Inzest nach wie vor gesetzeswidrig
Ist Inzest so traumatisch, daß er in allen zivilisierten
Kulturen geächtet werden muß?
Karlsruhe
entscheidet.
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Schon im Inzestbegriff „Blutschande“ kommt die
gesellschaftliche Ächtung zum Ausdruck. In einem Wort vermischen sich Blut und
Schande und verstärken sich gegenseitig. Im Strafgesetzbuch stellt Paragraph 173
Beischlaf unter leiblichen Verwandten unter Strafe bis zu zwei Jahren.
Unter der Überschrift „Verbotene Liebe – Ein Halbgeschwister-Paar lebt seit
Jahren gesetzeswidrig zusammen / Hoffnung auf das Verfassungsgericht, das den
Inzestparagraphen kippen soll“ beschreibt Jutta Rippegather am 16. Februar 2008
in der Frankfurter Rundschau den weithin bekannt gewordenen Fall: Der 30 jährige
Patrick S. hat mit seiner sieben Jahre jüngeren Halbschwester, mit der er nicht
zusammen aufgewachsen war und sie erst als Erwachsener kennen gelernt hatte,
vier Kinder. Die Mutter gewordene Schwester war beim ersten Kind noch
minderjährig. Das Amtsgericht Leipzig hatte S. zu zwei Jahren Haftstrafe
verurteilt. Zwei Jahre hat er wegen des verbotenen Beischlafes zwischen
Verwandten die Strafe abgesessen. Die Autorin berichtet auch von einem anderen
Fall eines Halbgeschwisterpaares, das seit 35 Jahren zusammen lebt, 6 Kinder und
elf Enkelkinder hat, aber nicht angeklagt wurde, da sie mit Tricks arbeiteten,
damit ihnen die Behörden nicht auf die Schliche kamen. Bei allen Kindern gab die
Mutter an „Vater unbekannt“.
Um den Inzestparagraphen zu kippen, rief Anwalt der Halbgeschwister das
Verfassungsgericht in Karlsruhe an. Über das Urteil berichtete Ursula Knapp am
14. März 2008 ebenfalls in der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift
„Geschwistersex bleibt verboten – Verfassungsgericht hält trotz Sondervotum an
Strafe für Inzest fest / Patrick S. will in Straßburg klagen“. Das Gericht
erklärte mit sieben zu einer Stimme den Strafparagraphen für verfassungsgemäß.
Es stützte seine Entscheidung auf vier zentrale Argumente: Wahrung der
familiären Ordnung, Schutz des schwächeren Partners, Vermeidung genetisch
bedingter Erkrankungen der Abkömmlinge und in der Gesellschaft verankertes
Inzesttabu. Das Gericht führte Studien an, nach denen es bei Verbindungen
zwischen Geschwistern zu familiären und sozial schädigenden Auswirkungen kommen
könne. Auch kulturhistorisch sei das Gesetz gerechtfertigt und in vielen
Gesellschaften strafwürdig. Das Strafgesetz diene auch dem Schutz vor familiären
Übergriffen. Das Gericht führt weiter an, die Kinder von Patrick S. seien teils
behindert, seine Halbschwester sei leicht behindert und leide unter einer
Persönlichkeitsstörung.
In seinem Sondervotum hielt der Vizepräsident des Gerichts, Winfried Hassemer,
den Paragraphen 173 im Strafgesetzbuch für widersprüchlich und
unverhältnismäßig. Homosexuelle Beziehungen unter Geschwistern würden ebenso
wenig bestraft wie Sex unter Minderjährigen. Viel spreche dafür, daß das Gesetz
lediglich Moralvorstellungen, nicht aber ein konkretes Rechtsgut im Auge habe.
Der Rechtsexperte der Grünen, Jerzy Montag, hält es für nicht nachvollziehbar,
warum erwachsene, sich liebende Menschen keinen Geschlechtsverkehr miteinander
haben dürften. Der Rechtsexperte der Linken, Wolfgang Neskovic, fand
unverständlich, daß das Gericht auch eugenische Maßstäbe berücksichtige. Für von
Frauen über 40 Jahren und von Behinderten geborene Kinder gebe es ebenfalls
verstärkt die Gefahr von Krankheiten. Glücklicherweise käme niemand auf die
Idee, hier Strafnormen einzuführen.
Für den Leiter der Abteilung für Humangenetik der Universität Frankfurt ist das
Risiko von genetischen Krankheiten geringfügig erhöht. Wenn medizinische Gründe
gegen eine solche Beziehung sprächen, müßte man allen Menschen mit genetischem
Risiko die Fortpflanzung verbieten. Der Anwalt der Kläger pocht auf das Recht
der sexuellen Selbstbestimmung und läßt den Schutz der Familie nicht gelten, da
Inzest nicht die Ursache, sondern die Folge einer gestörten Familie sei. Auch
ein Juraprofessor aus Gießen spricht vom Urteil als einem „Konglomerat“, in dem
auch Vorstellung von sozialer Hygiene ein Rolle spielen, die zeitlich überholt
seien. Zwar sei in den 70ern bei der Strafrechtsreform die Strafe für
Homosexualität entfallen, aber nicht die des Inzests. Inzest sei ein ganz
starkes Tabu, das mit dem traditionellen Familienbild zusammen hänge.
Unser Inzestparagraph setzt nur den genitalen Beischlaf unter Strafe. Andere
Formen der Sexualität außerhalb der genitalen Norm werden nicht bestraft.
Historisch war Inzest vor allem in polytheistischen Kulturen verbreitet. Bei den
ägyptischen Pharaonen war die Geschwisterehe sogar die Norm, da Gottgleiche nur
unter ihresgleichen heiraten durften. Erst mit dem Aufkommen der
monotheistischen Kulturen und der Kulturen, die sich dem Monotheismus öffneten
wie die Griechen und Römer, wurde der Inzest als Blutschande tabuisiert. Die
Vielfältigkeit der Götterwelt, in der sich die Menschen in ihrem Verhalten wider
spiegelten, wurde im Monotheismus auf einen Gott reduziert, ebenso wie das
sexuelle Verhalten in strenge Regeln und Normen kanalisiert wurde. Jedoch, in
der späteren europäischen Geschichte im europäischen Hochadel war die „Vetternehe“
mehr Regel als Ausnahme. Die früher verbreiteten Ehen im Hochadel wie auch die
Verwandtschaftsehen der Habsburger, ebenso wie Eheschließungen in abgelegenen,
ländlichen und abgeschotteten Gegenden oder Auslandsgemeinden, wo nur innerhalb
eines engen personalen Bereiches geheiratet werden konnte, werden als Inzucht
bezeichnet. Inzest dagegen ist als Beischlaf innerhalb einer Familie definiert.
Für jegliche strenge Ordnung und Gesetzesbildung stellen traumatische
Erfahrungen, hier die sexuelle traumatische Erfahrung, den Hintergrund dar, die
nach den Gesetzen der Traumatisierung als Bedrohungen in der Zukunft gefürchtet
werden. Mit der familiären Ordnung, dem Schutz der Familie und des Schwächeren
und der Tradition argumentieren auch die Karlsruher Richter zur
Gesetzeserhaltung. In der häufigsten Form von Inzest, dem sexuellen Mißbrauch
innerhalb der Familie, meist vom Vater zur Tochter, ist der Schutz innerhalb der
Familie durchbrochen und aufgehoben, und wird der Schwächere ausgebeutet. Wegen
dessen schwerer traumatischer Folgen ist sicherlich das Inzestverbot berechtigt
und darauf zielt es ab. Der sexuelle Missbrauch ist stark verbreitet, noch
vielfach tabuisiert und bleibt meist unausgesprochen. Diese Unaussprechlichkeit
erhöht den Charakter der Bedrohung. Verleugnete und tabuisierte Inhalte werden
jedoch häufig in andere harmlosere Inhalte projiziert und dort gefürchtet, so
daß oft ein Nebeneinander von Verleugnung und Dramatisierung besteht, und man
berechtigt von einem Konglomerat von Motiven sprechen kann.
Hinsichtlich genetischer Erkrankungen von Geschwistern und deren Kindern haben
sicherlich viele die Bilder schwachsinniger, behinderter Kretins endemischer
Gebiete wie in manchen abgelegenen Alpentälern vor Augen. Diese Bilder sind
jedoch Folge von traditioneller über Generationen hinweg befolgter Inzucht
innerhalb kleiner Bevölkerungsgruppen, wobei es leicht zu einer Potenzierung
ungünstiger genetischer Faktoren kommen kann. Das Risiko für Erbstörungen durch
Inzest ist bisher wenig erforscht und durch Daten belegt. Außerdem spielt in der
traditionell naturwissenschaftlich orientierten Medizin eine Rolle, daß die
komplexen bio-psycho-sozialen Gründe von Krankheiten in der Erbanlage gesucht,
gefunden und auf diese reduziert werden, deswegen auch der ungeheure Aufwand der
Entschlüsselung der Gene in der Hoffnung, viele Krankheiten zu heilen. Durch
diese medizinische Reduktion wandelt sich eine Art sozialer Hygiene, die jedoch
nicht gesetzlich erfaßt und strafbar ist, sozusagen in eine Art Hygiene der
Vererbung, das heißt, daß auch in die Vererbung von Anlagen Hygienemaßtäbe, also
eine Eugenik, einfließen, wodurch gute Eigenschaften gefördert und schlechte
eliminiert werden sollen. Man könnte jedoch der Auffassung sein, die Gründe für
die Behinderungen der Kinder von Patrick S. sind wohl vorrangig auf die
Persönlichkeitsstörungen der Mutter, eventuell beider Eltern, die in allen
Familien auftreten können, und weniger auf den Inzest zurückzuführen. Vom
Gericht vermerkt wurde, daß der Bruder und Vater seine Halbschwester und Mutter
der gemeinsamen Kinder geschlagen hatte, und sie während seiner Haft mit einem
wesentlich älteren Mann ein Kind gezeugt hatte, das Gericht also von einer
schwachen, vom Bruder bei dessen Anwesenheit stark beeinflußter Persönlichkeit
ausging.
Der Verdacht der Eugenik durch den Rechtsexperten der Linken ist durchaus
naheliegend. Jedoch, hinsichtlich der Eugenik sind wir Deutsche in unserer
neueren Geschichte gebrannte Kinder. Im Nazireich wurden im Namen der Eugenik
Homosexuelle, psychisch und Geisteskranke vielfach ermordet. Mit dem Ende des
Nazireiches ist dieser Zeitgeist jedoch nicht völlig verschwunden, sondern er
lebt als Geist früherer Zeiten im allgemeinen im Untergrund weiter fort und kann
möglicherweise im Inzestparagraphen erhalten bleiben. Allein das Wort
„Blutschande“ suggeriert den Charakter der Schande und Verwerflichkeit, somit
Strafwürdigkeit, und weist auf die traditionelle Bewertung hin, wurde aber im 3.
Reich auch als Rassenschande synonym gesetzt.
Die beiden oben angeführten Halbgeschwisterpaare haben sich als Erwachsenen
kennen gelernt, als der Bruder erwachsen, die Schwester selbst bei der Geburt
des 1. Kindes noch minderjährig war, und sind eine Liebesbeziehung eingegangen.
Unter gemeinsam aufgewachsenen Geschwistern ist normalerweise die erotische und
sexuelle Anziehungskraft gering, und Beziehungspartner werden außerhalb gesucht.
In gestörten, traumatisierten Familien ist jedoch die Selbstentfaltung nach
außen oft erheblich gestört, so daß Beziehungspartner, auch erotischer und
sexueller Natur, innerhalb der Familie gesucht werden. Die Traumatisierung im
Sinne von Ohnmacht, Auslieferung und Demütigung wird oft in Stärke und Macht
über andere Schwache und Hilflose umgewandelt, wodurch die Ausbeutung entsteht.
Infolge dieser Erfahrung der häufigsten Form des Inzest, meist vom Vater zur
Tochter, aber auch von der Mutter zum Sohn – diese Beziehung ist aber
gesellschaftlich wegen der Behaftung mit Scham noch stärker tabuisiert. Ich
hatte sogar einen Patienten, der sich nicht wehren konnte, nach der Pubertät mit
seiner Großmutter zu schlafen - und sicherlich innerhalb der Geschwister, so daß
sich bei der Beurteilung des Inzest die Geister scheiden. Viele, vor allem
Frauen, sehen im Inzest die Macht des Mannes und dessen Ausbeutung, den
schlagenden und mißbrauchenden Halbgott, weniger seine dahinter stehende
Ohnmacht und Angst.
Die Gefahr der Vererbung kranker Erbanlagen ist wohl bei den beiden
Halbgeschwisterpaaren zu vernachlässigen. Beide stießen bei ihren jeweiligen
Familien auf große Widerstände und Abwehr. Durch die Stigmatisierung jedoch
entsteht eine psychosoziale Kontrolle, in der die Familie und ihre Kinder mit
Argusaugen argwöhnisch beobachtet werden, und jegliche Auffälligkeiten und
Abnormitäten, die sonst unter den Tisch fallen würden, auf den Inzest
zurückgeführt werden. Durch diese argwöhnische Beobachtung können außerdem
wiederum im Sinne einer sichselbsterfüllenden Prophezeiung Auffälligkeiten
hervorgerufen werden, die ansonsten nicht aufgetreten wären.
Hier scheiden sich die Geister unserer beiden Autoren.
Bernd Holstiege endet: Bei der Aufrechterhaltung des Paragraphen spielen
offensichtlich traditionell verankerte Bilder von Schande, ein gesellschaftlich
traditionell verankertes Tabu, Bilder der realen aktuellen Erfahrung des
sexuellen Mißbrauchs, der heilen Familie auf dem Hintergrund vieler unheiler
Familien, der körperlichen Vererbung und Hygiene eine tragende Rolle und werden
differenzierungslos, rational wenig begründbar, auf alles, was irgendwie wie
Inzest aussieht, übertragen und dort bestraft. Dabei werden entsprechend dem
Gerichtsurteil viel zu sehr die körperliche Seite und weniger die psychosozialen
Verhältnisse wie in den beiden obigen Fällen im Vordergrund gesehen, in denen
Erwachsene sich trafen, die sich vorher nicht kannten und unter verschiedenen
Bedingungen aufgewachsen sind. Unserer Ansicht nach spielen diese psychosozialen
Verhältnisse, die gemeinsamen Prägungen und deren Potenzierung in einem engen
Milieu eine wesentlich stärkere Rolle bei der Entstehung von Krankheiten als die
gemeinsame aufeinander treffende Erbanlage. Wir sehen den Sinn des
Inzestparagraphen hintergründig in der Ausbeutung von Minderjährigen und
Abhängigen, also dem sexuellen Mißbrauch, der jedoch auch außerhalb der Familie
etwa bei Päderasten ausgeübt wird.
Für die Bestrafung des sexuellen Mißbrauchs sind genügend Strafgesetze
vorhanden, um Beschädigungen von Menschen, die der Inzestparagraph verhindern
will, abzuwehren, so daß kein Inzestparagraph notwendig erscheint. Will man ihn
trotzdem aufrecht erhalten, sollte man ihn unserer Ansicht nach auf diese
Ausbeutung eingrenzen und nicht differenzierungslos anwenden.
Claudia Schulmerich dagegen meint: Durch einen Wegfall des Inzestparagraphen
entsteht gesellschaftlich eine Situation, die geradezu als Fanal verstanden
werden dürfte, dies, d.h. den Inzest praktizieren zu dürfen, ja zu sollen,
analog der Bedeutung des Wegfalls des §175, der Homosexualität verboten hatte.
So sinnvoll dieser Wegfall gesellschaftlich war, so fatal wäre ein
Außerkraftsetzen des Inzestparagraphen. Wie es der vorliegende Fall des
erwachsenen Bruders und der bei Aufnahme der sexuellen Beziehung wohl
16-17jährigen Schwester zeigt, sind es vor allem die Frauen, die im Inzest von
den erfahrenen Vätern und Brüdern ‚geleitet’ werden. In dieser familiären
Grauzone müssen weibliche Wesen einen besonderen Schutz des Gesetzgebers
genießen, den sogar das bestehende Inzestverbot nicht ausreichend gewährleistet.
Was also wäre nach einem Wegfall zu erwarten?
Mich leitet bei der notwendigen Aufrechterhaltung des Inzestparagraphen aber
darüber hinaus ein anderer Beweggrund. Das sind die aus einer
Geschwisterbeziehung stammenden Kinder. Welche Traumatisierung bringen für diese
Kinder Geschwistereltern mit sich. Diese Kinder müssen sich in einer
Gesellschaft, in der Kinder mit Vater und Mutter und deren jeweiligen Eltern,
also insgesamt vier Großeltern, aufwachsen als völlig anormal empfinden. Sie
haben zudem eine auf diese zwei - oder wie im Falle von Halbgeschwistern drei -
Großeltern reduzierte Familiengeschichte. Wer weiß, wie notwendig im kindlichen
emotionalen Lernen gerade diese Differenzierung von Vater und Mutter und deren
Eltern ist – jeder von uns hatte zu jedem der vier Großeltern, so er sie noch
erlebte, eine eigene, andere Beziehung, die eine mochte man lieber als die
andere -, der weiß, wie eng das familiäre Netz für solche Kinder wird, denen man
mit der Wegnahme der halben Familiengeschichte auch die Zukunft determiniert,
beispielsweise, dies später den eigenen Kindern erzählen zu müssen. Es ist sehr
modern geworden, so zu tun, als ob jeder Erwachsene tun und lassen könne, was er
wolle. Und es wird dauernd bei dem Anspruch, total liberal sein zu sollen, die ‚political
correctnis’ in Anspruch genommen. Dagegen meinen wir, daß es politisch korrekt
ist, den Inzestparagraphen, so wie er ist, aufrecht zu erhalten.
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 19.04. 2008
Foto: ©
Verwertung: Weltexpress
Alle Rechte beim Autor
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 19.04. 2008