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08. March 11 , 12:37
Erst steil nach oben, dann abgestürzt: Karl Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob
Philipp Franz Joseph Sylvester Freiherr von und zu Guttenberg
Das
Ikaros-Syndrom - Höhenflug und Absturz des Märchenprinzen und Hoffnungsträgers
Baron Karl-Theodor zu Guttenberg
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Inzwischen ist KT von allen seinen Ämtern
zurückgetreten, für viele zwei Wochen zu spät, für andere hätte er infolge
seiner Beliebtheit Durchhaltevermögen zeigen und nach Politikermanier die Affäre
aussitzen sollen. Gewettet wird jetzt schon, wann er zurückgekehrt. Der
bisherige Innenminister Thomas de Maizière wurde Nachfolger Guttenbergs als
Verteidigungsminister. Als nichts mehr zu vertuschen war, hatte KT
scheibchenweise seine Verfehlungen, wie meist in Politik, Wirtschaft und
Dopingspitzensport üblich, zugegeben. Oder hat er doch noch einiges
verschwiegen? Seine Doktorarbeit habe er selbst geschrieben, aber den
Vermutungen, dass er sie von einem Ghostwriter habe schreiben lassen, nichts
entgegengesetzt. Wahrscheinlich wäre seine Bloßstellung noch größer gewesen. Die
Wellen der Aufregung der Nation schlagen hoch, nicht ohne Grund, denn diese
Affäre führt mitten ins Herz der Nation und hat etwas Grundsätzliches. Warum ist
er so plötzlich zurückgetreten? Ist er ein Betrüger oder ein Märtyrer?
Beides, da das simple "Entweder-Oder" beziehungsweise der Dualismus in der
Gesellschaft und vor allem den Medien weit verbreitet ist, weniger eine komplexe
und integrative Weltsicht. Im Lichte und nach den offiziellen Regeln der
Wissenschaft ist er ein Betrüger, nach dem Grad der Verbreitung von Lügen,
Betrug, Blendertum, Scheinheiligkeit, Korruption und Doppelmoral ist er ein
Bauernopfer oder ein Märtyrer, der seinen Kopf für viele andere hinhalten muss.
Gerade im Spitzenbereich in allen Teilen der Gesellschaft sind diese
Verhaltensweisen weit verbreitet, da es dort um Erfolg, Status, aus dem
Gewöhnlichen hervorzutreten und dies zu übertreffen, geht. Insofern ist zu
Guttenberg kein Einzelfall. In dieser Welt werden vielfach der tolle Eindruck,
das Image und das glanzvolle Äußere mit dem Inneren gleichgesetzt. An seiner
prominenten Person sollen die ehernen Regeln und Normen der Wissenschaft und die
Glaubwürdigkeit, die oft so wenig bestehen, wiederhergestellt werden.
Abschreiben schon in der Schule und Plagiate finden sich überall. Dadurch werden
sich Vorteile erhofft und oft genug errungen. Der Doktor- und Professorentitel
kann auch zu dem äußeren Status und Schein gehören.
Im griechischen Mythos fliehen Dädalos und Ikaros aus dem kretischen Gefängnis,
und der Sohn Ikaros schwingt sich gegen die Anweisungen seines Vaters im Übermut
bis zur Sonne hoch, sein Wachs schmilzt, und er stürzt ab. Ein Sprichwort
heisst:"Übermut tut selten gut". Das temperaturempfindliche Wachs bildet den
Zusammenhalt seiner Schwingen, und somit ist das Emporschwingen in der
Gesellschaft mit dem Absturz gefährdet. In der Überschrift habe ich nicht
Ikarosflug, sondern bewusst Ikaros-Syndrom gewählt, da dies Verhalten nicht nur
im alten Griechenland, sondern aktuell weit verbreitet ist und als Syndrom
vielfältig bedingt ist. Nach dem Peter-Prinzip steigt jeder in der Hierarchie
soweit auf, bis er seine Unfähigkeit beweist.
Wieso mag KT als Quereinsteiger in die Politik sich so nahtlos empor geschwungen
haben, dass er abstürzen musste? Ein Mensch ist nicht ohne seinen biografischen
Hintergrund zu sehen. In der Familie zu Guttenberg gab es offenbar einige
Brüche, bei den Vorfahren die Opposition des Sohnes gegen den Vater, die Flucht
der Mutter, und so ist zu vermuten, dass der Sohn die Ehre der Familie nach
außen darstellen und wieder aufrichten musste. Dieser Familientagauftrag ist
eine Art Gefängnis. Andererseits hat KT anscheinend aus dieser Familie vor allem
von seinem Vater, dem Dirigenten, seine Eigenschaften übernommen und geerbt, die
in einer verunsicherten Gesellschaft erstrebenswerte Tugenden darstellen:
Elitebewusstsein, laute Töne, ein äußeres Auftreten der Entschlossenheit,
Geradlinigkeit, Entscheidungsfreudigkeit und militärische Schneidigkeit.
Deswegen erschien er als Verteidigungsminister ideal. Sein Habitus wurde zwar
vielfach als Blendung oder Attitüde wahrgenommen, aber bei einem Großteil der
Gesellschaft kam das gut an. Er schien alles zu haben, was ein Held braucht:
Charisma, Verführungskraft, adeligen Stammbaum, Vermögen, eine schöne Frau und
ein großes Amt.
Wie sehr der Schein in der Gesellschaft verbreitet ist, zeigt die Tatsache, dass
viele sich beim Kauf von Luxusautos in Schulden stürzen, um ihren Status und
Erfolg zu zeigen. Aber nicht nur bei uns, vor über 10 Jahren hatte ich einen
Patienten, der mit einer Thailänderin verheiratet war. Diese hatte aus erster
Ehe eine Tochter, die in einem Geldverleih arbeitete. Diese erzählte, dass in
Thailand die Geldverleihe wie Pilze aus dem Boden sprießen, weil alle sich mit
Gold behängen. Geld auf der Bank könne man ja nicht sehen. Bald darauf krachte
die Wirtschaft in Südostasien zusammen - vielleicht deswegen, weil alle über
ihre Verhältnisse lebten. Schein und Gold sind halt ein schlechtes Wachs für das
Gegenteil. Im deutschen Märchen "Des Kaisers neue Kleider" entdeckt nur ein
unvoreingenommenes Kind, dass der Kaiser nackt ist.
In der Realität ist Politik oft ein mühsames Geschäft. Es gilt, zwischen
verschiedenen gegensätzlichen und widersprüchlichen Interessensgruppen zu
vermitteln und einen Konsens zu finden, wobei oft mit harten Bandagen gekämpft
wird. Entscheidungen benötigen Zeiträume und Abwägen der verschiedenen
Gesichtspunkte. Stillstände und Rückschritte gehören dazu, und die Zukunft ist
oft unabwägbar. Entscheidungen können sich als ungünstig herausstellen und
werden dann von weiten Teilen der Bevölkerung als falsch hingestellt. Dabei wird
oft das Ergebnis der Entscheidung als Maßstab genommen, das man vorher ja noch
nicht wissen konnte, und nicht der Zeitpunkt, wo jemand unter einer Vielzahl von
Gesichtspunkten nach bestem Wissen entschied. Diese Tatsachen werden von vielen
aber nicht akzeptiert, sie erhoffen sich Klarheit und Eindeutigkeit und zwar für
alle Zukunft. Dafür werden die Politiker gewählt. Eine Illusion wird gewählt,
die viele Politiker in ihren Wahlversprechen zu vermitteln versuchen. Das konnte
Baron zu Guttenberg besonders gut. Nach dem Peters-Prinzip wäre er bei der
Bundeswehrreform wohl überfordert gewesen, hätte zu viel Gegenwind gespürt, und
einem kurz entschlossenen Menschen hätte wohl der lange Atem gefehlt.
Offenbar hatte er eine schwierige Kindheit, deren Folge eine narzisstische
Persönlichkeit sein kann. Dem Narzissten kann es gelingen, bei einem Kern der
inneren Verletzung oder Traumatisierung als der Blender aufzutreten. Im Spiegel
der Umwelt sucht er sein verwundetes Selbst zu korrigieren. KT’s Lebenslauf war
schon geschönt, fortgesetzt in einem Doktortitel und in einer politischen
Shootingstar-Karriere. Dies war aber nur möglich, weil sein Auftreten wie in
einer Schloss-Schlüssel-Situation auf passende gesellschaftliche Mechanismen
traf. Die FAZ-Autoren Eckhart Lohse und Markus Wehner haben ein Buch zum
Phänomen zu Guttenberg geschrieben, dass manches verstehen lässt, ohne dass sie
vorher die Realisierung in der Zukunft kannten.
Möglicherweise war der letzte Anlass zu seinem plötzlichen Rücktritt eine
Unterschriftensammlung und die Empörung von meist jungen Akademikern, die nach
wissenschaftlichen Kriterien in mühsamer, ehrlicher Kleinarbeit ihren
Doktortitel erarbeiten. Nach dieser demütigenden Bloßstellung ihrer mühsamen
Arbeit gilt es für sie, die Ehre der Wissenschaft, die Echtheit des Doktortitels
und die symbolische Ordnung wiederherzustellen. An den Universitäten sind meist
ein autoritäres Klima und eine strenge Hierarchie üblich. Der Student und
wissenschaftliche Mitarbeiter muss sich an die Vorgaben halten und die Arbeit
für den Professor machen, der sich dann oft mit den Erfolgen schmückt. Wer empor
gestiegen ist, nutzt später seine Studenten nach diesen Regeln aus. In diesem
Kontext ist ein Unterlaufen der Normen nahe liegend.
In meinen Augen ist bei einer rigiden normativen Moral der einzige Ausweg von
Freiheit und Selbstbestimmung die Doppelmoral. Gleichzeitig bleibt in ihr die
Moral erhalten. Sie findet sich in allen gesellschaftlichen Bereichen, ob in
Politik, Wirtschaft, Ehepaarsituation, deswegen das Rotlichtmilieu, Sport oder
in der Religion. Die Doppelmoral in der Kirche und an Eliteschulen beim
sexuellen Missbrauch beherrschte kürzlich die Schlagzeilen. An den Universitäten
ist es nicht anders. Der Professoren- und der Doktortitel haben hohes
gesellschaftliches Ansehen, teilweise als bare Münze ausgezahlt, so dass für
manche jedes Mittel recht ist. Die Doppelmoral hat in einer Art Subkultur ebenso
normativen Charakter, so dass es für viele völlig üblich und normal erscheint,
Ideenklau ohne Kennzeichnung zu betreiben oder für Spitzensportler zu dopen.
Deswegen hat sich KT auch wohl nicht viel dabei gedacht, den Großteil seiner
Doktorarbeit abzuschreiben oder sogar einen Ghostwriter zu beauftragen. Sein
Vertrauen in den Ghostwriter war anscheinend so groß oder seine Zeit zu gering,
dass er diesen nicht mal überprüfte, ebenso das Vertrauen seines Doktorvaters,
der Prüfungskommission und der Universität in das Aushängeschild und indirekten
Sponsors, auf dem Wege über die Rhön AG, für die Universität. Durch diesen
Status war er unantastbar, konnte auch nicht damit rechnen aufzufallen, hatte
aber das Pech, dass ihm ein Jurist zufällig auf die Schliche kam, die Sache
publik machte und die Affäre ins Rollen brachte. Das wenig widerstandsfähige
Wachs seiner Flügel, das einer vermutlich narzisstischen Persönlichkeit, schmolz
in der Hitze des Gefechtes.
Zurück zur Schloss-Schlüssel-Situation. Ich führe zuerst das Schloss an, da der
Schlüssel nur hinein gesteckt werden muss. Da die meisten Politiker nicht so
grandios erscheinen und ihre Politik für viele nicht das Gelbe vom Ei ist, viele
in der Bevölkerung in einer als schwierig empfundenen Situation leben, warten
sie auf einen Hoffnungsträger und Erlöser. Den Erlösungswunsch schien KT zu
erfüllen. In deutschen Märchen ist es der Märchenprinz. Im christlichen Mythos,
für viele eine Religion und Grundlage unserer christlichen Kultur, ist dieser
Sachverhalt in der Erlösung durch Jesus Christus aus dem irdischen Jammertal
beschrieben. Als Mensch, der von sich behauptet „ich bin der Weg und die
Wahrheit", wurde Jesus gekreuzigt, als Rechthaber im Widerspruch zu anderen
Rechthabern, in den Augen mancher zu recht, da der Absolutismus und
Totalitarismus viel Unglück über die Welt bringt - deswegen ja die Demokratie,
die Herrschaft und der Konsens der Vielfalt.
Als irdisches Jammertal kann man sich die Zunahme von Angstkrankheiten,
Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen und chronischen Erkrankungen
vorstellen, denen die Medizin ziemlich machtlos gegenübersteht. Angst erfordert
Sicherheit und Entschlossenheit, und die Sicherheit schien KT zu verkörpern. Da
die Sicherheit in den Unwägbarkeiten des Lebens nur eine Illusion ist, muss sie
enttäuscht werden. Und diese Enttäuschung macht sich an einer kleinen Stelle
fest, die an sich im Rahmen der großen Politik unerheblich ist, wie im Mythos
bei Jung-Siegfried und Achill. Aber ein Mensch ist in verschiedenen Bereichen
wie in Politik und Wissenschaft derselbe Mensch und wird deswegen insgesamt
unglaubwürdig, ähnlich wie Siegfried und Achill nicht unverletzlich sein können.
Deswegen ist die Aussage von Angela Merkel, sie habe einen Politiker und nicht
einen Wissenschaftler angestellt, ziemlich daneben und diente wohl mehr der
Erhaltung ihres Politikstars und der Wählerstimmen.
Anhand von KT sieht sich die Wissenschaft in ihren Fälschungen ertappt. Nicht
nur in der Wissenschaft wird gelogen, betrogen, korrumpiert, herrscht
Doppelmoral, was an einer einzelnen Person, gerade weil er ein Hoffnungsträger
bei der Flucht aus dem Gefängnis war, festgemacht und an ihm bestraft wird.
Insofern ist er ein Bauernopfer und Märtyrer. An ihm soll die Ehre, die
Wissenschaftsgläubigkeit und der Höhenflug der Wissenschaft, einem anderen
Hoffnungsträger, mit Ehre und Titeln verbunden, wiederhergestellt werden.
Symbolisch wird die nicht vorhandene Ordnung erneuert, damit alle so
weitermachen können wie bisher. Schließlich beinhaltet die strenge Moral auch
die Doppelmoral. Der Glaube an die Wissenschaft und das Image sollen erhalten
bleiben. Andererseits und deswegen herrscht eine Wissenschaftsfeindlichkeit, vor
allem bei Menschen, die bei ihrem hohen Glauben an die Wissenschaft enttäuscht
wurden und denen diese wenig helfen konnte, ähnlich wie wenn sie von Gott
enttäuscht wurden.
In all diesen Erwartungen und Hoffnungen ist ein einzelner Mensch überfordert
und überfrachtet. Auch müssen sie nicht seine eigenen Lebensziele sein, sondern
er übernimmt fremdes, verliert dadurch sich selbst und seinen eigenen Lebensweg.
Bei einer gelungenen Kindheit trägt die Übernahme anderer und die
Identifizierung mit diesen zu einer selbstakzeptierten Persönlichkeit bei, die
Verfälschungen gar nicht nötig hat.. Seine Tragik ist zusätzlich, dass KT durch
Erfolg, Ruhm und Ehre noch in diesem Lebensweg, einem falschen Weg und falschen
Selbst, gefördert wird. Ein Narzisst erscheint durch dieses falsche Selbst
unglaubwürdig. Er ist ja nicht echt, ist nicht sein eigene Herr, sondern sich
selbst fremd. Diese Weichen wurden schon in der Kindheit gestellt, einem
Schicksal, das er mit vielen Menschen teilt. Deswegen werden diese ungeliebten
und gehassten Selbstanteile von diesen vielen Menschen auf ihn projiziert und an
ihm bekämpft. Er ist Hoffnungsträger und Sündenbock zugleich und die Nation an
seiner Person gespalten.
Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. KT bemühte sich in seinem Lebensweg,
alle hoch gestochenen, elitären Erwartungen zu erfüllen, und was ist der Dank?
Ähnlich ergeht es vielen Kranken, deswegen sind sie erkrankt. Alle schlagen auf
ihn ein bis auf die, die ihn weiter aus politischen oder inneren persönlichen
Gründen als Hoffnungsträger benötigen. Unterstellen möchte ich Jesus Christus,
dass er unter diesen Lebensbedingungen keine Lust mehr hatte weiterzuleben und
an seinem Tod mitwirkte. KT wird auch keine Lust mehr haben, bei soviel
Gegenwind weiterzumachen und ist zurückgetreten. Manch Depressiver, der
versucht, alle Erwartungen zu erfüllen, wählt den Selbstmord und erhofft sich
dadurch ein neues Glück, die Wiederauferstehung. Na ja, nicht jeder Leser wird
diese tiefenpsychologischen Erkenntnisse, es sind ja nur Auszüge und meine
Perspektiven, verstehen und teilen. Man mag weiter nach dem Äußeren urteilen,
dieses für den Kern und das Innere halten und auf den Erlöser warten.
Von Bernd Holstiege