich.
Die spätere Welt, auch heute noch im Gefängnis, soll seine frühkindlichen
Traumatisierungen wiedergutmachen, um sein Selbstbild zu stabilisieren und
korrigieren. Durch seine übersteigerten Rechte und den äußeren Schein sucht er
seine innere Entwertung und sein inneres Unrecht auszugleichen und zu
übertünchen. Seine Ängste macht er an der Folterdrohung fest. Jedoch bedeuten
für ihn die Haft und Strafe eine erneute Traumatisierung, aus der er in einem
Kreislauf erneute Rechte für sich beansprucht. Dass es ausgerechnet die hoch
angesehene Frankfurter Familie von Metzler traf, hängt mit seinem Neid und der
Vergeltung auf ihr Erfolgssymbol zusammen.
In milderer Form finden sich Verbrechen und ein fehlendes Unrechtsbewusstsein in
den honorigsten Kreisen. Millionäre bringen ihr Geld in Steueroasen, Banker
streben auf Kosten der Allgemeinheit nach dem schnellen Profit. Im
Gesundheitswesen wird ebenfalls der schnelle Profit gesucht auf Kosten der
Kranken und im Rechtssystem noch unterstützt. Vieles davon wird Gäfgen bekannt
sein, und er gewinnt auch wie viele andere aus diesen Tatsachen seine
Rechtfertigung „wenn die das machen, warum soll ich nicht auch!“. Welche inneren
Entwertungen müssen diese Menschen in sich herum tragen, wenn sie nicht mit
Reichtum und äußerem Glanz kompensieren können.
Achtung für sich und für andere wird Gäfgen kaum kennen gelernt haben. In seiner
vermutlich wahnhaften Persönlichkeitsstörung hat er sein Verbrechen für sich
wohl kaum realisiert. Das wäre auch sein Tod. Im Kampf um Wiedergutmachung und
Schmerzensgeld haben sein Kampf im Gefängnis und sein Leben noch einen Sinn.
Von Bernd Holstiege
2 Kommentare
Bernd Holstiege schrieb am 23.03.2011 20:43
An Gäfgens vermutliche Zukunft habe ich bisher nicht gedacht.Sie haben wohl
recht. Er ist so stark dem Negativen und dem Kampf verhaftet, deswegen sein
äusserer Glanz, dass bei einem Schmerzensgeld er eher den Sinn seines Lebens
verliert.
Rolf Gerhard schrieb am 22.03.2011 21:55
Ich habe gerade den Aufsatz gelesen und finde die Erklärung äußerst interessant.
Zumal auch für mich als Laie gut verständlich. Wie aber geht es weiter?
Was passiert, wenn er das Geld bekäme, oder auch nicht?
Er wäre bei Gelderhalt vermutlich in seiner Ansicht bestätigt. Aber für ihn wäre
doch dann "die Luft raus", sein Ziel wäre verloren gegangen.
Wie könnte sich sein Verhalten ändern, wie ginge es ihm dann? Besser - ich
glaube nicht.