Weltexpress International
03. Dezember 15 , 11:12
Wie sag ich's meinem
Kinde? -
dem Kinde in mir selbst!
- Mein latentes, allmächtiges Größenbild
Serie: Über die Diskrepanz der frühkindlichen Erfahrungen
und Wahrnehmungen und dem späteren Erleben und der späteren Wahrnehmung (Teil
2/3)
Kategorie: Wissenschaft, Aktuell, Mensch, Leib & Seele
© dapd
Lassen wir wieder den Patienten zu Wort kommen, dem
Versicherungsangestellten, zu Wort, wie sein verbales Innenleben abläuft.
Beruflich funktioniert er sehr gut, so dass die Versicherung ihm sogar über
Klinikaufenthalte und Krankheitszeiten die Treue hielt. Man hatte dank ihm
einen Juristen gespart. Seine Persönlichkeit war sozusagen geteilt, einmal
der oberflächlich funktionierende oder funktionale Anteil, und darunter auf
einer tieferen Ebene das Kind, das früher nicht wusste, was mit ihm los war,
und von Schmerzen, Verkrampfungen und Verspannungen, Schwindel und andere
Symptome geplagt wurde. Während der Therapie wurden ihm die Zusammenhänge
zwischen beiden Teilen klarer.
„Ich habe die Eltern allmächtig erlebt. Die Verkrampfung, die Wut heißt, ich
muss mich gegen die allmächtigen Eltern wehren, gegen die Familie wehren,
überall wehren, ich müsste Stärke zeigen, nur richtig wollen. Bei mir ist
drin, es sind meine Schuld und mein Versagen, wenn ich es nicht richtig
mache. Ich muss nur richtig machen, mich anstrengen. Die Mutter wollte auch
alles richtig machen, hat sich angestrengt, dann ich ebenfalls. Wenn sie
sich nicht so angestrengt hätte, dann hätte ich es auch nicht. Ich muss es
auch richtig machen, weil ich, wie ich bin, ist es nicht richtig. In mir ist
immer noch, ich bin noch Makel behaftet, muss den Makel beseitigen bzw.
wiedergutmachen. An mir darf man nichts sehen, merken, wie ich bin, ich muss
das rein waschen. Das ist was, worüber man besser nicht redet und es
verbirgt, da steckt ein Makel mit drin. Das schwebt über allem. Die ewige
Anstrengung ist wie eine Sisyphusarbeit. Ich glaube das tatsächlich. Es tut
weh, anstrengend zu leben. Ich will das, kämpfe dagegen an, und dadurch, daß
ich dagegen ankämpfe, das vermehrt den Schmerz. Dann kommt der Wunsch, der
Stärkste zu sein, wenn ich nur richtig dagegen bin, stärker als alle anderen
zu sein.
Ja, es darf mir nicht gut gehen, das ist ein Mechanismus, der mir das
verbietet. Der Makel, der über meinen Eltern und mir liegt, den ich
verbergen muss und dadurch erkenne ich ihn an. Es wurde vermittelt, das
fällt mir schwer anzuerkennen, ich muss stärker sein, mich sträuben und
wehren, und ich bin unbeeinflusst und stehe darüber. Dazu gehört, dass es
mich in meiner Sexualität einschränkt, dass ich an was glaube, was ich
verinnerlicht habe. Die Sexualität hat nach diesem Bild schlechte Folgen,
bringt Kummer und Leid, vor allem ein Kind am Bein. Ich sträube mich gegen
das Bild, das ich eine Belastung bin, negativ bin, zu viel bin. Das ist ein
Symbol, Zeichen für etwas Belastendes und Bedrohliches. Ich bin belastet und
von diesen Vorstellungen. Die Eltern sehen so viel in mir an Bedrohungen und
Belastungen, aber mich sehen sie gar nicht. Ich sträube mich dagegen, ich
bin doch nicht so, das bin ich nicht. Hallo hier bin ich! Sie sehen mich an
und sehen in mir ihre eigenen Bedrohungen. Da ist noch was, gegen das ich
mich sträuben muss, der böse Mann, das Monster, die Bestie, das Tier,
Kinderschänder, Säufer, Vergewaltiger und Schläger.
Heute habe ich starke Verkrampfungen, stärker als sonst, oder ich merke sie
mehr. Da ist Wut und mein gesamtes Leben dahinter. Darin bin ich involviert,
wie ich mich anspanne, zusammenreiße, wie ich bin. Am liebsten möchte ich
los schreien, alles aus mir heraus schreien. Noch sind die übermächtigen
Eltern da, stecken noch tief in mir drin. Ich baue sie als unantastbar,
unangreifbar, unbeirrbar auf. Dabei waren sie so ohnmächtig, gleichzeitig
sind sie so wichtig für mich. Mein Größenbild steht in Verbindung zu den
mächtigen Eltern, sie wurden zu mir, und ich wurde zu ihnen, vor deren Bild
ich mich verberge. Sie sind unbeirrbar, es ist zu einem Teil von mir
geworden, zu dem wurde ich, vor denen kann ich nicht bestehen.
Die anderen Menschen fließen auch ein, vor denen bin ich fehlerhaft. All die
anderen, die Eltern, das Wunsch-Ich, auch Sie (der Therapeut) fließen mit
ein. Ich verteidige mich dagegen. Eine andere Ebene ist, dass ich mich
verurteile, überhaupt ein Größenbild zu haben, mich versuche davon zu
distanzieren, zu isolieren. Es ist das Größenbild, das meinem Größenbild
nichts verzeiht. Als dürfe das alles nicht sein, dass ich so bin, ich müsste
über allem erhaben sein. Ein ganzes Leben, dann kann ich doch nicht einfach
verzeihen. Ich bin wütend, möchte mich rächen, wehren, muss trotzig sein.
Das geht doch nicht. Ich spüre nur die Anspannung, den Trotz und Widerstand.
Ich muss mich doch verweigern, dabei will ich nur anerkannt werden. Ich
wehre mich gegen den Ekel, die Ablehnung, was mir weh getan hat und noch
tut.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich das auflösen könnte. Als müsste
mich jemand erlösen, das Böse wegnehmen und mich herausholen. Es ist zu
stark für mich. Es hat schon immer zwischen meinen Bildern und dem, was ich
erlebte, aber nicht mit meinen Bildern vereinbaren konnte, eine Diskrepanz
gegeben, weil ich die Oma und die Mutter schützen muss. Das sehe ich nicht,
sehe nur zum Teil, daß sie Schmerzen mit den Männern haben und ihr Leid ist
stärker als mein Wehren dagegen, böse zu sein. Deren Leid ist so stark, dass
es mich überwältigt. Ich will, dass es ihnen gut geht, denn dann geht es mir
auch gut. Ich kann deren Leben nicht auflösen, als müsste ihr Leben
erretten. Ich bin der Retter und Erlöser. Das ist mein Größenbild. Ich kann
das, wenn ich es nur richtig mache, dann bin ich der strahlende Held. Die
Stimme ist neu, die über mich lächelt, die anderes sagt, ich muss nur
richtig machen. Ich will das nicht hören und wissen, dass mich meine Bilder
mein Leben kosten. Ich will meinen Traum leben, der nur ist, weil Mutter
diese Bilder hat. Das ist der Konflikt, ich weiß es schon, nein das ist erst
da, ich bin was ganz besonderes, wenn sich das auflöst, bin ich ganz normal.
“
Aus der Perspektive eines Kleinkindes sind die Eltern allmächtig und, da es
sich mit ihnen automatisch identifiziert, ist auch das Kleinkind allmächtig.
Es verbindet den eigenen Glauben mit dem Glauben der Eltern. Es sieht ja
nicht, dass die Eltern unter den Einflüssen der Umwelt stehen, deren Opfer
über Generationen hinweg sind. Auch sind die Eltern total von dem Kind
abhängig, wenn es sich nicht so verhält, wie die Eltern es mit aller Macht
von ihm einfordern und es kontrollieren. Hinzu kommt, da es all die Gebote
und Verbote der Eltern abkriegt, also sich im Zentrum ihres und seines
Lebens wahrnimmt, wird die Allmächtigkeitsfantasie genährt und verstärkt. Er
drückt es mit Erhabenheit, Stärke, Erretter und Erlöser aus. Andererseits
wartet es in diesem Größenbild auf einen Erlöser, und gleichzeitig muß es
sich gegen ihn wehren, auch gegen den Therapeuten. Das kann zu
Therapieabbrüchen und -verlängerungen führen. Überhaupt ist das gesamte
Weltbild von Größenphantasien durchdrungen in dem Glauben, der Opposition,
dem Trotz, der Verleugnung, der Rache und der Sexualität.
Im Vorerinnerungsalter geht dieser Zusammenhang sozusagen wie von selbst in
das Kind über. Er ist ja wie von selbst schon in die Eltern übergegangen,
hat also eine transgenerationelle Perspektive. Der Apfel fällt nicht weit
vom Stamm oder Birnbaum. Nur auf dem Hintergrund von Wärme und Geborgenheit,
Sicherheit und Gehaltenwerden, Trost und Beruhigung, sozusagen sich auf dem
Schoß geborgen zu fühlen, und einer Förderung von Autonomiebestrebungen
lernt es mit zunehmendem Alter zu differenzieren. Es muss in seinem Eigenen,
in seinen Eigenheiten und in seinen eigenen Wünschen bestärkt werden, um
differenzieren zu lernen. Aber in manchen Zeiten, etwa während Kriegszeiten,
ist das nicht möglich. So wirken Kriege noch in Normen und Regeln über
Generationen fort.
Bleibt die Geborgenheit und Förderung seines eigenen Selbst aufgrund von
eigenen Problemen der Mutter und der Eltern aufgrund einer Vernachlässigung
oder schlechten Behandlung des Kindes aus, also Traumatisierungen, so lernt
es nicht zu unterscheiden zwischen sich und dem anderen, deren Schwächen und
Stärken und eigenen Schwächen und Stärken. Die Differenzierungsunfähigkeit
oder der Differenzierungsmangel sind in der Folge die eigentliche
Traumatisierung. Das Größen-, Allmächtigkeitsbild und Einheitsbild bzw. die
Gemeinsamkeit bleiben erhalten. Es kann nicht realistischere Bilder
erlernen. Dies Bild kann sich verschieden zeigen, einmal in der
Erlöserphantasie in mir selbst, die Mutter und alle anderen Menschen vor dem
Bösen zu erretten, zum anderen, bei eigener Ohnmacht aufgrund eines latenten
Größenbildes, nur von außen durch einen großartigen Helfer, also einem
gottähnlichen Wesen gerettet werden zu können. Sozusagen – die Suppe sollen
die auslöffeln, die sie mir eingebrockt haben, und das auf die ganze Welt
ausgebreitet. Diese Bilder sind in Religionen weit verbreitet, und daran
wird buchstäblich geglaubt.
Wie weit das mangelnde Differenzierungsvermögen verbreitet ist, möchte ich
am Beispiel von Schuldgefühlen aufzeigen. Schuldgefühle sind nicht die
eigentliche Schuld. Es sind nur Gefühle, aber für den, der sie hat, der
glaubt daran und für den sind sie Realität. Schuldgefühle oder die heftige
Abweisung jeglicher Schuld, in der Heftigkeit der Abweisung steckt die
Annahme der Schuld, hat schließlich jeder. Bei der Depression sind sie ein
wichtiger und zentraler Teil der Erkrankung. Wenn jemand dem anderen oder
sich selbst eine Schuld zuweist, weist er damit erstens auf sein eigenes
Denken und den Glauben, der andere oder ich selbst haben erhaben über
Schwächen und Fehler, also allmächtig zu sein, hin, zweitens, dass er nicht
zwischen sich und dem anderen unterscheiden kann. Wie überhaupt, wenn jemand
mit dem Finger auf den Anderen zeigt, zeigen 3 Finger unter der Hand
verdeckt und unsichtbar auf ihn zurück. Der andere neigt zur Übernahme der
Schuldgefühle, gibt dem Anderen recht, wenn sie schon in ihm stecken, der
Boden vorbereitet ist. Automatische Schuldgefühle, ohne dass der andere mir
die Schuld zugewiesen hat, weisen auf einen verinnerlichten vorauseilenden
Gehorsam hin. Der zu Schuldgefühlen Neigende hat schon diese in der Kindheit
gelernt, eine Gemeinsamkeit und mangelnde Selbstbewahrung und –behauptung in
dieser Gemeinsamkeit. Sie waren wie von selbst in ihn übergegangen. Er
glaubt dem anderen mehr als sich selbst, der Andere ist in Teilbereichen
sozusagen er selbst. Er ist für ihn wie eine Mutter und ein Vater, die die
Definitionshoheit besitzen.
Der Mensch ist mit Fehlern und Schwächen behaftet, und, was ein Fehler ist,
ist Sache der Perspektive, ist Ansichtssache. Ich brauche nicht der Ansicht
zu sein, fehlerhaft zu sein und Schuldgefühle an mir festmachen und
übernehmen. Aber wie sag’ ich das meinem Kinde in mir selbst?
Wenn jemand so ungeprüft in den anderen übergeht, dem anderen glaubt mehr
als sich selbst, oder sogar der Andere ist er selbst, so gerät er aufgrund
seiner Größenbilder, meist verdrängt und unbewusst, mit seinem Schamgefühl
in Konflikt. Er muss sich schämen vor seiner eigenen Erhabenheit und Größe
und der eigenen Fehlerhaftigkeit. Er kann nämlich nicht differenzieren. So
ist das Schuldgefühl eng mit dem Schamgefühl verknüpft, ich schäme mich,
dass ich überhaupt Schuldgefühle habe, und beide wachsen unter den
Bedingungen des Größenbildes zur Grandiosität aus. Dann kann ich nur durch
eine Auf- und Abspaltung in schwarz - weiß, gut oder böse, überleben, wobei
die Zusammenhänge nicht gesehen werden. In der Traumatisierung geht es immer
um’s Überleben.
Man kann der Ansicht sein, die Rechtsprechung entspricht einem Größen- oder
Souveränitätsbild, sozusagen erhaben über alle Einflüsse, besonders die
frühkindlichen Einflüsse, und dann selbst verantwortlich zu sein. Diese
Erhabenheit scheint mir eine Folge von frühkindlichen Traumatisierungen zu
sein, die in allen Zeiten vorherrschend sind und sozusagen den Ton angeben.
Anders ausgedrückt, aus dieser Sicht ist die Rechtssprechung und unsere
Gesellschaft auf Traumata aufgebaut.
Ein anderes Wort ist der Verstand oder die Ratio, nach der der Mensch
handeln soll, obwohl vieles, wenn nicht sogar das meiste, unterhalb der
Verstandesschwelle abläuft und den Menschen bestimmt. Dann ist aus der Sicht
mancher von Irrationalität die Rede, und er wird abgestempelt, obwohl die
meisten aus irrationalen Gründen denken und handeln und/oder nachträglich
rationelle Gründe anführen, um den Zeitgeist zu entsprechen. Natürlich muss
der Mensch Regeln und Normen folgen, bei gleichzeitigem Achtung und Respekt
vor sich und den Anderen. Aber diese müssen nicht auf Traumata aufgebaut
sein, bei denen die Selbst- und Fremdakzeptanz verloren geht. Ein Hinweis
ist, dass in den Augen der meisten die Achtung vor einem Verbrecher verloren
geht, also zwischen der Untat und dem Menschen nicht unterschieden und er
mit der Tat gleichgesetzt wird. Aber es ist einfacher die Welt in Gut und
Böse zu trennen, als die frühkindlichen, unbewussten Gründe mit zu
berücksichtigen. Die Aufspaltung wiederum ist eine Traumatisierungsfolge.
Im 3. Teil möchte ich auf die Fortpflanzung, vor allem die psychologische
Fortpflanzung zu sprechen kommen. Sie ist das wertvollste menschliche Gut
und in ihr kommt die Zwischenmenschlichkeit zum Ausdruck, und die sie
vermittelnde Sexualität unter den Bedingungen der Traumatisierung, des
Größenbildes, der Spaltung in gut – böse, der Selbstverantwortlichkeit und
der Strafe.
Von: Bernd
Holstiege