Traumatisierungsparallelen  im Film „das Parfum“ und dem Fall des Kannibalen von Rotenburg

 

Claudia Schulmerich im Gespräch mit dem Arzt und Psychotherapeuten Bernd Holstiege

 

1. Als wir gerade den Film „Das Parfüm“ anschauten, haben Sie mir zugeflüstert, „das erinnert mich sehr an den Kannibalen von Rotenburg!“. Beim Zusehen habe ich mir dann immer wieder Gedanken gemacht, was das Verspeisen von Menschen mit dem Gewinnen und dem Konservieren von Menschengeruch, den man ja nicht aufißt, zu tun hat, abgesehen davon, daß beide Täter Menschen dadurch töten.

 

 Ja, beide mordeten, aber in ganz verschiedenen Vorgehensweisen und mit unterschiedlichen Zielen, sodaß der Außenbetrachter mehr die Unterschiede als die hintergründigen Gemeinsamkeiten erkennen kann. Das Verspeisen eines Menschen ist sicherlich etwas völlig anderes als Menschen zu töten, um deren Geruch zu konservieren. Die Gemeinsamkeit sehe ich neben der Ermordung in der Bewahrung von Menschen innerhalb der eigenen Person, beim Kannibalen der gesamten Person, im Parfum von Teilen von Personen, nämlich deren Ausdünstungen, dem Geruch, die wiederum ganze Personen repräsentieren. Die jeweiligen gemeinsamen Hintergründe stellen die Abwehr von Verlusten und Verlustangst und die Rache oder Vergeltung dar. Auch dachte ich mehr an die allgemeinmenschlichen Hintergründe und Zusammenhänge, mit denen wir alle mehr oder weniger zu tun haben. Verlust, Verlustangst und Vergeltung spielen für viele von uns ein zentrale Rolle. Es geht aus meiner Sicht in beiden Fällen um zentrale Bereiche des menschlichen Lebens, wenn auch in verschiedener Weise in perverse tödliche, mörderische Handlungen verpackt, nämlich um das eigene Selbst bzw. die Identität, also um die Bewahrung des eigenen Selbst, wobei die Getöteten in der Innenperspektive einen Teil dieses Selbst darstellen und gerade durch das Verspeisen oder Konservieren im Geruch dem Selbst noch stärker, nämlich real einverleibt werden. Das soll natürlich nicht heißen, daß viele von uns zu ähnlichen Untaten bereit wären. Der Reiz des Filmes "das Parfum" und der Welterfolg des Buches sprechen ganz andere tiefer liegende Dinge als Sensationslust, Mord, Geruch und Parfum an.

 

2. Wenn Sie Gemeinsames so herausstellen, worin unterschieden sich die Täter und ihre Motive, mal davon abgesehen, daß im Falle des Kannibalen das männliche Opfer mitmachte, im „Parfum“ aber junge schöne Mädchen – also in einer Männerwelt klassische Opfer – gemordet werden.

 

Der Kannibale begegnete Verlustangst und mehrfache Verlusten durch die Einverleibung eines anderen Menschen, wie im abgedruckten Artikel über den Kannibalen im Weltexpress zu lesen. Dadurch schützte er sich in seiner Phantasie, die er konkretistisch in Handlungen umsetzte, vor weiteren Verlusten und hatte in einem Ersatzpartner die verlorenen Objekte in sich, brauchte in seiner Vorstellung und Illusion also nie mehr Verlustangst zu haben. Weiterhin wandelte er Ohnmacht und das Ausgeliefertsein an seine Mutter in Macht, seine Entwertungen im Selbstspiegel und im Spiegel seines Umfeldes etwa seiner Bundeswehrkameraden in Größenbilder, einen Menschen voll und ganz in sich einverleibt zu haben, und folglich sein Unglück in Glück um. Der Hintergrund ist in seiner engen, verstrickten Mutterbeziehung, dem darin enthaltenen Selbstverlust und dem Verlust einer „guten“ Mutter, und im Tod und Verlust gerade dieser „schlechten“ Mutter zu sehen. Im Verlust der "schlechten" Mutter gehen auch seine Hoffnungen, durch diese doch noch einen positiven Identitätsaufbau zu erlangen, und der Verlust der Macht über sie als einem Teilbereich seiner eigenen Person verloren. Der Kannibale verspeiste einen Mann, wodurch seine homosexuellen Neigungen zum Ausdruck kamen. In diesem Mann oder grundsätzlich im Mann suchte er als Ersatz für den Vater und Bruder statt durch Identifizierung durch konkrete Einverleibung seine männliche Identität, also nicht wie im Parfum im Gegenüber mit einer Frau, einer heterosexuellen „normalen“ Sexualität, sondern im Gegenüber mit einem Mann. Dadurch besteht das Gegenüber nicht mehr als Gegenüber, sondern wird einverleibt zum Teil des eigenen Selbst. Durch die Verstrickung mit und der Einverleibung durch die Mutter hätte er viel zu viele Ängste vor der Einverleibung im doppelten Sinne vor Frauen gehabt, nämlich durch die Einverleibung das böse Objekt in sich zu haben und dadurch von der Mutter einverleibt zu werden. Aus der Angst vor der Mutter suchte er sich Männer. Sein Opfer machte mit, da bei ihm wohl ähnliche Identitätsdefekte vorliegen. Die Blaupause des Sadismus ist der Masochismus.

 

Sicher liegt der Fall im Parfum etwas anders. Grenouille war im zur damaligen Zeit extrem stinkenden Paris am am meisten stinkenden Ort, dem Fischmarkt, zur Welt gekommen, eine Beleidigung für seine feine angeborene Nase. Durch die Geburt an diesem Ort war er extrem auf Geruch und Gestank fixiert und mußte diesem Trauma eine Welt des Wohlgeruchs entgegen setzen. Weitere Begleitumstände waren, daß infolge seiner Geburt seine Mutter hingerichtet wurde, er sie also verlor, nie eine Mutter hatte und nie eine seelische und körperliche Mutter erleben konnte. Die Umstände des Verlustes und die fehlende Mutterbeziehung verbindet er mit dem Gestank. Die Heimleiterin als möglicher Muttersatz konnte durch deren Sadismus und die vielen Kinder im Heim infolge der Aggressionen, Konkurrenzen und seiner Sonderrolle nicht als gute Mutter und dort keine Geborgenheit erlebt werden.  Durch diese Erfahrungen konnte er nie gute Mutterbilder verinnerlichen, die einen eigenen positiven Identitätsaufbau ermöglicht hätten. Er blieb also ewig bedürftig und suchte als Ersatz der Mutter eine Frau. Da er aber nie die Nähe einer Mutter erlebt hatte, konnte er nie eine körperlich nahe Frau annehmen, sondern konnte nur die Nähe auf einer körperlich fernen, aber sensorisch entsprechend den Bedingungen seiner Geburt im Geruch selbst suchen. Es ist nun mal so, daß der Mensch sein Leben nach seinen früheren Erfahrungen und innerhalb von dessen Möglichkeiten gestaltet. Mit der Konservierung des Wohlgeruchs von schönen Frauen versuchte er den Verlust auf ewig zu kompensieren. Hinzu kommt, ein jedes Kind glaubt in seiner vermeintlichen Omnipotenz den Tod der Mutter verursacht zu haben und fühlt sich folglich schuldig. Der Wohlgeruch und die Konservierung dienen ebenfalls der Wiedergutmachung seiner Schuldgefühle.

 

3. Aber dann hätte Grenouille die jungen Frauen ja nicht umzubringen brauchen. Es hätte doch gereicht, sie mit den himmlischsten Wohlgerüchen wie ein echter Parfumeur zu versorgen und an ihnen herumzuschnuppern. Dann hätte er sich für ewig stellvertretend seine Mutter bewahrt.

 

Ähnlich wie bei der Ermordung und Verspeisung des Kannibalen kommt die Aggression und Rache ins Spiel. Daß die Mutter ihn verlassen hat, ruft Selbstentwertungen, nicht genügend geliebt worden zu sein, die er als Eigenschaft an seiner Person festmacht, ein ungeliebter und somit wertloser Mensch zu sein, und Aggressionen auf die Mütter und Ersatzmütter, als die die schönen jungen Frauen auch zu gelten haben, hervor. Die Aggression ist wie beim Kannibalen aufgrund der narzißtischen Entwertungen und Demütigungen, die gewissermaßen tödlich sind, zum narzißtischen Ausgleich in der Vergeltung ebenfalls tödlich. Ähnliche Hintergründe sind beim Mord auch aus andern äußeren Motiven zu sehen. Daß er junge schöne Frauen statt reiferer mütterlicher Frauen auswählte, hängt mit der Sexualisierung der zwischenmenschlichen Beziehungen früh und schwer traumatisierter Menschen zusammen, ähnlich wie bei Exhibitionisten, die sich gerne junge Mädchen aussuchen. Vor reifen Frauen müßte er wesentlich mehr Ängste vor der Einverleibung haben. Die Sexualität ist die körperlich engste und intimste Form der zwischenmenschlichen Beziehung zur Aufhebung von Trennung und Verlust. Dieser Akt ist aber nur vorübergehend, sodaß nach dem Akt Verlustangst und Aggressionen nach traumatisierenden Verlusterfahrungen wieder aktuell werden können. Außerdem kann im Sexualakt zwar körperliche Nähe, aber gleichzeitig auch menschliche und seelische Ferne vorhanden sein. Dies kann in der Sprachlosigkeit im Bett zum Ausdruck kommen. Aber der Sexualakt kann neben dem Rauscherlebnis recht befriedigend sein, indem die Partner z.B. so schön miteinander einschlafen können.

 

4. Sie sprechen von Sexualität und Sexualisierung. Erklären Sie das bitte auf unsere Fälle bezogen näher.

 

Von der Sexualität ist die Sexualisierung zu unterscheiden, die einen widersprüchlichen Doppelcharakter besitzt, indem wie bei Perversionen Nähe und Ferne aus Angst vor der Einverleibung zwiefach aufrecht erhalten werden. Insofern geht es in der Sexualisierung weniger um Sexualität, obwohl das nach außen so aussieht, sondern um eine Ausbalancierung von Nähe und Ferne im Gewande von Körperlichkeit. Jugend und Schönheit sind Idealisierungen  und Gegenreaktionen oder Abwehrformationen vom Gegenteil, von Häßlichkeit, Entwertung und Verachtung, ähnlich wie zum Teufel ein Gott gesucht wird. Die Idealisierung und Sexualisierung kommen dem Traumatisierten entgegen, der existentielle Angst vor der Nähe und Ferne zugleich hat. Andererseits, das ist sein Gewinn, muß die Sexualisierung nicht vorübergehend sein, sondern kann dauerhaft Objekte besetzen und sich auf Beziehungen ausbreiten, so daß mehr oder weniger alle zwischenmenschlichen Beziehungen und Objekte idealisiert und sexualisiert erlebt werden und andere Menschen hauptsächlich unter sexuellen Aspekten interessant sind. Durch die Sexualisierung stehen immer potentiell Nähe und Partner im Raum, müssen aber nicht gefürchtet werden. Grenouille hat den Doppelcharakter aufrecht erhalten, indem er sich nicht mit Frauen einließ und nur die Nähe im Geruch suchte, während der Kannibale in der Verspeisung die Nähe suchte, aber den Menschen in der Beziehung fern war. Schließlich ist für ihn der gemordete  Mensch und Sexualpartner nicht mehr lebendig, so daß er dessen Nähe und die Einverleibung durch ihn nicht mehr fürchten muß.

 

Daß nur durch junge schöne Frauen – in der traumatisierten Männerwelt die klassischen Opfer - die ersehnte Nähe, durch die Beschränkung bei Grenouille auf den Geruch, beim Kannibalen durch den Verlust eines lebendigen Menschen und Partners zugleich die Ferne gesucht wird, hängt mit der Verknüpfung von Idealisierung und Sexualität bzw. der Idealisierung in der Sexualisierung des Traumatisierten zusammen. Zugrunde liegt ein Bruch der zwischenmenschlichen, auch sexuellen Beziehungen vor allem auf der altersentsprechenden gleichen Ebene. Dieser Bruch wird durch Idealisierung und Sexualisierung illusionär überwunden. Dann ist beim Erwachsenen der Wunsch nach menschlicher Nähe immer mit idealer sexueller Attraktivität verbunden. Die sexuelle Attraktivität nur in der Jugend ist gesellschaftlich weit verbreitet. Etwa wird in Illustriertentiteln mit jungen schönen Frauen geworben, vor allem Frauen tun alles für ihre Jugend und Attraktivität, um begehrte Sexualpartner zu bleiben, und die Faszination des Rotlichtmilieus und der Run dorthin sind über die Menschheitsgeschichte hin groß. Neulich erzählte mir ein alternder Homosexueller, es sei komisch, wie komme das nur, je älter er werde, desto jünger müßten die Sexualpartner sein. Ich erklärte ihm, daß er wohl mit seiner Alterung nicht fertig werde und im Partner seine eigene Jugend suche. Man halte sich vor Augen, dem Kleinkind ist es völlig egal, ob seine Mutter oder Oma jugendlich und attraktiv sind, Hauptsache, es findet Nähe, Wärme und kann sich vertrauensvoll anschmiegen. Diese Erfahrung wird wohl fehlen und kann deswegen nicht später in Ehen und Partnerschaften umgesetzt werden. Die Sexualisierung muß letztlich unbefriedigend bleiben, da sie nicht in nahen, vertrauensvollen dauerhaften Beziehungen eingebettet ist. Jegliche menschliche Beziehungen sind auf eine dauerhafte Zukunft ausgerichtet, wie sich im Abschiedsgruß „auf Wiedersehen“ zeigt. Da aber Jugend und Attraktivität nicht ewig aufrecht erhalten werden können, ist die gesuchte dauerhafte Zukunft in der Sexualisierung zum Scheitern verurteilt.

 

Bei vielen traumatisierten  Menschen gelten wie bei Grenouille die Tatsachen an sich und weniger die tragischen Umstände. Der weitere Verlauf seines Lebens, der Sadismus im Heim, das Überleben in der Färberei, seine Außenseiterposition sind ja auch Tatsachen und rufen bei ihm extreme mörderische Aggression und Rachegelüste als Tatsache hervor. Die Rachegelüste dienen dem narzißtischen Ausgleich, andere zu entwerten und demütigen, so wie es mit ihm selbst geschehen ist, und rufen ein Triumphgefühl und illusionäres Glück hervor.

 

5. Frauen durch Einbalsamieren und Destillieren geruchsintensiv zu konservieren, klingt irreal und phantastisch, noch mehr die Welt durch diesen Geruch vom Sexualtabu zu befreien, also einen Erlöser zu personifizieren, und unsere aller geheimste orgiastischen Wünsche zu befriedigen.

 

Wohlgeruch kann ähnlich wie Kleidung eine erotische und sexuelle Animation darstellen und die Phantasie steigern. Bei der Sexualität sind das Zentrale die Phantasien und inneren Bilder. Diese inneren Bilder in äußeren Bildern darzustellen,  macht auch den Reiz des Filmes aus. Wir werden durch die Tiefen und Höhen des Lebens geführt, aber auf eine phantastische für unseren realen Alltag ferne Weise, so daß wir das Unglück und die Tragik nicht an uns herankommen lassen müssen und mehr genießen können. Wir leiden nicht so mit bzw. müssen das Leiden abwehren wie in vielen anderen Filmen. Insofern ist der Film ein phantastisches Märchen. Die Wendung zur sexuellen Befreiung als Erlöser und allgemeinen Orgie auf dem Marktplatz der Hinrichtung war für mich überraschend und ist für mich schwer erklärbar. Offenbar soll dies ein Hinweis sein, daß die sexuellen Tabus so stark sind, so daß die orgiastischen Wünsche einen Akt der Erlösung darstellt, wie es etwa in Swingerclubs stattfindet. Dabei werden tief in uns steckende verpönte Phantasien und Wünsche angesprochen. Stellvertretend wurde ja auch zur Strafe der Lehrmeister von Grenouille hingerichtet.

 

6. Warum fällt es uns so schwer, die seelischen Hintergründe, die ja nicht umsonst Abgründe genannt werden, überhaupt zu hinterfragen, zu erfassen oder gar zu verstehen, wenn sie auch niemals zu akzeptieren sind.

 

Beim Kannibalen und im Parfüm gehen Tötung bzw. Mord und Perversion eine fast einzigartige Verbindung ein. Die jeweiligen Hintergründe finden sich in abgemildeterer Form bei vielen von uns und werden meist verdrängt und verleugnet oder, wie Sigmund Freud sagt, „sublimiert“ in höheren sozialen Leistungen. Die Einverleibung und die daraus resultierenden Entwertungen, Demütigungen, Aggressionen mit Mordwünschen und Rachegelüste finden sich bei uns überall im Alltag und werden auch dort nicht akzeptiert, sondern tabuisiert. Durch die Verleugnung, sie sind ja sozusagen nicht da und werden nicht wahrgenommen, können sie schlecht hinterfragt und verstanden werden. Interessant und von hoher sozialer Tragweite ist die Sublimierung. Also, hochstehende soziale Verhaltensweisen, etwa Verantwortung für andere, können auf einem gegenteiligen Hintergrund entstehen, eine Reaktionsbildung darstellen. Die dahinter stehende Aggression und Vergeltung kommen meist erst dann zum Ausdruck, wenn die anderen sich nicht an diese Vorgaben halten bzw. dieses gute Verhalten nicht erwidern. Dieser Sachverhalt spielt auch bei vielen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen eine auslösende Rolle. „Ich bin so gut zu dir und du läßt mich im Stich…?“ Die Erkrankung spiegelt dann die unterdrückte Wut auf das Gegenüber wieder.

 

Zur Tabuisierung der Sexualität möchte ich auf 2 Begebenheiten hinweisen: 

1. Der Frankfurter Sexualmediziner Volkmar Sigusch und seine Mitarbeiter haben sich ein Leben lang erfolgreich bemüht, die verschiedenen Formen der Sexualität als normale Spielarten der Sexualität zu deklarieren und anzuerkennen. Sein Institut hat also gut gearbeitet. Jetzt wird ihr Institut geschlossen, angeblich aus finanziellen Gründen, und die Sexualmedizin der Psychiatrie angeschlossen. Dadurch geraten viele Spielarten der Sexualität in den Geruch von psychiatrischen Erkrankungen. Im Akt der Befreiung der Ketten der „normalen“ Sexualität wird gesellschaftlich also kräftig zurück gerudert. Sicher hängen die verschiedenen Formen der Sexualität mit verschiedenen Verlust- und Entwertungserfahrungen zusammen. Diese betreffen wohl fast einen jeden Menschen und deswegen sind die verschiedenen Spielarten weit verbreitet.

2. Beim Kinsey-Report in den 40er Jahren kam bei einer anonymen Befragung eines Querschnittes der amerikanischen Bevölkerung heraus, daß die Amerikaner andere Formen der Sexualität ausüben, als sie selber glaubten. Aus Scham über ihre Sexualität und vermeintliche Perversion (orale und anale Techniken und homosexuelle Verhaltensweisen) hatte kaum jemand sich anderen gegenüber offenbart, sodaß alle  der Sexualität eine andere Normierung zugrunde legten. Manche vermuten, der Kinsey-Report wurde wohl nur deswegen so publik, weil die Amerikaner, zumindest damals, ihre Doppelmoral und Bigotterie leid waren.

 

7. Und warum kann ich mir „Das Parfum“ im historischen Kontext mit Interesse anschauen, würde mir aber niemals in einen Kannibalenfilm gehen, der die gerade stattgefundene Tragödie nachspielt?

 

Das Parfum spielt in einer früheren Zeit, illustriert ein vergangenes Milieu, und ist so phantastisch und für uns heute realitätsfern, dazu die fabulierende sonore Stimme des Erzählers, daß sich kaum jemand an eigene Anteile erinnert oder sogar ertappt fühlt. Ganz anders erging es mir im Film „Elementarteilchen“, wo ich mich mit vielem unangenehmen im meinem eigenen Alltag konfrontiert sah, sodaß ich trotz erweckter Neugier ansatzweise auf die Uhr sah, wann es denn endlich vorbei sei. Ein Film über den Kannibalen wäre für uns so grausam und abstoßend, daß wir kaum hinschauen könnten, es sei denn wir hätten daran Gefallen. Aber auch dann würden die Gelüste auf derartig starke Tabus stoßen, daß wir uns damit nicht konfrontieren möchten. Aber auch dafür fand sich ein vielleicht sensationslüsternes Publikum. Es wird wohl schwierig sein, Menschenfraß in akzeptabler Form im Film herüber zu bringen.

 

Anmerkung

Grundlage der Verfilmung war das Buch von Patrick Süskind aus dem Diogenes Verlag, das seit seinem Erscheinen ein Erfolg und schnell ein Welterfolg wurde. Der ebenfalls weltweit bekannte Filmregisseur und Produzent Bernd Eichinger konnte die Filmrechte erwerben, gewann Tom Tykwer (Lola rennt) als Regisseur und hat derzeit - trotz mittelmäßiger Filmkritiken - in drei Wochen mehr als dreieinhalb Millionen Zuschauer in Deutschland in die Kinos gezogen. In Österreich waren es 400 000 und in der Schweiz 200 000 Zuschauer.

 

Die zum Film erschienen Neuauflagen und Sonderproduktionen:

Patrick Süskind, Das Parfum. Die Geschichte eines Mörders, Diogenes, derzeit verbilligte Sonderausgabe 14.90

Patrick Süskind, Das Parfum, Taschenbuch 9.90

Patrick Süskind, Das Parfum, Diogenes Hörbuch, gelesen von Hans Korte, 8 CD 29.90

Das Parfum. Das Buch zum Film, Diogenes

 

Autor: Claudia Schulmerich
E-Mail: claudia.schulmerich@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 11.10. 2006
Foto: © Weltexpress/Bernd Holstiege
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 11.10. 2006