Warum sollte ich streiken!?

Ärzteproteste gegen Bürokratisierung und Unterbezahlung.

Eine kritische Stellungnahme eines Arztes zum Gesundheitswesen

 

Sicher, die Bürokratisierung nimmt immer mehr zu und läßt den Ärzten immer weniger Zeit für ihre Patienten. Da ist manches mau! Aber - die bisherige Zielrichtung der Proteste halte ich für ein Doktern an Randsymptomen eines immer mehr unbezahlbaren Systems im Gesundheitswesen.

 

Sicher sind die Krankenhausärzte durch Bürokratisierung, Überstunden und überlange Nachtdienste völlig überfordert, betreiben gesundheitlichen Raubbau und werden im Verhältnis zur Arbeitszeit minder bezahlt, vor allem im Vergleich zu adäquaten Jobs in Industrie, Wirtschaft und Freiberuflichkeit. Sie streiken zurecht. Aber die Gewerkschaft Verdi hat auch recht, wenn sie moniert, die Ärzte verlangen 30% mehr und was bekommt das übrige sowieso schon minder bezahlte Krankenhauspersonal dazu?. Aber auch den Krankenhäusern wachsen die Kosten über den Kopf. Wo bleibt das viele Geld, das in sie hineingesteckt wird? Ich weiß es nicht. Ich kann nur vermuten - in Verwaltung, auch in die der Bürokratisierung, technische Ausstattung und Behandlungen und überteure Medikamente. Viele Patienten verlassen das Krankenhaus mit der Empfehlung der Weitergabe einer überlangen Latte von Arzneien. Die Arbeitkräfte, die in diesem System entstehen, müssen woanders eingespart werden, sodaß es zu einer übermäßigen Belastung des Personals kommt.

 

Im Honorarverteilungskampf innerhalb der niedergelassenen Ärzteschaft sind einige Arztgruppen wie die Nerven-, Haut-, Kinderärzte und vor allem die Psychotherapeuten die Verlierer, weil sie keine ausreichend starke Lobby besitzen, während andere Arztgruppen wenig Anlaß zum Protest haben. Wo Geld ist, ist auch Einfluß. Nicht umsonst werden Einkünfte seit langem nicht mehr offen gelegt. Dann käme wohl heraus, daß es diesen nicht schlechter, sondern eher besser geht. Natürlich schließen sich auch die Gewinner im eigenen Interesse den Protesten an. Auch sie können dadurch nur gewinnen.

Ihre Leistung und ihr Gewinn bestehen darin, in möglichst kurzer Zeit möglichst vielen Patienten auf möglichst hohem und dementsprechend teurem Niveau technische Untersuchungen und Behandlungen von geringer bezahltem Personal angedeien zu lassen. Das Credo ist, Das ist Leistung und diese soll nicht unterbezahlt werden.

Diese kommen ihren Patienten entgegen, da hohe Technik bei diesen hohe Heilungshoffnungen erweckt. Deswegen wollen auch diese es so, setzen alle Hoffnung dorthinein, denn Operationen, Technik wirken als handgreiflich Faßbares. Es manifestiert sich die Vorstellung, etwas Faßbares im ansonsten oft schwer faßbaren, diffusen Krankheitsgeschehen zu haben, bei dem oft völlig unklar ist, woher die Krankheit kommt, wie mit ihr umzugehen ist und ob es sich um eine harmlose vorübergehende Symptomatik oder den Beginn einer schweren Krankheit handelt. Durch den Begriff Vorstellung, eine Konstruktion des Geistes, wird auf die psychologische Wirkungsweise der technischen Medizin hingewiesen. Schließlich ist bei schweren, schmerzhaften und bedrohlichen Krankheitszuständen das Wesen der Krankheit die Ohnmacht und Hilflosigkeit, und der Kranke vertraut jedem, der faßbare Hoffnung vermittelt. Der Arzt muß es wissen, er hat Krankheiten und deren Heilung studiert und ist darin ausgebildet. Er ist der Halbgott in Weiß, dessen Handlungen und Gewinne kaum noch kritisch überprüft werden. Der Arzt hat in der Volksmeinung noch die höchste Position. Daß er in seiner Ausbildung fast ausschließlich auf organische und naturwissenschaftliche Medizin ausgerichtet ist und von psychologischen und psychosozialen Faktoren fast nichts versteht, das weiß der Patient nicht und das würde auch die Reputation des Arztes beeinträchtigen.

Dazu eigene Erfahrungen: Als junger Medizinalassistent war ich richtig froh, wenn ein Patient nur den Blutdruck gemessen haben wollte. Das war für mich leicht durchführbar. Ansonsten stand ich ziemlich im Walde. Bei meinen Erfahrungen im Notdienst wurde ich meist zu Patienten gerufen, die Angst vor ihren Symptomen hatten, etwas Schlimmes befürchteten. Eine Erklärung zum vorübergehenden Charakter beruhigte meist. Aber man konnte ja nie wissen...?  Ein übler Schwarzseher malte auch weiter den Teufel an die Wand.

Der Run zu organischen Erkrankungen, Diagnosen und Behandlungen, besteht für die Patienten auch deswegen, weil psychische, psychosomatische Krankheit für sie, den Arzt und das Umfeld mit massiver Entwertung wie Scham, Schuld und Lächerlichkeit verbunden ist, ein eingebildeter Kranker, Simulant, Weichei oder Psychokrüppel zu sein, oder mit der Krankheit massiven Druck auf das Umfeld auszuüben. Dies bedeutet eine massive narzißtische Kränkung und verstärkt die Erkrankung, wie das Wort Kränkung schon ausdrückt. Dann bedeutet die organische Diagnose eine Rettung, und der Patient gerät nicht unter zusätzlichen Rechtfertigungs- oder Legitimationsdruck. Oft hat der Patient auch keinerlei Wahrnehmung über persönlichkeits- und psychosoziale Bezüge, sieht den Schmerz allen im Organ und nicht im Kopf, in dem schon vorher massive Kränkungen vorhanden waren. Das nähere Umfeld kann oft noch diese Bezüge sehen, in welcher Situation und warum dieser Kranke diese Beschwerden entwickelt hat. Neuere bildgebende Verfahren und biochemische Untersuchungen haben jedoch gezeigt, daß psychische und psychosomatische, aber auch organische Erkrankungen von Veränderungen in der Hirnfeinstruktur, den Nervenverästelungen und –verknüpfungen und den biochemischen Überleitungen, begleitet sind, also auch organische Erkrankungen sind. Aber das hat sich bei Patienten und Ärzten noch nicht herumgesprochen. Entsprechende Medikamente wirken ja auch, wie etwa Antidepressiva auf den Transmitter(Botenstoff)stoffwechsel.

 

So paradox es klingt: Derjenige ist ein guter Arzt, der bei völlig diffusen, nicht faßbaren Symptomen, z.B. der Schilderung von nicht organisch erklärbaren Schmerzzuständen, eine klare, eindeutige, unanfechtbare Diagnose mit einem klaren erfolgsversprechenden Behandlungsplan vorlegen kann. Dann schöpft der Patient Hoffnung, ist entspannt und der Regenerationsprozeß bzw. die Selbstheilungstendenz kann seinen Verlauf nehmen -  es sei denn, die krankheitsauslösenden Ursachen sind zu übergewichtig. Also, allein die Hoffnung und der Glaube können die Heilung bewirken. Das Ganze nennt man Vertrauen in den Arzt. Selten fällt ein solcher Arzt auch bei einem ansonsten aufgeklärten und differenzierten Patienten unten durch. Aber auch das gibt es, daß ein Patient sagt „der Doktor fällt klare Diagnosen, wo er gar nichts wissen kann“, und in dessen Augen wird er zum Scharlatan. Die Macht des Geistes und Glaubens ist notgedrungen von der Pharmaindustrie und dem Staat z.B. im Doppelblindversuch anerkannt: Bei der Zulassung von neuen Medikamenten muß die überlegene Wirksamkeit von wirkstoffhaltigen Medikamenten gegenüber Scheinmedikamenten sog. Placebos nachgewiesen werden, indem weder der Arzt noch der Patient weiß, um welches Medikament es sich handelt. Wenn der Arzt es wüßte, würde sein Glaube als Droge Arzt wirken. Überhaupt hängt die Wirkung der Arznei von 3 Faktoren ab, ob der Arzt, der Patient und das Umfeld daran glauben. Wenn das Umfeld nicht glaubt, wird die Wirkung dem Patienten ausgeredet.

 

In dieser technischen Medizin verzeichnen die Ärzte recht unüberprüft hohe Gewinne. Z.B. ist oft kaum überprüfbar, ob technisch aufwendige und teure Untersuchungen und Operationen wie Kernspin, aufwendige Laboruntersuchungen wirklich notwendig sind, und stehen im Ermessen des Arztes und der Einwilligung des Patienten, wobei finanzielle Interessen im Vordergrund stehen können oder die Angst, etwas übersehen zu haben, also eher eine psychologische Frage oder eine Angst vor dem Kadi. Die Geräteindustrie verführt die Ärzte und Patienten zur eigenen Gewinnmaximierung zu immer neuen und technisch hochwertigeren, aber auch teureren Geräten und die Patienten legen in diese alle ihre Hoffnungen. Das Neueste und Beste ist gerade gut genug, und nicht nur für Privatpatienten. Außerdem werden dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen. Diese unausgesprochene Kumpanei zwischen Ärzten, Patienten und Industrie macht die Medizin teuer.

 

Aber, in dieser technisierten Medizin mit hohen Gewinnmargen kommen die Arzt-Patient-Beziehung und der psychosoziale Hintergrund von Krankheiten zu kurz. – Noch vor ca. 10 Jahren war abrechnungstechnisch das Arzt-Patienten-Gespräch sinnvollerweise höher bewertet worden. Daraufhin haben viele Ärzte laut Abrechnung mit ihren Patienten gesprochen, manchmal mehr als der Tag Stunden hat. Ihr Geheimnis war, wie sie das schafften, ohne mehr zu arbeiten. -  Dafür besteht auch kaum noch Zeit. Einmal, weil der Arzt wenig verdient, wenn er nicht möglichst viele Leistungen in möglichst kurzer Zeit erbringt, zum anderen läßt ihm die Bürokratisierung, Anträge, schriftliche Darlegungen, Begründungen seiner Behandlungen, immer weniger Zeit.

Durch die Bürokratisierung wird eine Validisierung  und Operationalisierung von schwer faßbaren Krankheitszuständen und schwer faßbaren interpersonellen Arzt-Patient-Beziehungen versucht und führt kontraproduktiv und paradox zu einer Aufhebung dieser Beziehung. Evidenzbasierte Medizin ist das Schlagwort, eine „5 Minuten-Medizin“ im ambulanten Bereich als Begriff noch hoch gegriffen.

 

Aber diese und das Verschanzen hinter Computern und Technik hat auch einen tieferen Sinn. Denn dann braucht sich der Arzt nicht mehr uferlos, das nennt sich „Zeitnehmen für seine Patienten“, das Gejammer mancher Patienten anzuhören und sich mit seiner eigenen Hilflosigkeit konfrontieren. Es wird etwas getan! Bei vielen Krankheiten ist einfach nicht zu helfen, bzw. sie nehmen einfach ihren Verlauf. Ich kenne es von mir, bei manchen Patienten stelle ich die Ohren automatisch auf Durchzug. Wenn ich mir jedoch das Hintergrundsgeschehen näher betrachte, tun sie mir leid. Sie wollen mit ihren Symptomen, ihrer Körpersprache, etwas sagen und erreichen das Gegenteil, stoßen auf taube Ohren – ein tragischer interpersoneller Prozeß. Denn schließlich geht es nicht nur mir so. Ich halte diese Form der Beziehung für einen späteren Ausdruck der frühen Umwelt-, meist Mutter-Kindbeziehung. Schon damals konnte die Mutter auf ihr Kind nicht eingehen, zuhören, und dieses nervte sie mit seinem Genöle und Geschrei, sodaß sie noch weniger zuhörte. An dieser Schnittstelle ist die Technikmedizin einerseits die Rettung, vermittelt Hoffnungen, wenn nur daran geglaubt wird, andererseits wird noch weniger zugehört. Je mehr Klagen, um so mehr Technik auf der Suche nach den Ursachen und zur Behandlung.

Aus dieser Intersubjektivität bzw. interpersonellen Beziehung erkläre ich mir die - besonders unter gut verdienenden Ärzten, sie haben schließlich besonders viel zu verlieren -  weit verbreiteten Verarmungsängste. Sind die Ärzte ausschließlich auf die organisch-materialistische Seite der Krankheit des Patienten orientiert, schwingen sie trotzdem mit ihren Gefühlen, unterdrückten oder auch offenen Aggressionen, Ängsten und Sorgen des Patienten mit, diese schwappen sozusagen auf sie über, wie es immer interpersonell geschieht, und sind dem Ansturm ihrer Ängsten hilflos ausgeliefert. Diese Ängste werden zu ihren eigenen Ängsten und können sich als Verlust(Verarmungs)ängste manifestieren. Am Herzphobiker ist diese Intersubjektivität gut zu veranschaulichen. Dieser ist in seinen Herzanfällen und der Angst vor dem Herzinfarkt oft besonders schlecht zu beruhigen. Die Ängste gehen auf den Arzt über und dieser fürchtet fortwährend, doch etwas übersehen zu haben und untersucht und untersucht. Hat er die Schnauze voll, reagiert unter Umständen auf die unterdrückten Aggressionen des Patienten selber aggressiv, wechselt der Patient den Arzt. Für den Arzt führen die unterdrückten Aggressionen, Ängste und Sorgen, die er äußerlich meist mit Sachlichkeit abwehrt, zu einer Überlastung, evtl. einem Burnout-Syndrom, aus der ein besonders hoher Honorierungsanspruch erwächst, parallel zu den Versorgungsansprüchen des Patienten. So werden die Versorgungsansprüche des Patienten zu denen des Arztes.

 

Aus dieser intersubjektiven Beziehungsfalle kann nur ein Paradigmenwechsel führen. Der Arzt betrachtet nicht mehr ausschließlich den Patienten, sondern gleichzeitig sich, wie es ihm selbst dabei ergeht, seine Bilder, Gefühle und Reaktionen, den Handlungsdialog, seine Gegenübertragung im Fachjargon. Diese kann in Balintgruppen (benannt nach dem Arzt Balint „der Arzt als Droge“) oder einer psychotherapeutischen Weiterbildung erlernt werden. Die Gegenübertragung des Arztes kann als wertvolles Diagnostikum für den Patienten  und dessen interpersonelle Beziehungen (siehe oben) dienen und nützt seiner Psychohygiene. Das, was der Patient auf ihn überträgt, wird für ihn faß- und behandelbar. Ich selbst machte mehrfach die Erfahrung, einen schwer organisch Kranken an mir selbst, meinen Gefühlen und meinen Reaktionen zu diagnostizieren: Der Patient ist nicht zu beruhigen, nichts ist ihm recht zu machen, kein Konsens zu finden, überall sieht er nur die Schwierigkeiten und Katastrophen und die Hoffnungslosigkeit geht auch auf mich über. Kein Wunder, daß ein Arzt einen solchen Patienten schnell los werden möchte und mit Technik und Arzneien abspeist.

 

Ebenfalls setzen an diesem Schnittpunkt außerschulmedizinische Verfahren an, oft von Heilpraktikern durchgeführt, wie Homöopathie, chinesische Medizin, Bachblütentherapie, Akkupunktur, Astrologie und vieles mehr, schulmedizinisch für unwirksam erklärt. Dort wird wenigstens versucht zuzuhören und durch andere Krankheits- und Behandlungskonzepte Hoffnung vermittelt, wodurch die Genesung erfolgen kann. Außerdem sind sie wesentlich billiger als die Technikschulmedizin, die voll in der Hand der Interessensgruppen ist. Deswegen wird sie leider wenig von den Krankenkassen übernommen. Aber der Schwerkranke greift nach jedem Strohhalm und wird für alles bereit, jeden Preis zu zahlen, wenn ihm nur die segensreiche Hoffnung vermittelt wird.

 

Und nun zu den Medikamenten: Die Pharmaindustrie bringt immer neuere und teurere Medikamente auf den Markt, vor allem bei Krankheiten, die kaum zu behandeln sind. Man kann schon fast an der Vielzahl darauf schließen, daß diesen Krankheiten schwer beizukommen ist. Wenn sie verkauft werden, prosperiert die Pharmaindustrie und schafft Arbeitsplätze. Dazu wird überall Werbung gemacht und Heere von Pharmavertretern auf die Ärzte los geschickt, manchmal mit unlauteren Mitteln. Aber laut Studien wird nur die Hälfte der verschriebenen und gekauften Medikamente tatsächlich eingenommen - manche glauben sogar – noch weniger - besonders bei manchen Krankheitsbildern ist die Compliance(Mitarbeit)rate äußerst gering. Wenn nur noch die Arzneien verschrieben und verkauft würden, die tatsächlich genommen würden, würde die Pharmaindustrie zusammen krachen und als wichtiger Wirtschaftszweig mit erheblichen Auswirkungen auf die Gesamtindustrie daniederliegen. Also: Zur Aufrechterhaltung der Industrie und der Arbeitsplätze müssen die Patienten die Medikamente wegwerfen. Außerdem ist ja, sollten die Krankheiten medikamentös tatsächlich geheilt werden, nichts mehr zu verkaufen. Aber keine Bange, die gesellschaftliche Produktion von Krankheit läuft unverdrossen weiter. Jeder Arzt, der Hausbesuche macht, kennt die Medikamentenschränkchen von den Arzneien, die noch nicht weggeworfen wurden. Oft braucht er überhaupt nichts mehr verschreiben. Alles ist schon da. Meine Erfahrung!

 

Wie mag es dazu kommen, daß so viele Arzneien nicht eingenommen und später weggeworfen werden? Sicher werden die Pharmaindustrie und die von ihr gesponserten Institute darüber keine Untersuchungen anstellen. Das wäre kontraproduktiv. Ich kann als Erklärung nur Vermutungen anstellen. Die oben angeführten Faktoren (Technikgläubigkeit, Klagsamkeit, Abrechnungssystem, Zeitmangel) spielen sicherlich eine ursächliche Rolle. Die Ärzte sind im Krankheitsgeschehen oft hilflos, wollen ihre Patienten möglichst schnell loswerden, ihnen aber doch etwas Gutes und Hilfreiches auf den Weg mitgeben, das ihnen und den Patienten Hoffnung vermittelt. Schließlich wollen die Ärzte auch hoffen können. Da ist ein Medikament das beste zeitsparende Mittel. Für eine längere Erklärung von Sinn und Zweck haben die Medizinmänner keine Zeit, bekommen diese auch nicht honoriert. Der Patient fühlt sich abgespeist. Und wenn er dann noch im Beipackzettel die lange Latte von möglichen Nebenwirkungen liest, dann ist ihm das Medikament viel zu gefährlich, und er nimmt es lieber nicht. Manche Patienten sehen sogar diese Wirkungen ganz real auf sich zukommen, als wenn sie für die heilsame Wirkung diese negativen Nebenwirkungen in Kauf nehmen müßten. Das erzählt er natürlich nicht seinem Arzt. Er will ihn nicht enttäuschen. Der wird es nie erfahren, wenn er nicht mal bei Hausbesuchen im Medikamentschrank nachschaut. Und welcher Arzt macht noch Hausbesuche, schlecht honorierter Zeitaufwand.

 

Jeder Patient weiß, Wirkungen haben auch Nebenwirkungen, und wie lange diese von der Industrie verschwiegen werden, kommt in Skandalen ab und zu heraus. Denken Sie nur an Contergan, an Nieren- und Herzschädigungen von Medikamenten, die vom Markt zurück gezogen wurden. Also darf der Patient zur eigenen Gesunderhaltung vieles von dem Verschriebenen nicht nehmen. Andererseits können die weggeworfenen Medikamente auch nicht die für die Krankheit dringend notwendige heilsame, hoffnungsvolle Wirkung erzielen und zur Heilung müssen neue verschrieben werden. Dann nimmt er lieber so gering dosierte und wirkungs- und nebenwirkungslose Medikamente wie Homöopathika oder Naturheilpräparate, weil er glaubt, daß die Natur nicht schaden kann, obwohl diese auch Gifte sind, halt natürliche und nicht künstliche.

Sicher sind die Skandale nur Einzelfälle, aber die unaufgedeckten…?  Die segensreiche Wirkung von vielen Arzneien soll damit nicht in Frage gestellt werden. Wenn ich eine Arznei einnahm, habe ich kaum Nebenwirkungen verspürt. Aber weiß das der Patient? Kann er unterscheiden? Er mag viele Krankheitssymptome als Nebenwirkungen und Behandlungsfehler orten. Selbst der Arzt kann bei der Vielzahl keinen Überblick über die Relevanz von Neben- und Wechselwirkungen haben. Auch er weiß, daß Gefährliches im Interesse des Profits lange verschwiegen wird. Wie in allen Bereichen, wo es um viel Geld geht, ist Gesundheitswesen halt Interessenspolitik. Wenn in Berlin nur Veränderungen der Arzneimittelpolitik angedacht werden, stehen die Lobbyisten schon auf der Matte.

 

Aber all diese Faktoren machen das Gesundheitswesen immer teurer und die Kosten steigen der Gesellschaft über den Kopf. Vor allem die zunehmenden Alten mit mehr Alterskrankheiten und –gebrechen sind ein idealer Markt. Ein Allerheilmittel in diesem unausgesprochenen Komplott von Heilern, Patienten und Industrie gibt es nicht. Dazu sind die Interessen zu stark, in diesem komplexen Geschehen viele Seiten unsichtbar und unbewußt, und deswegen ein Konsens schwer zu finden. Es gehört zum Wesen von Krankheit und System Gesundheitswesen. Für Wirtschaft und Industrie gilt es die Nebenkosten von Krankheit zum Ziele der Profitmaximierung möglichst gering zu halten. Die Schere zwischen arm und reich klafft immer weiter auseinander. Die Kranken, die halt für das Pech der Traumatisierung ihrer Kindheit mit dem Krankheitsweg zahlen, werden noch mehr zur Kasse gebeten, Zuzahlungen, Medikamentenausschluß, Praxisgebühr. Sie werden für ihre Krankheiten bestraft, als ob sie nicht durch ihre Beschwerden schon genügend bestraft wären. Dadurch erklärt sich manche Anspruchshaltung. Mal sehen, was noch weiter kommt.

 

Der Leser mag aus den wenigen angeführten Faktoren die Komplexität des Gesundheitswesens erkennen, aus dessen Falle kein Königsweg herausführt. Im Herbst 05 hatte die Industrie- und Handelskammer den bekannten amerikanischen Psychoanalytiker und Psychohistoriker Loyd de Mause zu einem Vortrag in die Börse nach Frankfurt eingeladen. Irgendjemand hatte dort die Einsicht, daß die frühkindliche Erziehung einen großen Einfluß auf die Volksproduktivität ausübt. De Mause ließ sich über die frühkindlichen Prägungen aus und stellte Projekte vor, wo Experten Gespräche mit Müttern auf Säuglingsstationen führten und in Kindergärten gingen.

Aber für oder gegen dieses Gesundheitssystem demonstrieren? Der Versuch eines Interessensausgleichs durch Herumdoktern an Randsymptomen? Im Vergleich mit anderen Völkern haben wir aber vielleicht noch eins der besten Gesundheitssysteme. In anderen Ländern geht es noch knallharter zu. Niemandem soll eine Schuld zugeschrieben werden.

 

Bernd Holstiege

 

Autor: Bernd Holstiege
E-Mail: bernd.holstiege@arcor.de
Abfassungsdatum: 15.05. 2006
Foto: dpa
Verwertung: Weltexpress Ltd.
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 15.05. 2006