"Die Seele ist für einen Bürger das, was für eine Stadt die Fußgängerzone ist. Tagsüber boomt das Geschäft, aber nach Ladenschluß torkeln nur noch ein paar Zerzauste herum."

 

Über die Verletzlichkeit von Seele und Geist:  Eine Einführung

 

Serie: Psychotraumatisierung in unserem heutigen Alltag  ( Teil 1/4)

 

Heute nach einer Radtour erzählte mir der Radfreund, er habe zwei Nächte wegen Alpträumen kaum schlafen können. Ich hatte ihm erzählt, dass mich etwas stark beschäftigt hatte, weswegen ich früh aufgewacht war. Ich bat ihn, mir einen zu schildern. Seine vor zehn Jahren verstorbene Partnerin sei im Traum wutentbrannt durch die verschlossene Tür auf ihn losgegangen. Er habe vorher einen Brief an die ihm werte Frau eines eng befreundeten Ehepaares, das weit fortgezogenen war, geschrieben. Dummerweise habe ihr Mann den Brief, in dem er liebevolles geschrieben habe, zuerst in der Hand gehabt und werde sie natürlich über den Inhalt befragen. Dabei habe er zum ersten Mal nach dreißig Jahren überhaupt einen Brief geschrieben. Nachdem ihn damals die Gewerkschaft als Bildungsreferent aus politischen Gründen entlassen habe, habe er sich geschworen, nie mehr einen Brief  zu schreiben oder eine Zeitung zu lesen.

 

Schwere körperliche Verletzungen, Unfälle, Naturkatastrophen, Folterungen, Mißhandlungen und damit verbundene Schmerzen bewirken zugleich eine tiefgehende Verletzung des Geistes und der Seele. Dies wird als Psychotraumatisierung bezeichnet. Der Körper mag schon lange verheilt sein, aber die Wunde der Seele bleibt bestehen. Im traumatisierten Zustand ist die Verletzung der Psyche und des Geistes die wesentlichste und folgenreichste Verletzung.

 

Jedoch nicht nur körperliche Verletzungen können zur Psychotraumatisierung führen, sondern auch alleinige schwere Verletzungen der menschlichen Seele wie Blamage, Peinlichkeit, Scham, Schuld, Verurteilungen, Entwürdigungen, Verachtung, Lächerlichkeit oder auch der Tod und schwere Erkrankung von nahen Angehörigen. Beides ist häufig von Schuldgefühlen begleitet. Diese Verletzungen führen zu einer narzißtischen Herabsetzung des Wertes eines Menschen, einer Entwertung bis zur abgrundtiefen Verurteilung sowohl im Selbstbild des traumatisierten Menschen als auch durch die Entwertung von außen im Fremdbild, also im Bild der Verurteilenden. Im unserem Volksmund spricht man beispielsweise von „…vor Scham im Boden versinken“, in manchen Kulturen davon, „das Gesicht zu verlieren“  und in anderen führt die Verurteilung zum Selbstmord, wie dem Vodoo-Tod. Auch Ehrenmord und Duelle dienen zur Wiederherstellung der Ehre. So sehr lebt der Mensch von der Achtung anderer, dass die Verurteilung im Angesicht anderer ihm die Lebensberechtigung nimmt. Selbst- und Fremdbild, also die Bilder verschiedener Personen, verschmelzen zu einem einzigen Bild, und die Individualität geht verloren. Die Psychotraumatisierung  ist jedoch nicht allein ein seelisch-geistiger Vorgang, sondern über die Einprägungen in den Nervenzellen und den Verlust von Nervenverästelungen und -verbindungen und die biochemischen und hormonellen Veränderungen ein körperlicher Vorgang. Sie verändert die Hirnstruktur.

 

Die Psychotraumatisierung kann nicht nur durch schwere traumatische Ereignisse im Kinder- oder Erwachsenenalter, sondern auch alltäglich in der Form der intersubjektiven Beziehung zwischen Kind und Eltern in den Prägungen der Kindheit entstehen. Jegliche Form der Bedrohung, die ein Kind an der positiven Entfaltung seiner Persönlichkeit und seines Lebensweges behindert, zu einer Entwertung und Stigmatisierung und unter Selbstaufgabe eigener Ziele zu einer Anpassung an andere Personen und deren Normen führt, ist ebenfalls eine Psychotraumatisierung. Das kindliche Trauma kann sogar soweit gehen, dass es in der Eltern-Kind-Beziehung zu einer Rollenumkehr, der Paternalisierung, führt. Das Kind hat dann in einer Elternposition seine Eltern wie ein Kind vor den Bedrohungen zu schützen, die vom Kind selbst ausgehen können, etwa laut, böse, wütend, schmutzig oder unhöflich zu sein. Die Eltern würden etwa fürchten, einen Säufer, Schläger oder Hurenbock heran zu ziehen. Dies Beispiel zeigt, dass das Zentrum der Psychotraumatisierung der Zukunftsentwurf ist, die Verhinderung einer bedrohlichen Zukunft. Psychoanalytiker sprechen von einer unerträglichen Diskrepanz zwischen Es und Über-Ich, wobei das Ich den Umgang regelt, also einem neurotischen Konflikt. Jedoch ist diese Neurose auch unter der Traumaperspektive aufzufassen.

 

Das Trauma gräbt sich so stark in den menschlichen Geist ein, daß nur noch das traumatische Erlebnis die Wahrnehmung und Erwartungen bestimmt, andere Dinge nicht oder kaum noch wahrgenommen werden können. Dadurch geht das Differenzierungsvermögen verloren. Es wird überhaupt nicht mehr wahr genommen, inwieweit neue Ereignisse in anderen Zeiten und unter anderen Umständen stattfinden. Jeder Mensch richtet seine Wahrnehmung und Erwartungen nach seinen Erfahrungen. Gute Erfahrungen schaffen Hoffnung, schlechte das Gegenteil. Durch sie wird ein fortdauernder Zustand der Traumatisierung und eine virtuelle Welt geschaffen, die für den Traumatisierten infolge des Verlustes des Differenzierungsvermögens seine persönliche reale Welt darstellt. In dieser virtuellen Welt ist der Traumatisierte vor allem auf die Verhinderung der erlebten schlimmen Erfahrungen ausgerichtet, je schlimmer diese, um so dringlicher müssen sie in Form von Mechanismen und Automatismen verhindert werden. Als Folge ergibt sich eine Herrschaft der Mechanismen und Automatismen, die sozusagen ein Eigenleben entfalten. Die Etablierung dieser Welt in unserem heutigen Alltag ist die eigentliche Tragik der Psychotraumatisierung.

 

Da Geist und Körper eine Einheit bilden, kann nicht nur die äußere Verletzung zur seelischen werden, sondern sogar zu körperlichen Folgen führen bzw. sie ist von diesen begleitet. Die seelische Verletzung wird durch den krankmachenden Effekt auch als Kränkung bezeichnet. Inwieweit diese immaterielle oder auch virtuelle Welt zur realen, körperlich gespürten Welt wird, läßt sich sehr gut am Phantomschmerz nachvollziehen. Die körperliche Verletzung und der Verlust eines oder mehrerer Körperglieder werden beim Phantomschmerz paradoxerweise als tatsächlicher körperlicher Schmerz an einem doch verlorenen und nicht mehr vorhandenen Glied erlebt. Der Verlust des Körpergliedes schmerzt seelisch, wird jedoch als körperlicher Schmerz erlebt, der stellvertretend den seelischen Schmerz repräsentiert. Den Hintergrund bildet, daß es den menschlichen Geist und das etabliertes Weltbild des Betroffenen überfordert, den Verlust zu akzeptieren, sich mit dem neuen Zustand zu arrangieren und ohne dieses Glied seelisch schmerzfrei weiter leben zu können.

 

Da der Phantomschmerz nicht alle, die den Verlust von Körpergliedern erleiden, in gleicher Weise betrifft, manche werden recht gut mit dem Verlust fertig, setzt er eine Vulnerabilität im vorhandenen Weltbild dadurch voraus, daß als Abwehr früherer  anderer Verletzungen ein Gegen- und Größenbild von Unversehrtheit und Unverletzlichkeit etabliert ist und in diesem Unverletzlichkeitsbild jegliche Verletzungen eine Psychotraumatisierung bedeuten. Der virtuelle Schmerz hat wie erwähnt auf der Ebene der Nervenzellenstruktur und biochemischen Veränderungen seine körperlichen Voraussetzungen und erklärt insofern den körperlichen Schmerz.

 

Aus dieser Perspektive können viele, nicht körperlich begründbare Schmerzen Phantomschmerzen sein, die stellvertretend eine seelische psychotraumatische Verletzung repräsentieren. So können u. a.  Tinnitus und Hörsturz, Rücken-, Kopf-, Bauch- und Gelenkschmerzen eine im Inneren vorhandene Verletzung und Kränkung versinnbildlichen, die sich aus früheren Erfahrungen und dadurch der Bewertung der gegenwärtigen und zukünftigen Situation ergeben und sozusagen als Phantom in späteren Situationen auftauchen. Sie stellen sich auf seelischer und körperlicher Ebene schmerzlich dar. Schließlich reagieren nicht alle in gleicher Weise auf dieselben oder ähnliche Belastungen in Kränkungen und Schmerzen. Manche zuvor Nichttraumatisierte können sogar körperliche Verluste seelisch schmerzfrei überstehen, sich auf die neue Situation einstellen und das Beste daraus machen.

 

Weiterhin zeigt sich, wie sehr durch das Trauma die persönliche und kollektive Willensfreiheit und Selbstbestimmung beeinträchtigt, ja sogar unterbunden ist. Das ursprüngliche Opfer wird durch die Folgemechanismen der Verhinderung der Bedrohung zum Täter für sich selbst und oft genug für andere, da im zwischenmenschlichen Kontext andere, evtl. vorher Nichttraumatisierte einbezogen werden und dadurch ebenfalls traumatisiert werden können. Ein Beispiel für eine extreme Traumatisierung ist der Bestseller und Thriller „Bibelverschwörung“ von Julia Navarro. Darin schlagen die bisherigen „Opfer“ zurück, indem sie die damaligen Aggressoren und Traumaverursacher nach 50 Jahren verfolgen. Aus den Aggressoren werden also Opfer und aus den Opfern Aggressoren. Die Konzepte der Psychotraumatisierung als Krankheitsrisiko sind noch eine relativ neue wissenschaftliche Erkenntnis.

 

Erste Berichte über Erkenntnisse des Traumas und seiner geistig-seelischen und körperlichen Folgen sind als wissenschaftlich anerkannte Forschungsergebnisse von KZ-Überlebenden und norwegischen Kriegsgefangenen bekannt. Beide Gruppen waren nach ihrer Befreiung zuerst erleichtert, wurden als Helden gefeiert, bis sich nach und nach die Folgesymptome herausstellten. Die norwegischen Gefangenen führten ihre Beschwerden auf ihre Gefangenschaft und die grausamen Erlebnisse wie Folterungen bis zu Scheinexekutionen zurück, wurden aber anfangs von der norwegischen Psychiatrie nicht anerkannt, da diese noch keine Vorstellung von dem Wesen der Traumatisierung hatte. Erst nach jahre- und jahrzehntelanger Beobachtung erfolgte eine Anerkennung der Nachfolgeleiden. Interessant ist, daß Symptome über die gesamte Krankheitspalette auftraten. Die Psychotraumatisierung ist in ihrer Nachfolgesymptomatik, da die inneren Versinnbildlichungen oft schwer erfassbar sind, also oft ziemlich unspezifisch.

 

KZ-Überlebende litten über Jahrzehnte unter Alpträumen, in denen sie die traumatischen Situationen immer wieder erlebten und Angst vor jeder Nacht hatten. Ihre Ängste übertrugen sie transgenerationell auf ihre Kinder und Kindeskinder, wie deren Psychoanalysen zeigten. Hinzu kam, daß KZ-Überlebende, die etwa nach Israel auswanderten, dort auf erhebliche Ressentiments trafen, aus israelischer Sicht insofern verständlich, da sie durch ihre ursprünglich individuellen Probleme zu einem gesellschaftlichen Problem, sogar zu einer Last für den Staat wurden und oft nicht wie die übrigen Einwanderer beim Aufbau des Staates mithelfen konnten. Dadurch verstärkte sich ihre Tragödie.

 

Als eigenes Krankheitsbild wurde die (Psycho)Traumatiserung erstmalig als Begriff in der amerikanischen Psychiatrie im Gefolge des Vietnamkrieges als Posttraumatisches Belastungssyndrom (PTBS) eingeführt. Die im Krieg traumatisierten Soldaten litten über Jahrzehnte unter Nachfolgesymptomen, fielen dem amerikanischen Staat finanziell gewaltig auf die Tasche und waren häufig kaum noch sozial integrierbar. Ähnlich erging es Soldaten aus den beiden Golfkriegen. Auch große Teile der irakischen Bevölkerung werden zunehmend traumatisiert, verstärkt, da sie noch stärker hilflos dem Terror ausgeliefert sind und nicht einfach das Land verlassen können. Langsam erkannte man, daß die Traumatisierung auch (Natur)Katastrophenopfer, sogar deren Helfer, betrifft wie Tsunamiopfer  oder das Umfeld von Aidstoten, meist im afrikanischem Raum, was als gigantische globale Welle auf uns alle zurollt. Andere Menschen kommen aus Ländern, in denen sie überdurchschnittlich häufig Naturkatastrophen oder politischer Verfolgung, Haft und Folter ausgesetzt sind. Im Gefolge haben sich weltweit Therapieorganisationen und spezifische Behandlungsformen wie EMDR (vergleiche Glossar) etabliert.

 

Das Trauma ist als ein vitales, d. h. das Überleben betreffendes Diskrepanzerlebnis zwischen der bedrohlichen Situation und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht, definiert und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt. Die Posttraumatische Belastungsstörung bzw. –syndrom (PTBS) ist ein ständiges Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in wiederholten, sich aufdrängende Erinnerungen an das Ereignis, wiederkehrende belastende Alpträume, in denen die Traumasituationen erneut erlebt werden und deswegen Schlafstörungen und Ängste vor der Nacht auftreten, dazu plötzliche Gefühle  und Handlungen, als ob das Ereignis wiedergekehrt wäre, und Wiedererleben nach Konfrontation mit internen oder externen Reizen, die einem Aspekt des traumatischen Ereignisses ähneln, es symbolisieren oder daran erinnern. Die Folge ist ein anhaltendes Vermeiden von Reizen, die mit dem Trauma assoziiert sind, und eine Einschränkung der allgemeinen Aktivitäten im Vergleich zur Zeit vor dem traumatischen Ereignis. Die Vermeidung betrifft Gedanken, Gefühle oder Gespräche, Aktivitäten, Orte oder Personen, also ein Schweigen über die Traumasituation, sowohl von Opfern, als auch von Tätern, für die ihre Handlungen und Verbrechen ebenfalls ein Trauma darstellen. Deswegen müssen etwa Naziopfer- und –täter schweigen. Die Nachfolgeleiden sind anhaltende Symptome erhöhter Erregung, die vor dem Trauma nicht bestanden haben, Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit oder Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, extrem erhöhte Aufmerksamkeit und übertriebene Schreckreaktionen

 

Über die Eigenerfahrung hinaus führen aber auch durch Identifizierung und Empathie, wobei das Erlebnis des einen zum Erlebnis des anderen und nahe Angehörige, das helfende Umfeld auch ohne ursprünglich eigenes Trauma zu Mitbetroffenen werden, wie das Miterleben des plötzlichen Todes einer Person, Mitansehen, wie eine Person starke Schmerzen oder physische Verletzungen erleidet, zu einer Psychotraumatisierung. Auch zwischenmenschliche Traumaursachen wie Scham- und Schuldgefühle, der subjektive Eindruck, betrogen worden zu sein, oder die Überzeugung, in der Verantwortung versagt zu haben und dadurch anderen Schaden zugefügt zu haben, die Überzeugung, ungerechtfertigt überlebt zu haben oder geflohen zu sein und dabei keinen körperlichen Schaden davongetragen zu haben, die Verletzung von oder Widerspruch gegen Grundüberzeugungen (Gott, Freundschaft, Loyalität, Fairneß, Gerechtigkeit, Treue oder Kompetenz) oder die Überzeugung, jemanden oder etwas verraten zu haben, können dazu führen.

 

Die wesentlichen Elemente der Psychotraumatisierung, wobei sämtliche menschlichen Verarbeitungsfähigkeiten überfordert sind, sind das Ausgeliefertsein, die Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber der katastrophalen Erfahrung. Allein schon eine Krankheit und Lebenssituationen, denen der Mensch nach seiner inneren Wahrnehmung und seinen Kriterien sich hilflos ausgeliefert fühlt, kann durch die erlebte Ohnmacht eine erneute Traumatisierung darstellen. Deswegen haben Helfer und Heiler eine so ungeheure Bedeutung. Stehen diese nicht zur Verfügung, muß der traumatisierte Mensch mit eigenen Ressourcen wie den Abwehrmechanismen zurecht kommen und je nach Intensität der Traumatisierung und mit absoluter Macht die Bedrohung kontrollieren. Absolute und terroristische Herrscher, Dogmatiker und Fundamentalisten, die kein anderes Verhalten zulassen können, haben also einen psychotraumatischen Hintergrund.

 

Ein anschauliches Beispiel der Macht und Kontrolle auf dem Hintergrund von Ohnmacht und Hilflosigkeit stellen die oberen Hierarchien der katholischen Kirche dar. Diejenigen, die am wenigsten am Zeugungsprozeß beteiligt sind, nämlich die Priester und Greise, die Priester, weil sie dem Zölibat verpflichtet sind, die Greise, weil sie zur Zeugung zu alt sind, üben den stärksten Einfluß auf den Bauch und die Selbstbestimmung der Frauen durch das Abtreibungsverbot aus. Ihr Trauma ist die Ausgeschlossenheit aus intimer und naher Zwischenmenschlichkeit. Die Machtausübung über andere ist die häufigste Form der Verarbeitung der Ohnmacht und ihrer Kränkungen.

 

Durch die Psychotraumatisierung wird also die Selbstbestimmung, Souveranität und Freiheit des Menschen völlig außer Kraft gesetzt. Durch die Fortdauer des Traumas in vielen Lebenslagen entsteht Ewigkeit, Unendlichkeit und Linearität. Die Wechselhaftigkeit des Lebens, verschiedene Interessen, Standpunkte und Perspektiven  können nicht mehr wahr- und angenommen werden. Da unsere westliche Kultur  Selbstbestimmung und –verantwortung der Handlungen im Leben zur Grundlage des Rechtssystems nimmt, sind bei Rechtsverletzungen, auch wenn jemand unter Traumabedingungen nicht anders kann, Schuld und Strafe eine erneute Traumatisierung. Die Strafe, ein Trauma zu erleiden, wird zusätzlich bestraft.

 

Das anfangs angeführte Beispiel zeigt deutlich die Langlebigkeit der Erfahrung einer traumatischen Beziehung, hier alptraumartig noch zehn Jahre nach dem Tod der Partnerin die Auswirkung von Eifersucht und Rachsucht. In dieser Beziehung war die Partnerin jahrelang schwer asthmakrank, so daß der Partner kaum das Haus verlassen konnte aus Angst, sie könne jederzeit sterben und er habe ihr nicht geholfen. Nach ihrem Tod litt er lange unter Depressionen und Rückzug, sicherlich aus Schuldgefühlen und infolge der Alpträume. Ich kann ihr Asthma gut verstehen, seine aufdringliche Hilfsbereitschaft erzeugt auch bei mir öfter Aggressionen und diese sind infolge seiner Gutwilligkeit nur schwer zu artikulieren. Wegen ihrer ausbruchsartigen Wutanfälle hatte er kaum Außenschritte gewagt, sie dagegen alle seine Schritte überwacht, er den Beruf aufgegeben, um jederzeit zur Stelle sein zu können. In dieser Dyade sind beide sozusagen erstickt, sie als die designierte Kranke und vorzeitig verstorben. Er glaubt zwar, er sei aus politischen Gründen entlassen worden, aber seine Mitarbeiter müssen schon vorher seine Rigidität mitbekommen haben, wie in seinem langlebigen Schwur zum Ausdruck kommt, so daß er sich unbeliebt machte und schwer mit ihm auszukommen war. Er hatte mir früher einiges über die Gegebenheiten seiner und der Kindheit seiner Partnerin erzählt, die mir damals einiges erklärten, mir jetzt aber nicht mehr so präsent sind.

 

In weitern Artikeln stellen wie die Herrschaft der Mechanismen und Automatismen in unserem heutigen Alltag, das Patriarchat als Traumafolge und die Traumatisierung im menschlichen Werdegang dar.

 

Literatur:

 

Kapfhammer, H.-P. (2002). Neurobiologie der Posttraumatischen Belastungsstörung. In: Psychotherapie 7, S. 247-259.

 

Kunzke, D. & Güls, F. (2003). Diagnostik einfacher und komplexer posttraumatischer Störungen im Erwachsenalter: Eine Übersicht für die klinische Praxis. In: Psychotherapeut 48, S. 50-70.

 

Levine, Peter A.: Trauma-Heilung. Synthesis, 1998, ISBN 3922026915

 

Rothschild, Babette: Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. Synthesis, 2002, ISBN 3-922026-27-3

 

Francine Shapiro: EMDR. Grundlagen & Praxis; Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen, Junfermann, Paderborn 1999, ISBN 3-87387-360-5

 

Arne Hofmann: EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome, Thieme, Stuttgart 2005, ISBN 3-13-118243-1

 

Glossar:

 

EMDR  Eye Movement Desensitization and Reprocessing, die wohl bedeutenste von Francine Shapiro in der USA entwickelte Therapieform bei posttraumatischen Störungen. Beim EMDR regt der Therapeut den Patienten nach strukturierter Vorbereitung zu bestimmten Augenbewegungen an, wodurch es möglich werden soll, leichter das Trauma zu bewältigen und eine Integration der mit dem Trauma verbundenen Emotionen und Empfindungen zu erreichen. Es wird angenommen, daß durch die bilaterale Stimulation mittels bestimmter Augenbewegungen (oder auch akustischen oder taktilen Reizen), eine Synchronisation der Hirnhälften ermöglicht wird, die bei der posttraumatischen Belastungsstörung gestört sind. Erklärend wird Bezug genommen auf den REM-Schlaf, einer Schlafphase, bei der starke Augenbewegungen stattfinden und zugleich ein erhöhter Verarbeitungsmodus des im Alltag Erlebten vermutet wird.

 

Vulnerabilität  Verletzlichkeit

 

Für Otmar

 

Autor: Bernd Holstiege

unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 11.09. 2007

Foto: © Weltexpress

Verwertung: Weltexpress

Alle Rechte beim Autor

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 11.09. 2007