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18. April 11 , 14:33

Das Für und Wider bei der Verschreibung von Placebos – Über die Einheit von Pharmazie und Magie

Frankfurt am Main (Weltexpress) - Tatsächlich hat nach Befragungen die Hälfte der Ärzte, manche geben sogar 80% zu, in ihrem Arztleben schon Placebos (Scheinmedikamente) verschrieben, und viele verschreiben es sogar regelmäßig. Placebos sind also gängige Praxis. Beim Placebo-Effekt liegt der Glaube oder die Überzeugung zugrunde, dass ein Medikament wirkt und hilft oder nicht hilft und sogar zu Schädigungen führt. Durch die Zuschreibung von Bewertungen und Bedeutungen ist dieser Glaube innere Realität. Diese innere Wirklichkeit wird in eine äußere Wirklichkeit umgesetzt, da der Mensch auf bewussten, unsichtbaren und unbewussten Ebenen nach dem handelt, was er glaubt, was ist, und somit seinen Glauben in Realitäten umsetzt. Die Placebowirkung ist sogar im Gehirn durch veränderte Erregungs- und Durchblutungspotentiale wie bei einem tatsächlichen Medikament messbar, also naturwissenschaftlich nachweisbar. Naturwissenschaft und Glaube reichen sich die Hand.

Sagen die Ärzte ihren Patienten, dass es sich um ein Placebo beziehungsweise Scheinmedikament handelt, ist das rechtlich sicherlich in Ordnung. Nur fehlt meistens die Wirkung, wenn in Kombination mit dem Medikament nicht der Glaube vermittelt wird. Der heilende Einfluss ist also zusätzlich die Übermittlung der Überzeugung, der Persönlichkeit und des Glaubens des Arztes. Die pharmazeutische Wirkung von Medikamenten und die Überzeugung der Wirkung gehören folglich zusammen und sind untrennbar miteinander verbunden und in ihren Auswirkungen kaum unterscheidbar. Bei der Wirkung ist der Arzt so etwas wie ein Geistheiler oder Magier, die Droge Arzt. Sein Geist heilt oder auch nicht. Ähnlich kann allein die mitgeteilte Überzeugung des Arztes, dass eine Erkrankung sich bessert oder eine günstige Prognose hat, einen günstigen Einfluss auf das Krankheitsgeschehen haben. Ungünstige Prognosen können auch die Krankheit verschlimmern. Als ich früher noch am ärztlichen Notdienst teilnahm, wurde ich häufig bei harmlosen Erkrankungen zu Patienten gerufen. Der Grund war, sie hatten so stark Angst vor einer schlimmen Erkrankung, dass sie den Notdienst riefen. Eine Untersuchung und die Erklärung, dass es sich voraussichtlich um eine harmlose Erkrankung hält, beruhigten die Patienten. Rechtlich sicherte ich mich ab, indem ich erklärte, so genau könne man das allerdings nie wissen, es könne auch der Beginn einer schwerwiegenderen Erkrankung sei, aber wahrscheinlich nicht.

Dazu könnte man sagen, dann soll der Patient doch gleich zum Geistheiler gehen und dessen Hokuspokus vertrauen. Das tun auch viele, sicherlich in keiner Statistik erfasst, viel mehr als angenommen. Mehrfach habe ich gehört, dass Patienten der Astrologie, dem Wahrsager oder dem Naturheilkundler, der manchmal schon anhand der Stimme des Patienten am Telefon eine Diagnose stellen und einen Therapieplan aufstellen kann, mehr vertrauen als dem Arzt. Zur Wirkung eines Medikamentes muss aber noch die heilende Wirkung des Geistes, der Überzeugung des Patienten selbst und als dritter Faktor der der Umgebung, der Angehörigen, der Freunde der Mitpatienten und neuerdings der Internetforen hinkommen, die durch ihren Glauben den Patienten heilend oder gegenteilig beeinflussen können. Ohne diesen Geist des Kranken und seines Umfeldes ist ein geistiger Einfluss nicht möglich, wenn der Glaube des Arztes dort auf eine Leerstelle trifft. Im Artikel über den Placeboeffekt im Bermuda-Viereck ... habe ich auf die Industrie und ihren Einfluss auf den Glauben durch die Werbung hingewiesen. Viele Ärzte und ihre Patienten wiederum sagen, alleine das Ergebnis ist wichtig, und dieses rechtfertigt die Mittel. Die Bejahung eines Verhaltens wird also vom Ergebnis abhängig gemacht, egal unter welchen Umständen es zustande kam. Sogar die Bundesärztekammer plädiert für die Gabe von Placebos, weil diese viel billiger sind und bei oft gleicher Wirkung Kosten einzusparen helfen.

Wirkt das Scheinmedikament jedoch nicht oder ist sogar von negativen, unerwünschten Nebenwirkungen behaftet, kann der Arzt rechtlich schwer in die Bredouille geraten. Pharmazeutisch kann das Scheinmedikament zwar nicht wirken, aber durch einen vom Arzt nicht beeinflussten und nicht beeinflussbaren inneren Glauben, oft auf unbewussten, nicht reflektierbaren Ebenen des Patienten, des Umfeldes oder sogar des Arztes selbst, können die Nebenwirkungen hervorgerufen werden. Klagt der Patient gegen den Arzt, wird er von vielen Gerichten recht bekommen. In einer unüberschaubaren Grauzone von bewussten und unbewussten Faktoren und Einflüssen von Arzt, Patient und Umfeld werden sich Gerichte sicherlich an scheinbar objektiven Tatsachen festhalten. Woran sollen sie sich auch sonst festhalten, wenn nicht an überprüfbaren Tatsachen. Die Tatsache ist, der Arzt hat den Patienten getäuscht und eventuell sogar betrogen. Wiederum wird die Beurteilung und Verurteilung vom Verhalten des Arztes und vom Ergebnis abhängig gemacht, in diesem Fall im negativen Sinne. Durch das negative Ergebnis wird die Schuld des Arztes festgestellt. Im positiven Falle wäre es nicht zu einer Klage gekommen, obwohl der Arzt äusserlich das Gleiche getan haben kann.

Gerichte halten sich an die Schulmedizin und die anerkannte Wissenschaft, und diese ist vorwiegend in für viele beängstigend zunehmendem Maße naturwissenschaftlich ausgerichtet. Rein naturwissenschaftlich ausgerichtete Gutachter, die hinzugezogen werden, werden für Betrug plädieren. Die Macht des Glaubens würde auch die Priorität der Naturwissenschaft innerhalb der Medizin infrage stellen. Die Interessen, von Geld und Macht beeinflusst, prägen die Wahrheit. Obwohl reale Medikamente schon im Zulassungsverfahren wegen der Macht des Glaubens in ihrer Wirkung mit Placebos verglichen werden müssen, wird vor Gericht diese Macht des Glaubens nicht berücksichtigt, und so getan, als ob allein die pharmazeutische Wirkung und die Handlung des Arztes ausschlaggebend seien. Innerhalb dieses Kontextes ist der Patient getäuscht worden. In einer Kultur, in der Körper und Seele strikt getrennt sind, wo körperliche Beschwerden und Krankheiten allein auf körperliche Ursachen zurückgeführt werden und dabei sich eine von Konzernen geprägte gewaltige Medizinindustrie entwickelt hat, werden allein die körperlichen und Handlungszusammenhänge berücksichtigt.

Die rechtlichen Gründe gehen noch weiter. Da alle pharmazeutischen Präparate neben den Wirkungen auch mehr oder weniger Nebenwirkungen haben können – der Teufel wird durch den Belzebub ausgetrieben -, muss die Pharmazie im Beipackzettel aus rechtlichen Gründen auf diese aufmerksam machen. Für viele Patienten, vor allem für Angstpatienten, ist dieser Hinweis schon so etwas wie eine Prophezeiung, dass diese Nebenwirkungen auch tatsächlich auftreten. Für manche ist diese Prophezeiung wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, und die Nebenwirkung treten infolge der Macht des Glaubens tatsächlich auf. Manche Nebenwirkungen sind gerade durch diese Ankündigungen zustande gekommen und müssen dann im Beipackzettel erwähnt werden. Deswegen wird dieser zunehmend länger.

Der juristische Standpunkt und das Rechtssystem führen also zu Wirkungen, die alles andere als heilend sein können. Die Folge für viele Patienten bei der Angst vor Nebenwirkungen ist, dass sie oft notwendige und nützliche Arzneien nicht einnehmen und sogar wegwerfen. Laut Studien soll das etwa die Hälfte der verkauften Medikamente sein. Die so genannte Compliance zwischen Arzt und Patient leidet. Der pharmazeutischen Industrie kann das nur recht sein, da sie mit der Hälfte verkaufter Medikamente wesentlich weniger Profit erzielen würde. Auch viele Patienten profitieren, da sie von Nebenwirkungen bis zur Nebenwirkung Tod (siehe John Virapen’s Buch) verschont bleiben. Infolge der Macht des Glaubens ist kaum zwischen tatsächlichen und eingebildeten Nebenwirkungen, die aber tatsächlich vorhanden sind, und der Nützlichkeit und Schädlichkeit von Medikamenten zu unterscheiden. Nur Gutachter und Gerichte können dies infolge ihrer allmächtigen Definitionsmacht. Um fassbare Zahlen zu gewährleisten, wird meist die Statistik bemüht. Diese ist jedoch vom jeweiligen Standpunkt, der Perspektive und der Interesse des Auftraggebers abhängig. Ein Spruch ist "die Statistik ist wie eine Hure, die sich dem zuneigt, der am meisten bezahlt".

Die Macht des Glaubens nutzen auch alternative Therapieverfahren, die nach den Erkenntnissen der Naturwissenschaft gar nicht wirken können, wie die Homöopathie, die Akupunktur, Schamanismus und Geistheilung oder esoterische Verfahren. Im Sinne der naturwissenschaftlichen Medizin müssen sie eine Scharlatanerie darstellen. In den Augen vieler gilt, recht hat der, der Erfolg hat, auch wenn der Erfolg nicht der (naturwissenschaftlichen) Richtlinientherapie entspricht. Aber nicht nur bei Medikamenten spielen der Glaube und die Überzeugung eine wichtige Rolle, sondern auch bei allen anderen medizinischen Verfahren und Handlungen, die mehr auf den Körper als auf den Geist einwirken. Dazu gehören operative und apparatetechnische Verfahren. In Studien ist nachgewiesen, dass etwa Scheinoperationen am Knie ähnliche Ergebnisse erzielen können wie tatsächliche Operationen, wenn der heilende Glaube vermittelt wird, dass tatsächlich operiert wurde. Die medizinischen Behandlungsverfahren werden zur Besserung und Heilung von Krankheiten eingesetzt, und der Glaube spielt eine entscheidende Rolle. Aber auch bei der Entstehung von Krankheiten wirkt sich der Glaube auslösend bessernd oder verschlimmernd aus, so dass die Kunst der Medizin darin besteht, den alten krankmachenden Glauben durch einen neuen heilenden zu ersetzen. Dies passt aber nicht in das Weltbild einer naturwissenschaftlichen, somatischen und mechanistischen Medizin und zeigt die Tatsache, wie sehr die Naturwissenschaft, die vermeintlich von objektiven Tatsachen ausgeht, von der Weltanschauung und somit dem Glauben beeinflusst ist.

Wie oben am Beispiel der Angstkranken erwähnt, kann der Glaube auch bei pharmazeutischen Wirkungen von echten Arzneien auf die Besserung oder Verschlimmerung von Krankheiten einwirken. Infolge des Placeboeffektes können sogar Scheinmedikamente durch Zweifel und Misstrauen des Arztes, des Patienten oder des Umfeldes an der Wirkung und nach Lesen des Beipackzettels gravierende Nebenwirkungen haben, die durchaus denen von pharmazeutischen Präparaten ähneln können. Manche Patienten haben hinsichtlich der Medizin derartig negative Überzeugungen, dass sie erst gar nicht oder erst im weit fortgeschrittenen Krankheitsstadium, oft vom Umfeld oder sogar einer Rechtsprechung gedrängt, zum Arzt gehen. Auch können Überzeugungen vom Selbstheilungseffekt von Krankheiten oder in Religionen der Wille Gottes und das Kismet eine Rolle spielen. Innerhalb dieser Überzeugungen können Behandlungsmaßnahmen oft nicht wirken, so dass der Patient sich diesen zurecht nicht unterzieht. Innerhalb eines umfassenden negativen Weltbildes mag der Patient eventuell nicht mehr weiterleben wollen und sucht in der Krankheit seinen Tod. Je nachdem wie sehr er fixiert ist, kann ihm auch die beste Medizin nicht einen Lebenswunsch vermitteln, vor allem wenn sie allein naturwissenschaftlich ausgerichtet ist und wenig auf die Persönlichkeit und den Glauben des Patienten eingeht.

Im Zulassungsverfahren von Medikamenten ist die Gabe von Placebos notwendig und rechtlich abgesichert. Bei der Behandlung von Krankheiten begibt sich der Arzt in eine rechtlich umstrittene Grauzone, ebenso die Bundesärztekammer, und kann leicht vor den Kadi gezerrt werden. Die pharmazeutische und Placebowirkung von Medikamenten und allen anderen Behandlungsverfahren ist nicht zu trennen. Aber da für die Gerichte in einem völlig unübersichtlichen Terrain von Persönlichkeit des Arztes, dessen Überzeugungen und Ausstrahlungen, Persönlichkeit des Patienten und dessen oft unbewussten Überzeugungen und denen des Umfeldes nur greifbare Tatsachen zählen, und diese in unserem kulturellen und rechtlichen Kontext von einer naturwissenschaftlichen Medizin bestimmt sind, begibt sich der Arzt, der Placebos verschreibt, in eine problematische Situation. Er kann letztlich nicht wissen, wann er beim Patienten durch echte oder Scheinmedikamente positive oder negative Wirkungen erzielt, die in ihrem Wirkungsmechanismus oft kaum zu unterscheiden sind.

Ich persönlich würde wegen der rechtlichen Problematik kaum Placebos verschreiben, bin aber dieser Frage enthoben, da ich kaum Medikamente verschreibe. Mein Instrumentarium ist mehr die eigene Überzeugung, der Versuch der Betrachtung und Herausarbeitung des oft unbewussten Glaubens des Patienten, damit dieser sich innerlich neu orientieren und eine neue innere Realität entwickeln kann. Außerdem glaube ich an den günstigen und lebensverlängernden Einfluss vieler naturwissenschaftlicher und organischer wie operativer Verfahren. Beispielsweise ist ein deutlich erhöhter Blutzucker bei der Zuckerkrankheit kaum ohne Insulin zu senken, obwohl nach den bisherigen Ausführungen auch gegenteiliges denkbar ist und sicherlich andere Erfahrungen bestehen, es sei denn durch Bewegung und körperliche Arbeit. Dieser aktive heilende Weg ist aber für viele übergewichtige, dazu mit Gelenkbeschwerden behaftete Diabetiker nicht gangbar, so dass nur Insulin und orale Antidiabetika als Behandlung übrig bleiben, ganz im Sinne der Industrie. Aber bei Psychopharmaka, Schmerzmitteln, Erkältungsmitteln, Antiallergika und vielen anderen Präparaten spielen die Überzeugungen eine wichtige therapeutische oder gegenteilige Rolle.

Es gilt jedoch zu unterscheiden zwischen Werbung und Realität, den Interessen von Ärzten und Industrie und eigenen Patienteninteressen. Leider haben innerhalb der Medizin die Technik- und Apparategläubigkeit, die Profitinteressen und das alleinige naturwissenschaftliche Weltbild zu breiten Raum eingenommen und machen das Gesundheitssystem so teuer. Beim Unterscheidungsvermögen sind Selbstvertrauen und ein gewisses Vertrauen in die Welt notwendig, das aber bei Krankheiten in Teilbereichen nicht vorhanden ist und den Kern von Krankheit ausmacht. Vertrauensseligkeit ist die Abwehrform von Misstrauen.

Jede therapeutische Maßnahme ist ebenso wie die Krankheit selbst eine Reise ins Unbekannte. Selten kann man trotz aller Werbeversprechen auf der sicheren Seite sein. Aber die Unsicherheit gehört zu den Wandlungen und Unwägbarkeiten des Lebens. Jede Sicherheit trägt die Unsicherheit und jede Unsicherheit die Sicherheit in sich. Sie gehören wie Yin und Yang (Das Zeichen von Yin und Yang symbolisiert die Harmonie der Gegensätze) zusammen. Kürzlich hörte ich einen Vortrag über die chinesischen Medizin und hatte den Eindruck, dass dort Ziele und Ergebnisse der Psychoanalyse und der Tiefenpsychologie schon seit Jahrhunderten/tausenden vorweggenommen und festgehalten wurden wie die Zusammengehörigkeit von Widersprüchen und Gegensätzen und die Wandelbarkeit des Lebens. Durch den enormen technischen Fortschritt hat jetzt China ähnliche Probleme wie die alten Industrienationen, hat seine Wurzeln verloren und versucht mit aller Macht und Terror seine Identität zusammenzuhalten. Unser auf griechische Wurzeln bei Aristoteles zurückgehendes Weltbild der objektiven Tatsachen wurde schon damals in der Philosophie von Heraklit „pantha rhei, alles fliesst“ und „man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“ infrage gestellt.

Siehe auch die Artikel über den Placeboeffekt und über John Virapen.

Von Bernd Holstiege