Auf einmal soll die Umwelt die Gene steuern?       

Neurobiologische Erkenntnisse (Teil 2/2)

 

Inzwischen sind mir andere Artikel über neurobiologische Sichtweisen in die Hände gefallen, von denen ich Auszüge einflechten möchte.

Im bvvp -Magazin (Zeitschrift für die Mitglieder des Bundesverbandes der Vertragspsychotherapeuten), Ausgabe 3 /2003, schrieb Ursula Stahlbusch unter dem Titel "Die aktuelle Hirnforschung verändert das Bild" - ich meine dazu, sie verändert nicht, sondern sie bestätigt das/mein Bild -, daß die erstaunlichen Ergebnisse der Hirnforschung der letzten Jahre eine neue Sicht des Menschseins bedingen. Sie könnten zu einer grundlegend neuen Orientierung der medizinischen Versorgung führen: Medizin nicht als kompetente Reparaturwerkstatt, sondern als Fürsorge für Menschen in einer menschengerechten Umwelt. Dieses neue Wissen wird das Verständnis und die Therapien psychischer, aber auch "rein somatischer" Krankheiten ganz wesentlich verändern. Sie führte weiterhin aus:

- Erfahrungsabhängige Plastizität des Gehirns.  Das hochkomplexe Nervenzellennetzwerke des menschlichen Gehirns mit seinen Milliarden Nervenzellen und noch vielmehr Dendriten (Nervenfortsätze) und Synapsen (Verbindungen der Zellen untereinander) bleibt lebenslang modulationsfähig. Es kann nachweislich Substanz verlieren und auch neue Substanz aufbauen. Die Feinstruktur dieses Netzwerks befindet sich, abhängig von unserem Denken, unseren Gefühlen, unserem Erleben und unseren Erfahrungen in einer sich wandelnden Umwelt lebenslang in ständiger Veränderung. In einem komplexen Zusammenwirken von Gen-Aktivierung, Streß -Achse, Botenstoffen u. a. findet insbesondere das, was im zwischenmenschlichen Beziehungen, den sozialen Interaktionen geschieht, in Verbindung mit Informationen über die aktuelle körperliche Befindlichkeit seinen unmittelbaren Niederschlag in konkreten biologischen Veränderungen in Nervenzellen des Gehirns.

- Gene werden gesteuert.  Die Gesamtheit unserer Gene, das Genom, enthält lediglich den Bauplan und die Grundausstattung möglicher Ausformungen unsererseits. Professor Bauer vergleicht diese Grundausstattung, er nennt sie Textvorlage, mit einem Konzertflügel und fragt: Wer spielt auf diesem Flügel? Eine Beeinflussung und Regulierung der einzelnen Gene geschieht durch ein ständiges komplexes Zusammenwirken verschiedener Regulationssysteme, abhängig von unseren individuellen Erfahrungen im Innen und Außen, deren jeweils aktuelle Summe als spezifische Reaktionsmuster im Nervenzellnetzwerk unseres Gehirns niedergelegt ist. Diese Muster bestimmen unser Sein und unser weiteres Handeln

- Bedeutung von Beziehung und sozialen Kontext.  Machen wir neue Erfahrungen, so werden diese blitzschnell in einem Zusammenwirken von Großhirn und limbischen System (Teil des Hirnstammes) mit dem gespeicherten, aus subjektiven Mustern aller bisherigen Erfahrungen entstandenen "Maßstab" abgeglichen und bewertet. Ergibt diese Bewertung eine Bedrohung, so wird wiederum über ein komplexes System aus Nervenbotenstoffen, Aktivierung der Hormon/Streß-Achse eine Alarmreaktionen ausgelöst, die vielfältige somatische Reaktionen zur Folge hat. Im schlimmsten Fall kann eine starke aversive Reaktionen über den Mandelkern eine erhöhte Glutamatproduktion auslösen, die im Zusammenwirken mit weiteren Reaktionen zum konkreten Verlust synaptischer Schaltungen und Nervenzellen führen kann . - Ergibt der Abgleich dagegen eine für das Individuum positive Situation, so wird durch Produzieren von Nervenwachstumsfaktor eine Stabilisierung des betreffenden Nervenzellennetzwerkes angestoßen und damit der Weg für weitere ähnliche Erfahrungen gebahnt.

- Persönlichkeitsstörungen in neuem Licht.  Insbesondere frühere defizitäre Bindungserfahrungen, Mißbrauch, Gewalt und Vernachlässigung verhindern eine adäquate Ausformung der Nervenzellennetzwerke des Gehirns. Damit wird für die Zukunft befriedigende Bewältigung von Streß zumindest erschwert. Regulationssysteme sind dann entsprechend diesen Erfahrungen justiert, evtl. ist bereits Nervensubstanz verloren gegangen, Muster für erfolgreiche Coping- (Bewältigungs-)Strategien werden nicht ausgebildet. Dadurch besteht eine ständige Bereitschaft zu vegetativer Übererregbarkeit, zu Dissoziation u.a. als Basis für weitere Schädigungen. Ohne neue positive Erfahrungen bleibt das Zusammenspiel der Regenerationssysteme lebenslang gestört. Mögliche medikamentöse Eingriffe müssen Stückwerk bleiben, weil sie die zugrunde liegende Störung nicht beseitigen können.

- Gesellschaftspolitische FolgenSolche Schäden können unter günstigen Umweltbedingungen vielfach gerade noch kompensiert werden. Bei zusätzlichen sozialen Belastungen kommt es dagegen bei sehr vielen Menschen mit früher Schädigung zu konkreten schweren, auch somatischen Erkrankungen. Studien belegen zum Beispiel massive Wechselwirkungen zwischen psychischen Belastungen und koronarer Herzerkrankung und auch  Krebserkrankungen. Was Psychotherapeuten aus Erfahrung wissen, zeigen jetzt bildgebende Verfahren, nämlich konkret nachweisbar Interaktionen zwischen den jeweiligen Nervenzellnetzwerken mit bleibenden strukturellen Veränderungen. Auch die transgenerationelle (über die Generationen hinweg) Weitergabe pathologischer Streßmuster kann heute mit diesen Verfahren von rein genetisch vererbten Krankheiten unterschieden werden. Man spricht vom "Download" solcher defizitärer Muster im Rahmen gestörter Interaktionen zwischen Mutter und Kind. In der Folge gehen dann schon beim kleinen Kinde nach dem Prinzip "gebrauch' es oder verlier' es" ursprünglich vorhandene, aber jetzt durch ungünstige Weichenstellung nicht mehr gebrauchte für ein gesundes Funktionieren jedoch wichtige Nervenzellverschaltungen verloren.

Prof. Bauer referiert in seinem Buch " Das Gedächtnis des Körpers " den aktuellen Stand der neurobiologischen Forschung und nimmt in diesem Heft ebenfalls Stellung. Er fragt - gestörter Hirnstoffwechsel - Ursache oder Folge?

Welche Bedeutung hat die Biologie bei psychischen Störungen beziehungsweise Erkrankungen? Bedeuten biologische Veränderungen, die sich bei psychischen Erkrankungen beobachten lassen, daß die jeweilige seelische Störung eine primär biologische oder in den Genen liegende Ursache hat? Entziehen solche Befunde der Psychotherapie den Boden? Biologische Befunde z. B. bei der Depression, bei Zwangserkrankungen oder bei Borderline- Störungen haben in den letzten Jahren bei Vertretern einer biologistisch und genetisch -deterministisch orientierten Medizin und insbesondere bei maßgeblichen Vertretern der deutschen Psychiatrie zu bizarren Schlußfolgerungen geführt. Tatsächlich stellt der derzeit vorherrschende biologisch -genetische Determinismus die modernen neurobiologischen Erkenntnisse völlig auf den Kopf.

Die Beziehungen zwischen Körperbiologie und Psyche sind alles andere als einer von den Genen oder dem Körpergeschehen ausgehende Einbahnstrasse. Tatsächlich wurde bis in molekulare Details hinein gezeigt, daß Erlebnisse und zwischenmenschliche Beziehungserfahrungen die Strukturen des Gehirns verändern, die Aktivität von Genen induzieren bzw. reprimieren (unterdrücken) und Netzwerke synaptisch verschalteter Nervenzellgruppen modellieren, bis hin zu makroskopisch (mit dem Mikroskop sichtbar) sichtbaren Veränderung der Gehirnmorphologie. Zwischenmenschliche positive Bindungen haben nachhaltige positive Auswirkungen auf neurobiologische und weitere körperliche Parameter. Umgekehrt wurde empirisch nachgewiesen, daß Bedrohung, Angst und Streß - insbesondere solcher im Zusammenhang mit dem Verlust bedeutsamer Bindungen - Neurotransmitter (chemische Botenstoffe) freisetzen und Gene aktivieren, deren Produkte den Stoffwechsel nachhaltig verändern und negative Effekte auf biologische Strukturen von Gehirn und Körper nach sich ziehen können. Bei Personen, die schwere Traumatisierungen erlitten und keine frühzeitigen psychotherapeutischen Hilfestellungen erhalten haben, können diese Effekte bis in die Veränderung makroanatomischer Strukturen hineinreichen. Damit ist beweisbar, daß alle markanten psychischen Prozessen von biologischen Veränderungen begleitet sind. Eric Kandel, Nobelpreisträger der Medizin des Jahres 2000, läßt am Beginn seiner Vorträge gelegentlich den Ausspruch fallen "nach meinem Vortrag wird Ihr Gehirn nicht mehr so sein wie vorher ". Beziehungserfahrungen können nicht nur pathogen, sie können auch heilend sein. Einer der entscheidenden Aspekte der Wirksamkeit von Psychotherapie sind die in ihr stattfinden korrigierenden Beziehungen. Daher sollte es nicht überraschen, daß nachgewiesen wurde, daß auch Psychotherapie faßbare biologische Auswirkungen auf das Gehirn hat, und zwar im Sinne einer Rückbildung von Auffälligkeiten, die sich als Korrelat der psychischen Störungen zuvor gezeigt hatten.

Ist der "Mensch der Sklave seines Gehirns" und besitzt er folglich keinen freien Willen? Über diese Frage streiten Natur- und Geisteswissenschaften. Mit ihrem Manifest offenbaren elf führende Hirnforscher ihre Grenzen, schauen in die Zukunft und werben für einen Dialog mit ihren Kollegen aus Philosophie und Psychologie, abgedruckt in der Frankfurter Rundschau am 21.10.2004 mit der Überschrift " Auf dem Stand von Jägern und Sammlern ". Angesichts des enormen Aufschwungs der Hirnforschung in den vergangenen Jahren entstehe manchmal der Eindruck, ihre Wissenschaft stünde kurz davor, dem Gehirn seine letzten Geheimnisse zu entreißen. Doch gelte hier zu unterscheiden: grundsätzlich setzt die biologische Untersuchung des Hirns auf drei verschiedenen Ebenen an. Die oberste erklärt die Funktion größerer Hirnareale, die mittlere Ebene beschreibt das Geschehen innerhalb von Verbänden und von hunderten und tausenden Zellen und die untere Ebene umfasse die Vorgänge auf dem Niveau einzelner Zellen und Moleküle. Bedeutende Fortschritte habe die Hirnforschung bislang nur auf der obersten und auf der untersten Ebene erzielen können, nicht aber auf der mittleren. Zwischen dem Wissen über die obere und untere Organisationsebene des Gehirns klaffe aber nach wie vor eine große Erkenntnislücke. Mit welchen Codes einzelne Nervenzellen untereinander kommunizieren, darüber existieren allenfalls plausible Vermutungen. Völlig unbekannt sei zudem, was ablaufe, wenn 100 Millionen oder gar Milliarden Nervenzellen miteinander "reden". Nach welchen Regeln das Gehirn arbeite, wie es die Welt abbilde, so daß unmittelbare Wahrnehmung und frühere Erfahrung miteinander verschmelzen, wie das innere Tun als "seine" Tätigkeit erlebt wird und wie es zukünftige Aktionen plane. All dies verstehen wir nach wie vor nicht einmal in Ansätzen. Und es ist völlig unklar, wie man das mit den heutigen Mitteln erforschen könne. Dort sei man auf dem Stand von Jägern und Sammlern.

Doch auch wenn viele Geheimnisse noch darauf warten, gelüftet zu werden, hat die Hirnforschung bereits heute einige ganz erstaunliche Erkenntnisse gewonnen. Beispielsweise weiß man im wesentlichen, was das Gehirn gut leisten und wann es an seine Grenzen stößt. Mit am eindrucksvollsten ist seine enorme Adaptions - und Lernfähigkeit, die zwar mit dem Alter abnimmt, aber nicht so stark wie vermutet. Für bestimmte Aufgaben können zusätzliche Hirnregionen rekrutiert werden, etwa beim Erlernen von Fremdsprachen im fortgeschrittenen Alter. Dank dieser Plastizität kann Hans also durchaus noch lernen, was Hänschen nicht gelernt hat -  solange keine Traumabedingungen herrschen, in denen die Lernfähigkeit schwer behindert ist. Geist und Bewußtsein sind nicht vom Himmel gefallen, sondern haben sich in der Evolution der Nervensysteme allmählich herausgebildet.

Bernd Holstiege

Literatur:

Bauer, Joachim  Das Gedächtnis des Körpers   Piper    ISBN: 3492241794
Michael Pauen, Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung, Fischer Verlag 2004, ISBN 3-10-061910-2

Peter Düweke, Kleine Geschichte der Hirnforschung. Von Descartes bis Eccles, Verlag Beck 2001, ISBN 3-406-45945-5

Michael Hagner, Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Wallstein Verlag 2005, ISBN 3-89244-649-0

Brian Burrell, Im Museum der Gehirne. Die Suche nach Gesit in den Köpfen berühmter Menschen, Verlag Hoffmann und Campe 2005, ISBN 3-987-3-455-09521-0

 

Anmerkung:

 

Glossar und Literatur von Claudia Schulmerich