Flaute in den Ehebetten oder sexuelle Befreiung?
Aus einer sexualtherapeutischen Sprechstunde 60 Jahre nach
dem Kinsey-Report
Ruth Westheimer
Frankfurt am
Main/Trier (Weltexpress) - Unter der Überschrift „Halten Sie den Mund!
Sexualtherapeutin Ruth Westheimer über Flauten in den Ehebetten, geheime
Phantasien und die Erkenntnisse aus dem Kinsey-Report“ führte die Frankfurter
Rundschau mit ihr ein am 31.1.2008 veröffentlichtes Interview. Der bis dahin
unbekannte amerikanische Zoologe und Sexualforscher Dr. Alfred Charles Kinsey
hatte in den Fünfzigern eine wissenschaftliche Befragung durchgeführt und im
Kinsey-Report mit dem Titel „Das sexuelle Verhalten des Mannes“ veröffentlicht.
In diesem Report berichteten Tausende von Männern von ihrem Sexualleben.
Es kam heraus, daß die Amerikaner eine ganz andere Form von Sexualität ausübten,
als sie selbst glaubten, wie sie ihre sexuellen Aktivitäten praktizierten.
Manche glauben, der Kinsey-Report sei deshalb nicht tot geschwiegen worden und
habe nur deswegen so viel Aufsehen erregen können, weil die Amerikaner selbst
ihrer Doppelmoral und Bigotterie überdrüssig waren. Die Amerikaner schämten sich
offenbar kollektiv, über ihre ausgeübte Sexualpraxis zu sprechen, über alles,
was mit Oral- und Analsex, Selbstbefriedigung und SM-Techniken
(Sadismus-Masochismus) zu tun hat, so daß alle keine Ahnung von der Verbreitung
ihrer eigenen ausgeübten Praxis und ein völlig falsches Bild über die
Sexualpraxis Amerikas hatten. Ähnlich wie in anderen gesellschaftlichen
Bereichen (Siehe unsere Artikel über Doping im Spitzensport) wird nach dem Motto
gehandelt, es darf alles getan werden, solange nicht darüber gesprochen wird.
Dieses gesellschaftliche Verhalten führt also nicht nur in der Fremd-, sondern
auch in der Eigenwahrnehmung zu einer massiven Realitätsverfälschung.
Entsprechend glaubt die Allgemeinheit also, offen über Sex und andere Tabuthemen
zu sprechen, führe nur zu Komplikationen und Problemen, während das Schweigen
dafür spreche, daß unter der (Ehebett)decke alles wie geschmiert laufe.
Hinsichtlich der Sexualität ist die amerikanische Gesellschaft in zwei Lager
gespalten. Vor allem an der Westküste und in den großen Städten ist freie
Sexualität einschließlich der Homosexualität verbreitet und wird offen
propagiert, während vor allem auf dem Land und im religiösen Süden
sexualfeindlich puritanisch geprägte, fundamentalistische Sekten den Ton
angeben. Verstöße Andersdenkender gegen deren rigide Regeln mobilisieren noch
heute massive Aggressionen und Entrüstung dieser ‚Aufrechten’, der Puritaner,
wie gegen die Abtreibungskliniken. Ihre Empörung resultiert aus der Tatsache,
daß andere in einer Form Sexualität betreiben und sich Freiheiten erlauben, die
sie sich selbst verbieten.
Die bald 80 jährige Sexualtherapeutin erzählt aus ihrer Praxis:
Erektionsstörungen und verschiedene Vorlieben der Partner wiederholen sich in
jeder Generation. Wenn sich die Partner unterschiedlich entwickelt haben,
eventuell der eine als erfolgreicher Geschäftsmann, die andere als frustrierte
Hausfrau, können die resultierenden Spannungen unmöglich im Ehebett gelöst
werden. Das führt zu überhöhten Erwartungen und Verkrampfungen. Es entstehen
Langeweile, Lustlosigkeit und Verweigerung bei Menschen, die sich ursprünglich
einmal begehrt haben. Wenn inzwischen jemand Drittes im Spiel ist, also einer
„fremd“ geht, helfe es nicht, über Sexualstörungen zu sprechen. Dann stehen die
Kränkungen, die Vorwürfe und Rechtfertigungen meist im Vordergrund. Sie rät
niemandem zusammenzubleiben, schon gar nicht wegen der Kinder. Diese würden noch
mehr unter den Spannungen leiden als unter einer Scheidung. Nur wenn noch ein
Funke geblieben sei – sie rede nicht zwingend von Liebe –, könne ein
Sexualtherapeut Ehen retten.
Von einer platonischen Liebe hält sie gar nichts. Das sei ein Mythos. Aber viele
Paare flüchten sich in diese Idealisierung, um sich nicht mit den wunden Punkten
ihrer Zweisamkeit beschäftigen zu müssen. Zwar sei die klassische
Rollenverteilung inzwischen aufgeweicht, aber immer noch prägend. Wenn viele
Männer abends nach der Arbeit kaputt nach Hause kommen oder mit den Gedanken
ganz woanders sind, spielen sich in vielen Ehen Dramen ab. Die Therapeutin
schlägt dann Sex am Morgen mit viel Zeit vor, damit die Paare sich wieder ihrer
sexuellen Zuneigung als ersten Schritt zum Vertrauen vergewissern können, um
überhaupt einmal ohne Vorwürfe darüber reden zu können, warum es lange nicht
geklappt hat. Dann wird oft über Streß, Druck und Müdigkeit geredet. Dadurch sei
die Psyche extrem störungsanfällig, und folglich bekomme der Mann nur schwer
eine Erektion.
Ruth Westheimer meint, auch 60 Jahre nach dem Kinsey-Report und dem
Frauen-Kinsey-Report 1954, in dem diese über Masturbation, ihre sexuellen
Phantasien, Orgasmen und Unerfülltheit in der Ehe berichteten, herrsche immer
noch wenig Information, wie die Sexualität des anderen Geschlechtes überhaupt
„funktioniere“. Auch heute noch stehe Aufklärung am Anfang jeder Sexualtherapie.
Als Beispiel führt sie an, ab 40 sinke die sexuelle Leistungsfähigkeit des
Mannes wegen des absinkenden Testosteronspiegels rapide ab. Eine psychogene
Erektion alleine durch die Phantasie und Lust komme kaum noch zustande. Deswegen
müsse das Glied mit der Hand berührt werden. Umgekehrt müßten die Männer wissen,
daß die Scheidenflüssigkeit der Frauen nach den Wechseljahren weniger werde, man
deswegen Gleitcreme benutzen solle. Erstaunlich sei, wie viele Leute trotz
Kinsey, Master und Johnson, die mehrere Bücher über Liebe und Sexualität
geschrieben hatten, Helen Singer Kaplan, ihrer Lehrerin, die vor 25 Jahren ihre
Sexualtherapie entwickelt hatte, über grundlegende Dinge nicht Bescheid wüßten.
Den Männern gibt sie für ihre Macht- und Potenzfixierung, dem Klischee, allzeit
bereit zu sein, selber die Schuld, womit sie oft ihre Versagensängste zu
kompensieren suchten. Die klassische Situation sei, ein Mann, der einmal keine
Erektion bekommen habe, habe beim nächsten Mal Angst zu versagen, und prompt
passiere es. Wenn er dann aus Versagensangst eine Vermeidungshaltung einnimmt,
es kaum noch zu zärtlicher Berührung kommen läßt, werde die Partnerin langsam
mißtrauisch, ebenso wird er mißtrauisch, wenn sie ständig Migräne anmeldet. Sie
schlägt dem Partner zu Gefallen die Betätigung mit der Hand oder der Zunge vor.
Hauptsache sei, locker mit solchen Situationen umgehen und darüber reden zu
können.
Als vor 10 Jahren Viagra auf den Markt kam, haben nach ihren Erfahrungen viele
Männer erstmals über ihre Erektionsstörungen sprechen können, für sie eine
Erlösung, aber auch für die Frauen, zumal sie erkannten, daß sie mit ihrem
Problem nicht alleine sind. Männer, auch die besten Freunde, reden untereinander
kaum über eigenen Sex, schon gar nicht über Potenzstörungen. Eher machen sie
Witze. Doch manche unterlagen dem Irrtum, Viagra als Allheilmittel zu
betrachten, durch das automatisch das Begehren zurückkomme. Sie betrachte als
einen Weg die Nutzung der Sexualphantasien, warnt aber vor einem Ausleben mit
Dritten – da sei sie konservativ –, da dies die Bereitschaft senke, auf den
eigenen Partner einzugehen, und nur zu Eifersucht und Konflikten führe.
Getrenntes Ausleben der Phantasien könne zum Beispiel bei der Selbstbefriedigung
geschehen. Es sei bekannt, daß viele Männer sich mittels Pornofilmen
stimulierten, indem sie sich den Sex mit zwei Frauen, während Frauen sich eher
Sex mit einem völlig Fremden vorstellen.
Im Entsetzen der Männerwelt nach dem Frauen-Kinsey-Report über die
Wunschvorstellungen der Frauen, wobei diese mit einem Phantasienebenbuhler leben
müssen, sieht sie kein Problem, solange das Geheimnis gewahrt bleibt. Wenn
jemand weiß, daß er mit der Enttäuschung nicht umgehen kann, sollte er sich
keine Gewißheit verschaffen. Alles, was belaste oder verletze, solle man nicht
erzählen. Besser, man halte den Mund. Ein Problem sieht sie in einer Überreizung
mit Bildern von Halbnackten in den Medien, so daß Männer sich zu Hause nicht
ausreichend animiert fühlen. Diesen Voyeurismus könne man auch für das eigene
aktive Sexualleben nutzen, indem sich die Partner gemeinsam erotische Filme
ansehen. Sado-Masochismus-Wünsche seien Ausnahmefälle und, wenn der Partner sie
nicht teile, helfe alles nichts. Dazu müsse man sich allerdings bekennen, wenn
der Leidensdruck allzu groß werde. Raten könne sie nicht zu einem solchen
Verhalten, sie sei sehr konservativ. Deswegen vertrauen ihr die Leute und nie
habe jemand gegen ihre Radiosendungen protestiert. Sie gebe keine Anweisungen,
wie man am besten den Partner hintergehe. Sie wolle helfen. Frauen, die wie in
TV-Serien von gutem Sex mit ihrem Märchenprinzen träumen und sich mit
Pelzmänteln und Schmuck verführen lassen, dann an ihren Wünschen scheitern,
seien altmodischer als sie.
Altmodische und konservative Einstellungen in der Sexualtherapie? Da hat sie
sicherlich recht! Manche beklagen, daß konservative Einstellungen in der
amerikanischen Sexualtherapie vorherrschen, eine Folge des verbreiteten
Puritanismus? Menschen, die sexuelle Vorlieben außerhalb dieses Normalstandards
bevorzugen oder sogar unter perverse Neigungen leiden, so daß sie eine
sexualtherapeutische Sprechstunde aufsuchen, werden sich wenig bei ihr und ihrer
Richtung der Sexualtherapie verstanden und aufgehoben fühlen. Sexualberatung
öffentlich zu besprechen, ohne daß es zu Protesten aus den verschiedensten
Lagern kommt, mag eine hohe Kunst der Balance oder schlicht eine Ignorierung der
konfliktreichen Tatsachen sein. Sicher beides. Ruth Westheimers Sexualtherapie
bewegt sich auf einer vordergründigen Ebene des Verhaltens, der Aufklärung über
körperliche Zusammenhänge in der Biologie von Mann und Frau und ignoriert
größtenteils die Hintergründe und Zusammenhänge der sexuellen Störungen. Mit
ihrer Form der Therapie kann sie lediglich mit den Fällen der „normalen“,
heterosexuellen, in festen Partnerschaften eingebetteten Störungen umgehen, die
ja auch schon genügend Sprengstoff in sich bergen und zu massiven Zerwürfnissen,
Enttäuschungen und Trennungen führen können. Aber viele Störungen liegen
außerhalb dessen, wie ja schon ansatzweise die Kinsey-Reporte offenbarten.
Wenn Ruth Westheimer aufklärt, daß alternde Männer allein durch die Phantasie
keine Erektion mehr bekommen können und Frauen nach den Wechseljahren aufgrund
der Abnahme von Scheidenflüssigkeit „trocken“ werden, dann ist das nur zum Teil
richtig, mag zwar sinnvoll und eine gute Absicht sein, um den Leistungsdruck von
den Älteren zu nehmen, Potenzprotze sein zu müssen, wodurch wiederum gerade
diese Symptomen entstehen. Weder müssen ältere Frauen „trocken„ sein, noch
ältere Männer zwangsläufig manuell stimuliert werden. Die Empfehlung der
Gleitcreme mag zwar Hygienevorstellungen entsprechen, aber Spucke, je
schleimiger desto besser, tut’s auch und ist jederzeit verfügbar, es sei denn
aus Angst und Leistungsdruck bleibt diese weg und die Münder sind trocken. Wir
stellen uns schon den Protest und die Empörung mancher vor – Spucke, wie
unsauber?! Allein diese Empfehlung mag schon in das Thema der Konflikthaftigkeit
der Sexualität führen. Sie empfiehlt die Geheimnisse, die wiederum zur
Sprachlosigkeit im Bett führen. Diese zwischenmenschliche Sprachlosigkeit
produziert geradezu Mißverständnisse und eine Übersteigerung der Probleme.
Unaussprechliches ist schließlich wesentlich schlimmer als Aussprechbares, und
nimmt viele Reize des Austausches und dadurch erotischen Reizes. Daß sie Männern
selbst die Schuld gibt an ihrer Potenzfixierung, ist eine Schuldzuschreibung,
die die Konflikte erhöht und die Hintergründe ignoriert. Sexualtherapie kann wie
alle Therapien halt in dieser oder in jener Weise durchgeführt werden.
Die Sexualität ist und war zu allen Zeiten ein Thema mit hohem sozialen
Sprengstoff. Einerseits ist die Sexualität ein urmenschliches Bedürfnis,
andererseits steckt in ihr der Teufel. In der Geschichte der Menschheit ist die
Sexualität mit massiven Traumatisierungen durch Seuchen, Vergewaltigungen,
sexuellem Missbrauch, Kindstötung, sozialen und narzißtischen Stigmatisierung
geprägt, etwa beim unehelichen Kind, an dem etwas festgemacht wurde, wofür es
nichts konnte. Sexualität wird in Kriegen und bei Vergewaltigungen zur
Demütigung und sozialen Ächtung benutzt. Massenvergewaltigungen haben weniger
ihre Gründe in der Sexualität, sondern mehr in der Erniedrigung des Feindes.
Dazu das Beispiel einer serbischen Frau, die, nachdem sie sich von ihrem
serbischen Freund getrennt hatte, von ihm und vier Freunden vergewaltigt und
mißhandelt wurde. Noch heute, 35 Jahre danach, hat sie Alpträume, schlägt nachts
um sich, schreit „Laßt mich los!“ und kann nicht einmal ihrem Ehemann die Gründe
schildern, der immer noch von nichts weiß, da sie üble Nachrede und Ächtung
fürchtet. Für sie und ihr früheres soziales Umfeld ist eine Frau, die mit
mehreren Männern schlief, egal unter welchen Umständen, eine Hure. Die
Haupttraumatisierung ist die Bewertung und Bedeutung, weit vor der
Vergewaltigung, und das ist noch heute starr eingeprägt. Die Vergewaltigung ist
die Rache des Mannes für eigene erlebte Erniedrigung.
Uns ist ein groteskes Beispiel von sexuellem Mißbrauch bekannt: Eine Frau wurde
ab acht Jahren von ihrem streng katholischen Vater mißbraucht, nicht nur sie,
auch ihre Schwestern, wobei ihre Mutter ständig krank war und ihre Tochter
warnte „Wenn Du so weiter machst, bekommst Du noch ein Kind!“ Als die Tochter
mit 23 Jahren von ihrem Vater ein Kind bekam, wurde sie wegen des unehelichen
Kindes von Vater und Mutter verstoßen. Sie ist gegangen und hat geheiratet. Als
der Sohn erwachsen wurde, kam seine Mutter wegen Depressionen in die Psychiatrie
und erst in der Therapie erinnerte sie sich an die Geschehnisse mit ihrem Vater
und daß ihr eigener Vater der Vater ihres Sohnes ist. Alle Vorgänge hatte sie
verdrängt und ‚vergessen’. Als Gegenhaltung zu ihrer inneren Stigmatisierung
nahm sie in ihrem weiteren Leben im Erscheinungsbild eine „heilige“,
hilfsbreite, opferwillige, gute Haltung ein. Voraussetzung des sexuellen
Mißbrauchs ist immer die Erziehung und Prägung „der Vater oder die Eltern haben
immer recht und ihnen muß gehorcht werden“, auch wenn etwas geschieht, was nicht
rechtens ist. Der Mißbrauch durch den Vater wird meist von der Mutter geduldet,
manchmal wird er sogar gefördert, etwa, wenn der Vater mit seiner Frau ins Bett
will und diese sagt „Geh doch zur Tochter“.
Traumatisierungen haben verbale und inhaltliche Spaltungen zur Folge, etwa in
Nonne und Hure, zölibatäres Verhalten und sexuelle Freizügigkeit. In der
Menschheitsgeschichte wechseln sich die Einstellungen zur Sexualität ab. Nach
Phasen der Freizügigkeit folgen Phasen des Konservatismus oder der Restauration
und umgekehrt. Eine rigide sexualfeindliche Einstellung hat häufig zur Folge,
diese in verschiedenen Rollen zu unterlaufen und eine Doppelmoral zu leben, wie
auch der Kinsey-Report zeigt. So haben katholische Priester, die dem Zölibat
verpflichtet sind, ihre verschwiegenen Partner und oft noch Kinder, wobei die
katholische Kirche stillschweigend zahlt, solange nichts an die Öffentlichkeit
gelangt. Uns ist bekannt, daß bei lesbischen Frauen, die ja auch manchmal Kinder
ohne einen Partner wünschen, unter der Hand die Empfehlung kursiert „…dann einen
katholischen Priester, die Kirche zahlt gut!“. Ab und zu kommt heraus, daß sich
pädophile Priester an Minderjährigen vergangen haben. Manchmal werden sie noch
nicht einmal in für sie weniger verführerische Arbeitsbereiche versetzt. Für
einen jungen Mann, der sich früh zum Zölibat verpflichtet hat, ist es wie für
jeden Menschen schwierig, seine zukünftige sexuelle Entwicklung zu kennen, so
daß er sich auf etwas festgelegt hat, das ihm später nicht mehr entspricht.
Aufgrund früherer traumatischer Erfahrungen, die als Maßstab in die Zukunft
projiziert werden, wird leicht das Böse in die Sexualität von Männern und Frauen
hinein gelegt. Etwa stellen sich Frauen Männer als potentielle Vergewaltiger,
Mißbraucher und deren Untreue vor. Vor allem in feministischen Kreisen kursieren
Slogans „Männer wollen nur das eine, benutzen Frauen als Sexualobjekt“, obwohl
Männer genauso wie Frauen in ihren Beziehungen Geborgenheit, Vertrautheit und
Aufgehobensein suchen. Manche Männer werden schon in ihrer Kindheit von Müttern,
die diese Bilder teilen, insofern sozusagen kastriert, zum Priester erzogen,
damit sie nur ja nicht einer von diesen bösen Männern werden. Dann können sie
ihre Sexualität später nicht mehr leben oder müssen sich Wege suchen, wo sie
sich im Widerstreit von Erlaubten und Unerlaubtem doch noch für sich ein
Plätzchen finden. Der häufigste Weg ist der der Doppelmoral, nach außen hui und
nach innen pfui.
Die Sexualität kann von Männern zur Heimzahlung an die Adresse der Frauen, für
das, was ihre Mütter an ihnen verbrochen haben, eingesetzt werden, genauso gut
aber auch die Enthaltsamkeit, sich sozusagen den Frauen zu entziehen und dadurch
sich an ihnen zu rächen. Viele Ehepartner strafen ihre Partner mit
Enthaltsamkeit für völlig andere Dinge, etwa eine Frau, die sich an ihrem Mann,
eventuell sogar gegen ihre eigenen Wünsche, für andere erlebte Kränkungen rächt,
laut Sigmund Freud als Folge des „Penisneides“, wenn der Mann seinen Penis in
den Augen der Frau gar zu sehr in Szene setzt.
In einem sexualfeindlichen Klima werden die Tabus oft genug durchbrochen und
genau das Gegenteil getan. Zur Illustrierung zwei Fallbeispiele: Ein junger
smarter Homosexueller mokierte sich nach einem Urlaub in Spanien „Die Männer
wollten immer nur das eine, so einer bin ich nicht!“ Sicher hätte manche Frau an
dem hübschen Knaben Interesse gehabt, dann hätte er sozusagen geantwortet
„Ätsch, ätsch, ich bin schwul!“. Ein anderer war schon in der Kindheit von allen
Frauen in der Familie, Mutter, Oma, Tanten, wie ein Erlöser hochgejubelt worden
„Er raucht nicht, trinkt nicht, läßt die Frauen in Ruhe und ist besonders
höflich!“ Als Folge rauchte er wie ein Schlot, soff wie ein Loch, ließ die
Frauen in Ruhe, da er schwul war, und war ausnehmend höflich und zuvorkommend,
ganz im Sinne der Frauen. Er liebte Darkrooms ( abgedunkelte Räume, in denen
Homosexuelle frei miteinander verkehren können) und Klappen (an nebeneinander
liegenden Toilettenhäuschen sind Gucklöcher angebracht, um andere Paare beim Sex
beobachten zu können). Wenn er sich mit seinem Freund aus Eifersucht in der
Szenekneipe prügelte, sprachen die anderen vom Kampf der Giganten, worauf er
besonders stolz war. Andererseits war er so eng mit seiner Mutter verbunden, daß
er wegen Angstzuständen nicht ins Examen gehen konnte und seine Mutter wegen des
Verdachts eines Schlaganfalles ins Krankenhaus eingewiesen wurde. Als er ein
halbes Jahr später sein Examen bestand, hatte sie sich vorsorglich ins
Krankenhaus einweisen lassen, und er sie dort beruhigt aufgehoben gewußt.
Offenbar hatte sich die Mutter schwere Sorgen gemacht, daß noch mehr im Leben
ihres Sohnes schief gehen würde, und er hatte Ängste um das Leben seiner Mutter.
Er war ihr ein und alles, besser gesagt, ihre Lebenserwartungen und Ziele in
ihm, wodurch er vereinnahmt wurde, sich den Frauen entzog und seine verlorene
Männlichkeit bei Männern suchte. Diese Fälle zeigen, dass es oft um ganz andere,
existentielle Dinge im Umfeld der Sexualität geht. Auf diesen Umstand hatte ja
auch Ruth Westheimer hingewiesen. Allerdings hatte sie die enorme Bandbreite der
Sexualität mehr auf die Problematik der gegenseitigen Vorwürfe reduziert.
Gelegentlich zahlen es auch die Frauen den Männern heim und verhalten sich
genauso, wie sie sich die Männer vorstellen. So erzählte mir eine junge Frau,
sie schleppe nachts Männer ab und wolle am nächsten Tag nichts mehr von ihnen
wissen. Auf meinen Einfall „so spricht man oft von Männern“, erwiderte sie „ja,
ja, genauso ist es!“. Im mittleren afrikanischen Gürtel werden Frauen
traditionell beschnitten, beziehungsweise sexuell verstümmelt, um „treue und
anständige“ Ehefrauen heranzuzüchten, weil das Vorurteil herrscht, daß Frauen
mit Klitoris mannstoll und sexbesessen sind.
Bei dem verbreiteten Gang von Männern zu Prostituierten oder ins Rotlichtmilieu
spielen nur zum Teil sexuelle Interessen eine Rolle. Oft geht es mehr um
Geborgenheit, einmal reden zu können und sich verstanden zu fühlen. Die
Reduzierung auf Sex ist für diese Männer höchst unbefriedigend. Viele Männer
sind in ihren Ehen unbefriedigt, da ihre Frauen gewichtsmäßig zunehmen, sich in
Matronen verwandeln und für ihre Männer erotisch uninteressant werden. Umgekehrt
werden manche alternden Männer dickbäuchig und für ihre Frauen ebenfalls
unattraktiv. Dadurch können sich beide Partner auf Gegenseitigkeit uninteressant
werden. Weiterhin legen beide Partner auf erotische Maßstäbe von Jugendlichkeit
und Attraktivität großen Wert, sodaß bei zunehmender Alterung Enttäuschungen
vorprogrammiert sind. So wunderte sich ein Homosexueller, daß die Partner umso
jünger sein müssen, je älter er wird. Ihm wurde sein Verhalten als Suche nach
seiner Jugend in anderen gleichgeschlechtlichen Partnern erklärt, weil er
offenbar ausschließlich Jugend attraktiv findet und sich nicht mit seiner
Alterung zufrieden geben kann.
In unserer christlichen Kultur, aber nicht nur in dieser, spielt untergründig,
meist tief unbewußt, nach dem Vorbild Marias ein Jungfräulichkeitsideal, und
zwar nicht nur vor der Ehe, das ist unmodern, dafür in der Ehe eine Rolle. Dann
müssen die Männer woanders hingehen und dort die Anerkennung ihrer sexuellen
Wünsche suchen, wenn sie sich nicht ausreichend mit Selbstbefriedigung zufrieden
geben können. Es geht also nicht nur um Sexualität, sondern mehr um die
Anerkennung ihrer Sexualität. Dort können sie sexuell machen, wofür sich die
Frauen zu schade sind und ihnen selbst ihre Frauen zu schade sind. Das heißt
also, daß die Männer das Jungfräulichkeitsideal teilen und oft selber
„anständige“ Frauen sogar in der Ehe bevorzugen. In kleinerem Umfang gibt es
eine Subkultur, in der Frauen sich Männer suchen, wo sie sich alle
Unanständigkeiten erlauben und das machen können, was sie nie in ihrer Ehe tun
würden. Das Internet verschafft neue Möglichkeiten.
Auch stellt Sexualität oft eine narzißtische Plombenfunktion zur Kompensation
von narzißtischen Krisen dar, häufiger bei Perversionen, auch bei
„normalgeschlechtlichen“ Heteros. Männer müssen ihre sexuelle Stärke beweisen,
weil sie Leistung und Stärke als wichtigstes im Leben ansehen, sich anderswo wie
im Beruf als Versager fühlen oder als solches sich von ihren Frauen oder in der
Leistungsgesellschaft stigmatisiert sehen. Ruth Westheimer hat den
Kompensationsmechanismus auch gesehen, aber Männern die Schuld gegeben und nicht
ihre dahinter stehende Not gesehen und dargestellt. Bei Perversionen ist die
narzißtische Not meist noch elementarer. Die Sexualität wird sozusagen als
Plombe zur Abwehr der Gefahr einer psychotischen Dekompensation eingesetzt. Ein
Exhibitionist muß in einer inneren Krise sein Glied in einer Halböffentlichkeit
zeigen und Mädchen erschrecken, so wie ihm selbst in seiner Kindheit der
Schrecken vor seinem Glied und viele andere Schrecken eingejagt und eingeprägt
wurden. Mancher Fetischist sucht etwa seine verlorene Geborgenheit im Leben,
indem er an einem für ihn wohlriechenden weiblichen Höschen schnuppert.
Die Sexualität ist oft mit so widersprüchlichen Botschaften verknüpft, daß man
kaum auf die offenen Aussagen vertrauen kann. Dazu ein Beispiel: Mehrfach
beklagten sich Männer in Gruppen: Wenn sie etwas von ihrer Frau wollten, hätten
diese gesagt, sie wären müde, hätten Migräne oder die Periode. Er solle
Rücksicht nehmen. Er habe Rücksicht genommen. Jetzt haben sie ihnen den Laufpaß
gegeben, sich einen anderen genommen und gesagt „Er wäre kein richtiger Mann!“
Das Auffälligste in den Gruppen war, daß alle Frauen mit Nicken demonstrierten
„Ja, so ist das!“.
Unter Sexualwissenschaften herrschen verschiedene Forschungsbereiche, wobei die
wissenschaftliche Forschung und Erkenntnis von der jeweiligen Interessenslage,
Persönlichkeit und sexuellen Vorliebe des Wissenschaftlers abhängt. So gibt es
homosexuelle Sexualwissenschaftler, die die Gleichberechtigung von
heterosexuellen und homosexuellen Varianten als allgemeine menschliche
Veranlagung herausfinden, während konservative schon die Homosexualität als
Perversion einordnen. Bis vor einigen Jahren galt ja noch der Paragraph 175.
Homosexuelle wurden im Nazireich in dessen Männlichkeitsidealen verfolgt, obwohl
einige Nazigrößen selber homosexuell waren. Dem Berliner Bürgermeister Wowereit
ist eine Entkrampfung und „Normalisierung“ seiner gelebten Homosexualität mit
den Worten gelungen „Das ist auch gut so!“
Kommen wir zur Anfangsüberschrift „Flaute in den Ehebetten oder sexuelle
Befreiung?“ zurück. Das, was äußerlich als sexuelle Befreiung erscheint, so wie
die nach dem Kinsey-Report unter der verschwiegenen Bettdecke geübten
Sexualpraktiken, deutet eher auf ein Sexualtabu hin. Deswegen kann nicht von
sexueller Befreiung gesprochen werden. Sexualität erscheint als etwas
Gefährliches, Bedrohliches und Unaussprechliches einerseits, das nur zu
Konflikten führt, andererseits führt dieses rigide traumatisierende Tabu, gerade
das Unterdrückte und Verbotene daran, zu einer sexuellen und erotischen
Durchdringung der ganzen Gesellschaft. Medien erhöhen ihre Auflagen mit
erotischer Attraktivität, Pornofilme kursieren, überall werden zweideutige Witze
gemacht, die gerade die schönsten sind, Sport ist durch die erotische
Ausstrahlung besonders publikumswirksam und sogar Geld verbindet sich mit der
Erotik. Diese rigide Moral führt zur Durchbrechung und zur gegenteiligen
Haltung, dem Rotlichtmilieu, Aufspaltung in Gut und Böse, doppelten
widersprüchlichen Botschaften, Idealisierungen und Erlöserfunktionen. Hinter
allem steht der Narzißmus, die Selbstwahrnehmung, -anerkennung und -abgrenzung,
die sich in der herrschenden Flaute ihre teils bizarren Wege zur
Selbstverwirklichung sucht. Dabei steht die Sexualität als urmenschliches
Bedürfnis für vieles andere im Leben. Doppelmoral als Befreiung spielt sich in
vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen ab wie Sport, Wirtschaft, Kunst und
Politik.
Eine Sexualtherapie muß sicherlich zuerst oft aufklären, aber nicht nur über
körperliche Dinge, sondern auch, wie beschrieben, über ganz andere Hintergründe
und Zusammenhänge. Oft besteht nicht nur eine Unkenntnis über die Sexualität des
anderen Geschlechtes, sondern auch über die des eigenen Geschlechtes. Durch
Verdrängungen, Verleugnungen, Projektionen und Idealbildungen besteht eine
massive Wahrnehmungsverzerrung, manchmal mehr gegenüber der eigenen Person als
gegenüber fremden Personen, über die man dann besser Bescheid weiß als über sich
selbst. Dann gilt der Spruch „Es ist leichter, einen Splitter im fremden Auge
als ein Balken im eigenen zu sehen“. Da meist ganz andere Probleme hinter dem
sexuellen Problem stecken, ist oft nicht die Sexualberatung, eher eine ganz
normale Psychotherapie angebracht, in der die Sexualität eine immer geringere
Rolle spielt.
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 02.03. 2008
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 02.03. 2008