Die Entwicklung des patriarchalischen Weltbildes als Traumafolge

Serie: Psychotraumatisierung in unserem heutigen Alltag  (Teil 3/4)

 

Eine Serbin hatte sich hier in Deutschland einundzwanzigjährig von ihrem Freund getrennt. Aus Rache vergewaltigten und mißhandelten er und vier seiner Freunde sie so schwer, dass sie mehrere Rippenbrüche erlitt. Sie zeigte die Männer an, brach aber in der Gerichtsverhandlung zusammen, nahm nicht mehr teil, wollte von allem nichts mehr wissen, so daß sie bis heute noch nicht weiß, wie die Gerichtsverhandlungen ausgegangen sind. Sie entfernte sich aus dem serbischen Kreis und heiratete einen Deutschen, mit dem sie zwei Kinder bekam. Ihre Landsleute seien grausam, für sie sei sie sowieso eine Prostituierte. Als sie einmal ansetzte, ihrem Ehemann davon zu erzählen, habe er gleich gesagt „Davon will ich nichts wissen!“ und sie habe mit niemanden mehr darüber gesprochen. Allein bei dem Gedanken, darüber zu sprechen, sträube sich innerlich alles dagegen. Die Menschen seien so, dass sie hinter ihrem Rücken schlecht redeten.

Heute nach gut 35 Jahren sind die Mitwisser fortgezogen oder gestorben, die damaligen Polizisten in Pension, so daß nur noch ihre beste Freundin Bescheid weiß. Diese lag ihr in den Ohren, wenigstens mir, ihrem Therapeuten, davon zu erzählen. Der Rentengutachterin konnte sie nur Andeutungen machen und ihrem Behindertenbetreuer, der sie an mich vermittelt hatte, hatte sie nichts erzählen können. Noch heute habe sie Alpträume, in denen sie das Erlebnis nacherlebe und oft nicht schlafen könne. Ihr Mann wecke sie, wenn sie nachts schreie „Faßt’ mich nicht an!“. An Arbeitsplätzen habe sie es nie länger ausgehalten. Während der Gerichtsverhandlungen habe sie so unter Streß gestanden, dass sie sich ihrem Sohn nicht habe positiv zuwenden können, und er wegen eines ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hypermotilitäts-Syndrom) eine Kindertherapie habe machen müssen. Sie habe sich derartig aufgeregt, als ihr ihre Schwiegereltern vorhielten, sie erziehe ihn nicht richtig. Heute errege sie sich über ihren Sohn, da er kaum einen richtigen Beruf ausübe, Stunden mit Spielen am Computer verbringe, wenig Kontakte habe, all sein Geld für Spiele ausgebe und sich sonst von ihr verköstigen lasse. Und wenn sie etwas dagegen sage, rege er sich furchtbar auf und drohe sich umzubringen. Ihr Mann sei als Fernfahrer meist unterwegs und sage nur „Was hast du, er trinkt nicht, raucht nicht, wird nicht kriminell?“

In den vorangegangenen Artikeln wurden die Reaktionsbildungen und Verhinderungsstrategien der Betroffenen auf die gefürchteten Bedrohungen als Folge der Psychotraumatisierung beschrieben. Zur Gewinnung von Sicherheit wird die Macht der Normen, Regeln, Gesetze dagegen gesetzt, die um so strenger und rigider sein müssen, je größere Bedrohungen gefürchtet werden. Fest in die Neurone eingebrannt und durch den Verlust der Nervenverästelungen und –verknüpfungen, können sie in vielfältiger Weise und in vielen Lebenssituationen den Charakter von Mechanismen und Automatismen einnehmen.

Wo kann nun ein allgemeingültiges Gesetz, das vor allen Bedrohungen schützt, besser verkörpert werden als im Patriarchat?! Der mächtige Vater erfüllt eine Schutz- und Erlösungsfunktion zugleich. Um diesen Zusammenhang besser verstehen zu können, müssen wir uns die Vorgeschichte vor Augen führen, sowohl in der Menschheitsgeschichte und deren Kulturen, der Phylogenese, als auch in der Entwicklung eines jeden Individuums, der Ontogenese. Viele, wenn nicht sogar alle menschlichen Probleme sind in allen Kulturen seit Jahrhunderten und –tausenden irgendwo in Märchen, Fabeln und Mythen, meist personifiziert in handelnden Personen und Gestalten, festgehalten, deren metaphorische Rückübersetzung auf unseren heutigen Alltag aufschlußreich sein kann.

In der Menschheitsgeschichte war in früheren Zeiten die Welt von männlichen und weiblichern Göttern und Geisten belebt, die in den jeweiligen Bedrohungen zum Schutz angerufen und denen, um sie gewogen zu machen, Opfer dargebracht wurden. Sie symbolisierten personifiziert die Ängste und Hoffnungen. Es bestand eine Vielfalt, deren Widersprüche und damit Unsicherheiten nur begrenzt schützten und eine erneute Bedrohung darstellen konnten. Mit der Mengenzunahme der Menschen, der Platz- und Ressourcenverteilung und -kämpfe, nahmen auch deren Konflikte zu, in Kriegen mit allen katastrophalen Begleiterscheinungen, Völkerwanderungen nach Klimaveränderungen und Dürreperioden. Dadurch wurden die Menschen untereinander sich selbst zur Bedrohung. Seuchen übertrugen sich schneller und umfangreicher. Naturkatastrophen, gegenüber denen der Mensch ohnmächtig war und oft noch heute ist, fanden weiterhin statt. Diese ängstigenden Erfahrungen pflanzten sich ins kulturelle Gedächtnis ein.

Insofern war es nur verständlich und ein menschlicher Fortschritt, daß nach einer starken Hand gesucht wurde, sich auf einen Einzigen, Übermenschlichen und Allmächtigen zu konzentrieren, der  auf alle Bedrohungen eine einzige, alleinige, ewige Antwort weiß und für alle Zeiten Schutz und Rettung zugleich bot. Man nennt ihn Gott. Das war der Übergang vom Polytheismus zum Monotheismus, dem vor allem die großen Weltreligionen, die denselben Gott anbeten, das Judentum, das Christentum und der Islam, anhängen. Der Gott in den Familien ist im patriarchalischen System dann der Vater.

In seiner individuellen Entwicklung, der Ontogenese, ist jeder Mensch in seiner frühen Kindheit seinen frühen Bezugspersonen total ausgeliefert und wird von diesen geprägt. Er braucht menschliche Bezugspersonen existentiell, nicht nur für sein leibliches Gedeihen, sondern auch für sein seelisch-geistiges Gedeihen als Mensch, das wiederum existentiell wichtig ist für sein körperliches Gedeihen. Berühmte Beispiele für das Fehlen von menschlichen Bezugspersonen sind:

1.  im Mittelalter die Versuche von Friedrich II, der von einer menschlichen Ursprache ausging und diese erforschen wollte, deswegen Kleinkinder gut körperlich versorgen ließ, aber ihnen menschliche Bezugspersonen und damit die Kommunikation entzog. Alle Kinder starben.

2.  die Erfahrungen mit Kindern, die ohne menschliche Beziehungen unter Tieren aufwuchsen, (Lucien Malson u.a. „Die wilden Kinder“, Suhrkamp Taschenbuch, Nr.55) zwar körperlich gediehen, aber das menschliche Sein nicht entwickeln konnten. Dies war auch später unter Menschen kaum nachholbar. Diese Erfahrungen weisen auf die starke, schwer korrigierbare Kraft der frühen Kindheit hin.

 

Die Personen, die am meisten um das Kind herum sind, haben die stärkste Prägekraft, und diesen ist es am stärksten ausgeliefert. Am häufigsten ist dies die Mutter. Wenn diese sich aus mannigfaltigen Gründen bedroht fühlt, da sie aus der eigenen Entwicklung und/oder durch spätere katastrophale Erfahrungen traumatisiert ist, lebt sie diese Bedrohungen und ihre Reaktionsbildungen dem Kinde vor und diese übertragen sich auf das Kind, das ungeprägte und unerfahrene Wesen. Wenn die große Mutter von der Gefahren fest überzeugt ist, wird das kleine Kind wohl kaum eine andere Überzeugung vertreten können, es sei denn eine dritte Person wie der Vater ist anwesend, der eine andere Überzeugung vertritt. Es nimmt die Bedrohungen und Traumatisierungen in sich auf und wird dadurch selber traumatisiert. Diese werden zu seinem persönlichen und kulturellen Gedächtnis, dem seiner Familie und, wie in einem Kern zusammen gefaßt, einem Teil der ganzen Menschheit. Hinzu kommt, daß oft genug das Kind und seine vitalen Bedürfnisse für die Mutter eine Bedrohung darstellen, vor denen das Kind in einer Art Rollenumkehr die Mutter zu schützen hat.

Aus der Perspektive des Kindes ist die traumatisierte Mutter einerseits die Bedrohung, im vergleichenden Mythos der biblischen Schöpfungsgeschichte die Urmutter Eva vom Teufel beseelt, der sie zur Sünde verführt und diese Sünde generationsübergreifend zur Erbsünde für die Menschheit werden lässt. Andererseits stellt sich die Mutter als die Schützerin und Retterin vor den Gefahren dar und wird so vom Kind wahrgenommen. Durch diese Doppelgesichtigkeit der Mutter, Bedrohung und Schutz zugleich, gerät das Kind in ein schweres Dilemma, in dem Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein dann wiederum die stärksten Bedrohungen sind.

Ich hatte mehrfach der Psychose nahe Patienten, wo die Mutter den Schutz für die Patienten darstellte vor den Ängsten, die sie selbst ihnen bereitet hatte. In der Tierwelt habe ich beobachtet, wie die Maus sich unter dem Bauch der Katze vor den Bedrohungen zu verkriechen suchte. Ich erinnere mich, vor ca. dreißig Jahren bei der hessischen Landtagswahl auf dem WC eines Bekannten eine Karikatur gesehen zu haben, in der die CDU die von der SPD ausgehenden Gefahren als Teufel an die Wand malte und sich selbst den Wählern als Retter empfahl. Damals wurde mir dieser doppelgesichtige Zusammenhang von Angstmache und Rettungsfunktion erstmalig deutlich. Dieses Mittel wird oft zum politischen Wählerfang eingesetzt.

In diesem Dilemma, zusätzlich in der oben erwähnten häufigen Situation die Mutter vor den vom Kind ausgehenden Bedrohungen zu schützen, ist es für das Kind oft lebensrettend, wenn eine eindeutige, starke Person wie der Vater ein Gegengewicht darstellt, es schützt und aus den Verstrickungen mit der Mutter erlöst. Wegen dieser Doppelgesichtigkeit der Mutter ist die Eindeutigkeit der zentrale Punkt. Auch im sonstigen Leben ist unter den Menschen Eindeutigkeit favorisiert, und Mehr- und Vieldeutigkeit bereiten Ängste und Verwirrung. Der Wunsch nach dem göttlichen Vater, der Schutz und die Erlösung durch den guten Vater und der Wunsch nach dessen Herrschaft, dem Patriarchat, sind geboren, wobei es letztlich um das Gute, Starke und Eindeutige geht, personifiziert im Vater. Dieser Vater schafft das Paradies. Das Patriarchat ist also ein Gegengewicht zum frühen widersprüchlichen Eingebundensein bei der traumatisierten Mutter, wo die Mutter in ihrer Doppelgesichtigkeit herrscht und das Kind dieser Doppel- oder Mehrfachgesichtigkeit ausgeliefert ist, und dient dessen Überwindung.

Wenn dieser Vater ebenfalls traumatisiert ist, hat die Schutz- und Erlösungsfunktion des Vaters wiederum ihre Schattenseiten, und er stellt seinerseits eine Bedrohung dar. Je vielfältiger und je tiefer er Gefahren fürchtet, desto rigider wird er zum Schutz eine Verhinderungsstrategie in Geboten und Verboten errichten. Auf der Suche, das Paradies zu schaffen, kann er ein absolutes Regime bis zum Terrorregime errichten. In diesem steckt wiederum der Teufel. Eine anschauliche Parabel für die traumatisierte Familie und die Errichtung des Patriarchats liefert in Religion und Mythologie die biblische Schöpfungsgeschichte. Dazu wurde im Artikel „Trauma und Alltag in biblischen Mythen“ weiteres ausgeführt (im Archiv, bei „Suchen“ Bernd Holstiege eingeben). Ähnlich wie von traumatisierten Eltern die Erfahrungen meist nicht benannt werden, weswegen sie diese oder jene Gebote und Verbote aussprechen und Gesetze herrschen, weil sie oft unbewusst und unbenennbar sind, bleibt die Vorgeschichte Gottes vor seiner Erschaffung der Welt und die Gründe für seine Verletzungen im Dunkeln, sind unbenennbar und verleugnet.

Da diese in der Vorgeschichte erlebten Bedrohungen verleugnet sind, tauchen sie getreu den Traumagesetzen in allen möglichen harmlosen Alltagssituationen in der Gestalt des Teufels wiederum auf, von dem Eva sozusagen als Kind und Urmutter zugleich verführt und angesteckt wird. Diese Bedrohungen finden sich nach den Traumagesetzen überall in allen möglichen, vor allem symbolisch analogen Lebenssituation, den Triggersituationen, wieder, in der Bibel im Apfel und dessen Symbolik, die die Erinnerung an das Trauma wach rufen, und werden generationsübergreifend zur biblischen Erbsünde. Unter Traumabdingungen sind Selbstbestimmung und Eigengesetzlichkeit verboten und Sünde, denn in ihnen stecken potentielle Gefahren.

Die Erlösungsfunktion im irdischen Jammertal in der christlichen Religion stellt Jesus Christus dar. In deutschen Märchen ist die Böse stellvertretend für die Mutter die Stiefmutter, und der Erlöser aus den Verstrickungen mit ihr der Prinz wie bei Aschenputtel, Dornröschen oder Schneewittchen.

In einer günstigen Familienkonstellation kann ein sicherer, ausgleichender Vater einer sich bedroht fühlenden Mutter durch ein Gegengewicht, andere Sichtweisen, sozusagen ihr den Kopf zurecht zu setzen, Stabilität vermitteln, solange sie nicht allzu sehr auf ihre Ängste fixiert ist und diese ihr nicht auszureden sind. Dann kann die Mutter sich ausgeglichener und gelassener dem Kind zuwenden. Sind beide traumatisiert, fungiert oft der Vater als verlängerter Arm der Mutter, beide bilden eine Übermacht gegenüber dem Kind. Oft entwickeln sich paradoxerweise dann die Verhältnisse in die Richtung, dass die Mutter das Kind vor dem Vater schützt, wobei er aus der Perspektive des Kindes der Böse und sie die Gute ist.

Dem obigen Fallbeispiel liegen vielfältige Traumatisierungen zugrunde. Der frühere Freund der Patientin muß eine existentiell bedrohliche Demütigung als Mann entsprechend dem kulturellen Kontext in sich getragen haben, so daß die Beendigung der Beziehung für ihn den Verlust der absoluten männlichen Herrschaft und die schlimmste Demütigung darstellte, die zur Wiederherstellung seines narzißtischen Gleichgewichts, also seiner Ehre, schwere Rache erforderte, analog einem Ehrenmord, wobei der Rufmord an der Frau seiner eigenen so empfundenen Demütigung entsprach. Sie selbst trug und trägt noch heute den Rufmord in sich, ebenfalls entsprechend dem kulturellen Kontext, dass eine Frau, die mit mehreren Männern Sexualverkehr hatte, eine Hure ist, gleichgültig unter welchen Umständen, so daß es für sie schwerste Ängste verursacht, überhaupt darüber zu sprechen. Sie ist schweigend ausschließlich um die Aufrechterhaltung ihres guten Rufes bemüht. Diese Demütigung, die ein Mensch in sich trägt, halte ich für eine schwerere Traumatisierung als die Vergewaltigung selbst.

Viele Traumaopfer tragen Schuldgefühle als das schwerwiegendere Trauma in sich und sind sehr empfänglich, also verletzlich, für sämtliche Schuldvorwürfe, wie diese Patientin gegenüber ihren Schwiegereltern. Ihr Ehemann, sicher wenig verständnisvoll gegenüber serbischen Traumatisierungen, stellt für sie kein hilfreiches Gegengewicht dar, indem er sich weitgehend entzieht, wahrscheinlich als Folge der starken Verurteilungen innerhalb seiner Familie. Andererseits können die Schwiegereltern nichts wissen von der verschwiegenen Not ihrer Schwiegertochter, so dass sie die Gründe für die verheerenden Auswirkungen ihrer Vorwürfe nicht kennen können. Dieses Beispiel zeigt die potentiell wichtige Schutz-, Errettungs- und Erlöserfunktion eines guten, starken Vaters und Patriarchen in einem vielfältigen Milieu von Traumatisierungen auf.

 

Autor: Bernd Holstiege
unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 29.11. 2007
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 29.11. 2007