Wie menschliche Selbstbestimmung und Freiheit durch die Folgen des Traumas, der Herrschaft der Mechanismen und Automatismen, verloren gehen.

 

Serie: Psychotraumatisierung in unserem heutigen Alltag (Teil 2/4)

 

Gestern begegnete ich beim Joggen einer Bekannten, die spazieren ging. Sie habe, wie so oft, unerträgliche Kopfschmerzen, sie müsse mal raus. Da wir immer eine gute Verhältnis hatten, wagte ich ihr zu sagen, die Kopfschmerzen hingen mit unterdrückter Wut zusammen, und zwar auf das nächste Umfeld, Partner, Kinder oder Eltern. Ja, entgegnete sie, sie habe eine Mordswut auf ihre Schwiegermutter, möchte sie am liebsten umbringen. Diese behandele sie wie den letzten Dreck, während sie immer freundlich sei und als Dank schlecht behandelt werde. Sie könne nicht anders, sie sei so erzogen, das sei wie ein Mechanismus, immer nett und freundlich sein zu müssen. Wir unterhielten uns darüber, dass in

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den  Augen der Schwiegermutter sie ihr den Sohn weggenommen habe und diese deswegen schlecht auf sie zu sprechen sei. Weiterhin, wenn nun jemand, auf den man böse ist, dann noch freundlich ist, steigere das noch deren Ärger, so daß sie umso schlechter behandelt werde, auch wegen des schlechten Gewissens, das eine so nette Person erzeugt. Umgekehrt beanspruche sie wegen ihrer Freundlichkeit ebenfalls Freundlichkeit und werde umso wütender, wenn ihr so unfreundlich begegnet werde, unterdrücke aber ihre Wut, um endlich Anerkennung und die Familienharmonie zu erhalten – ein unheilvoller Kreislauf. Alle leben in einem Haus. Wenn sie zu ihrer Schwiegermutter auf Distanz gehe, komme diese dauernd an. Bei ihrem Ehemann wage es seine Mutter nicht, ihn schlecht zu behandeln. Wir sprechen darüber, wie mit diesen Problemen umzugehen sei, erstens sich die eigenen Gefühle zuzugestehen, zweitens sie auch herauszulassen, dann gebe es natürlich Krach, und gegenüber der Schwiegermutter sich zu verwahren, zu zeigen, dass sie auch jemand sei und man mit ihr das nicht machen könne, und Grenzen zu setzen und mehr Distanz einzunehmen. Wir kommen nicht mehr dazu, über die Wut auf den Ehemann zu sprechen, der sie zu wenig gegen die Schwiegermutter unterstützt und sie schützt. Schließlich konkurrieren beide um ihn und müssen zu ihm nett sein.

 

Der Frankfurter Hirnforscher Wolf Singer und einige seiner Kollegen führen die Determinierung des Menschen, seine eingeschränkte Willensfreiheit, auf die Struktur des Genoms, also der Herrschaft der Neurone und deren Vernetzungen und Verknüpfungen zurück, einer rein naturwissenschaftlichen oder biologistischen Auffassung des menschlichen Geistes. Durch dessen Gesetze sei der Mensch auf seine Wahrnehmung und Handlungen fixiert. Diese Auffassung könnte man durch die Konzeption der Psychotraumatisierung als Lebenserfahrung und dessen Folgen ergänzen, also nicht allein als biologische ursprüngliche Determinierung. Dabei bilden Körper und Geist eine Einheit, sodaß Traumatisierungen der Seele und des Geistes körperliche Folgen und Begleiterscheinungen haben, sich in die Neurone einprägen und die Vernetzungen und Verknüpfungen reduzieren, wie in den Artikeln über die Neurobiologie (Neurobiologische Erkenntnisse, Teil 1 und 2) beschrieben. Analog den körperlichen Vorgängen, den Veränderungen der Hirnstruktur, gehen im menschlichen Geist ebenfalls die Vernetzungen verloren, d.h. die Differenzierungen bzw. die Wahrnehmung von Unterschieden, Umständen, Einflüssen, vor allem unbewußten Hintergründen und Zusammenhängen, also einer komplexen Weltsicht.

 

Allein schon als Folge des evolutionären Prozesses, wo es primär um das Überleben geht, und weiterhin als Folge späterer Traumatisierungen ist das menschliche Gehirn zuerst auf die Bewältigung von Bedrohungen ausgerichtet. Bedrohungserfahrungen werden vorzugsweise wahrgenommen, werden in der Zukunft erwartet und Überlebensstrategien haben Priorität. Das menschliche Gehirn ist dadurch auf eine Überlebensstrategie vorbereitet, möglichst schnell Bedrohungen auszuschalten. Den größten Geschwindigkeitsvorteil bieten die Mechanismen und Automatismen, sozusagen auf Gefahren automatisch reflexartig zu reagieren, je intensiver diese, desto schnellere Reaktionszeiten sind notwendig und sinnvoll.

 

Da diese Phänomene früheren Zeiten entstammen, entsprechen sie häufig nicht mehr der gegenwärtigen Situation. Ein Mensch mag auf eine für andere harmlose Situation reagieren, als ob er massiv bedroht wäre. Der ursprüngliche Vorteil kann zum Nachteil werden. So mag ein Mensch, der auf Grund ursprünglicher Erfahrungen in seiner Kindheit seine Würde und Integrität bedroht sieht, gegenteilig sich massiv und trotzig wehren oder automatisch angepaßt, brav, unterwürfig reagieren, wie es früher nützlich war, auch wenn dies nicht mehr der jetzigen Situation im Erwachsenenalter entspricht. In der Gegenwart wird versucht, auf dem Boden der Vergangenheit die so wahrgenommene Bedrohung der Zukunft auszuschalten.

 

Weniger bedrohliche Erfahrungen und Sinneseindrücke werden in den Überlebensstrategien nicht oder weniger wahrgenommen, können also sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart und Zukunft ausgeschaltet sein. Demzufolge besteht eine selektive Wahrnehmung, die nach den früheren Erfahrungen, deren Bewertungen, Bedeutungen und Zuschreibungen erfolgt. In der späteren Lebenssituation sind diese Wahrnehmungen Konstruktionen nach den alten Erfahrungen und inneren Gesetzen, etwas denen der Logik (nach dem griechischen Wort "logos", dem inneren Wort, der inneren Aussage und dem inneren Gesetz). Die Logik nach den in inneren Aussagen gefaßten Erfahrungen erscheint mir als das zentrale Gesetz.

 

Durch den holistischen ( Holismus, Ganzheitslehre, das Ganze ist mehr als die Summe seiner Einzelteile) Charakter der Wahrnehmung fallen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen, geht die zeitliche Abfolge verloren. Früher und ebenfalls später nacheinander eintretende Ereignisse werden als gebündelter Gesamteindruck wahrgenommen. Ebenso gehen, wie erwähnt, weniger bedrohliche Vorerfahrungen verloren, dies um so mehr, je intensiver die bedrohlichen Vorerfahrungen  sind. Ein Mensch mit bedrohlichen Prägungen wird überall Bedrohungen erleben (Katastrophisieren) und weniger bedrohliches und Unterschiede nicht wahrnehmen. Dies spielt meiner Ansicht nach bei verschiedenen Persönlichkeitsstörungen und Krankheiten eine tragende Rolle, etwa beim Berggefühl des Depressiven, früher nacheinander erfolgte diachrone Eindrücke in der Gegenwert und Zukunft als gleichzeitig synchron wahrzunehmen, alles auf einmal wie einen riesiger Berg bewältigen zu müssen. Dazu der hilfreiche Satz, die uralte Bauernregel, die ich oft in meiner Kindheit gehört habe, „eins nach dem anderen, wie der Bauer die Klöß ißt“.

 

In der Psychotraumatisierung gehen die Subjektivität der Wahrnehmung, die Beobachterabhängigkeit (Standpunkt des beobachteten Gegenstandes bzw. Menschen, eigener Standpunkt, Perspektive, Beleuchtung, Interessen und Zeitpunkte) und elementare zwischenmenschliche Gesetze, daß ähnlich wie in der Physik menschlicher Druck menschlichen Gegendruck erzeugt, verloren. Harmlose Situationen werden katastrophisiert und dramatisiert. Katastrophisieren und die Abwehr dessen, das Bagatellisieren, können nebeneinander stehen und sich abwechseln, so daß kein Mensch weiß, woran er wirklich dran ist. Etwa werden chemische und nukleare Bedrohungen nebeneinander hochgespielt und bagatellisiert. Es entstehen Chaos und Verwirrung, die wiederum besonders gefürchtet werden, da in ihnen Überblick und Souveranität verloren gehen. Das zwanghafte Kausalitätsbedürfnis des Menschen erkläre ich mir aus dem Versuch, Verständnis, Akzeptanz und Übersicht zu bewahren, die Bedrohungen zu beherrschen und zu integrieren und so für die Zukunft zu bewältigen. Wird dieser Überblick und die Kontrolle in den Bedrohungen nicht gefunden, werden Hilflosigkeit und auf Dauer Hoffnungslosigkeit erzeugt.

 

Da der Mensch nach seiner Wahrnehmung bzw. nach dem handelt, was er glaubt, was ist, also nach seiner subjektiven Wirklichkeit, setzt er durch sein Handeln seinen Glauben in Realitäten um. Subjektiver Glaube und Überzeugungen werden tendenziell durch die Handlungsumsetzung zu äußeren Realitäten, die natürlich wiederum subjektiv gesehen werden. Da der Mensch nicht nur nach bewußten, sondern vor allem nach unbewußten Wahrnehmungen handelt, kann er sich keinen Aufschluß über seine Gründe geben bzw. ersetzt diese durch ihm logisch erscheinende Gründe, also Konstruktionen. - Beispielsweise werden unbewußte psychische und psychosoziale Hintergründe bei Körperschmerzen von Kranken und Ärzten mit körperlichen Konstruktionen erklärt, etwa beim Bandscheibenvorfall, der die Ursache der Schmerzen sei. Bandscheibenvorfälle finden sich auch bei Beschwerdefreien, wenn man die Bevölkerung durchröntgt. Man kann lediglich sagen, daß sie bei Rückenschmerzkranken häufiger sind. Deswegen können Beschwerden auch ohne Operationen zurückgehen oder diese wenig nützlich sein.  

 

Bei etwaigen falschen Wahrnehmungen, Voraussetzungen und Antizipationen, obwohl es falsch eigentlich im subjektiven Sinne nicht geben kann und subjektiv in der Wahrnehmung immer richtig ist, setzt der Traumatisierte falsches in eine falsche, jedoch für ihn richtige und äußere reale Realität um. Somit hat er auch im Falschen das Richtige gefunden, also recht gehabt. Man spricht auch von „selffulfilling prophecy“. Wenn etwa ein Mensch als böse wahrgenommen wird, obwohl er dies ursprünglich nicht ist, wird er entsprechend behandelt und wird als Folge böse. Man könnte auch von Selbstreferenz der Wahrnehmung und des Handelns sprechen. Darin sehe ich im Falle von bedrohlichen und unglücklichen Erfahrungen und den daraus folgenden Wahrnehmungen die menschlichen Tragik. Der Mensch dreht sich in seinen Wahrnehmungen und den aus ihnen erfolgenden Handlungen immer im Kreis, einem Teufelskreis oder Circulus vitiosus, wobei jede Wahrnehmung und Vorwegnahme im Ergebnis bestätigt werden kann.

 

Ebenso gehen der Kontext der Einflüsse, also die Umstände und Umgebungsbedingungen, transgenerationellen Einflüsse und die sozialen Einflüsse verloren bzw. werden in einer traumatisierenden Kindheit nie entwickelt. Alles Handeln ist auf die Verhinderung der Bedrohungen als Ziel und Ergebnis ausgerichtet (Finalisierung). Jeder kennt den Spruch „Der Weg ist das Ziel“. In der Psychotraumatisierung kann nicht mehr der Lebensweg als Ziel des Lebens gelten, möglichst gut und angenehm zu leben, sondern es geht nur noch darum, das Böse zu verhindern und möglichst gute Ergebnisse, Daten, Fakten und Erfolge zu erzielen. Diese müssen eine einzige, ewige Wahrheit verkörpern, an der nicht gekratzt und gezweifelt werden darf, wie dies bei Terrorregimen oder fundamentalistischen und dogmatischen Religionen verbreitet ist. Die zwischenmenschliche Kommunikation gestaltet sich nicht nach einem analogen Dialog, in dem der Mensch sich darstellt und handelt, analog dem, wie ihm gerade ist und wie er sich gerade fühlt, sondern ist zielgerichtet, das Böse (Schuld, Sünde, Peinlichkeit, Schande, Verachtung, Lächerlichkeit) nicht in Erscheinung treten zu lassen und in den eigenen und fremden Augen zu verhindern, dem digitalen (mit dem Zeigefinger verweisend) Dialog. Der Ruf, das Image, das Gesichtwahren und der gute Eindruck haben oberste Priorität.

 

Im Selbstbild sind Selbstachtung und -anerkennung, frei von Schuld-, Schamgefühlen und Selbstzweifeln, beim Traumatisierten oft völlig überhöht, deren Aufrechterhaltung höchstes Lebensziel und deren Verlust sind die schlimmste Bedrohung. Dadurch gehen jedoch jegliche Freiheit und Selbstbestimmung verloren. Das Fremdbild bzw. Image in fremden Augen und Bewertungen und Bedeutungen des Umfeldes erfolgt nach den gleichen Maßstäben, wobei aufgrund der fehlenden Differenzierung die eigenen Maßstäbe zugrunde gelegt werden und nicht gesehen werden kann, daß das Umfeld evtl. ganz anders denkt und bewertet. Siehe im Mythos z.B. die Blendung des Ödipus. Selbst und Objekt verschmelzen, bilden eine Gemeinsamkeit, so daß Individualität und Identität verloren gehen, nicht nur in der zeitlichen Abfolge, sondern auch in der zwischenmenschlichen Ebene. Der traumatisierte Mensch fühlt sich so, wie ihn die Umgebung sieht. Wenn ihm jemand Vorhaltungen macht, fühlt er sich ganz schlecht, und kann dies nicht an den Bildern und Wertmaßstäben des anderen festmachen. Als Folge muß er alles tun, damit ihm ja niemand Vorwürfe macht. Mancher mag sich in seinen Augen gut verhalten, aber in den Augen anderer lächerlich machen, etwa manche Eltern, die ihre Kinder zu Unterwürfigkeit und Gehorsam erziehen.

 

- Dazu kleine Beispiele: Ein Bekannter war mit einer Thailänderin verheiratet, deren Tochter aus 1. Ehe in einem Geldverleih arbeitete. Sie berichtete, in Thailand sprießen die Geldverleihe wie Pilze aus dem Boden, weil alle Leute sich Geld leihen, um sich mit Gold zu behängen, da man Geld auf der Bank nicht sehen könne. Vielleicht nicht ohne Zufall erlebte die Wirtschaft in Südostasien bald darauf einen Absturz, weil alle über ihre Verhältnisse gelebt hatten. Das Fremdbild ist also wichtiger als alle Schulden.

Aber nicht nur weit entfernt spielt das Image eine zentrale Rolle in der Psychotraumatisierung, sondern auch bei uns. Mancher BMW- oder Mercedesfahrer stürzt sich aus Image- oder Profilierungsgründen in Schulden. Er tut alles, um seinen Lebenserfolg zu zeigen, „Er hat es geschafft!“ Bei Außenstehenden mag er sich lächerlich machen und auf seine Selbstwertdefizite hinweisen. Bei ihnen erreicht er bei allen Bemühungen das Gegenteil. Das Nichtdemonstrieren des Erfolges ist für diese Traumatisierten ein abgrundtiefes Versagen. Sollten Gutverdienende wie manche Ärzte etwa mit anderen Freiberuflern oder Unternehmern aus dem Tennis- oder Golfclub nicht mehr mithalten können, wäre dies für sie ein herber traumatisierender Verlust.

Neulich erzählte mir ein Freund, der gelegentlich Problemfamilien betreut, eine italienische Familie sei völlig marode, ein Sohn sei schon gestorben, einen anderen habe er zu mir zur Therapie schicken wollen. Zuerst war der Vater dagegen, dann die Mutter, dann beide, weil alle fürchteten, dass trotz Schweigepflicht der Therapeut von ihren Schulden erfahren könne. Der Vater hatte für 50000€ ein Prestigeauto gekauft, alle in Schulden gestürzt, um den Erfolg der Familie im Umfeld, vor allem bei Italienbesuchen, zu demonstrieren. Der Wagen wurde nicht verkauft. Äußerer Status ist wichtiger als Schulden, auch wenn alle daran zugrunde gehen.

 

Je größer die zu befürchtende Scham, Schande, Schuld oder Verachtung ist, desto automatischer wird gehandelt bzw. die Verhinderung zum Maßstab des Handelns gesetzt. Angst und Handlungsumsetzung sind eins, verschmolzen, direkt miteinander verknüpft und gekoppelt bzw. gleich gesetzt. Es mag jedoch nicht nur um die narzißtische Entwertung gehen, sondern auch um Verluste von Wünschen, Bedürfnissen, Inhalten und Menschen, der Verlustangst im eventuell existentiellem Maße, wenn ein Mensch katastrophale Verlusterlebnisse hatte und/oder diese ihm transgenerationell vererbt wurden. Wünsche, Bedürfnisse, Erwartungen müssen dann automatisch erfüllt werden, Verständnis für die Not eines Menschen heißt automatisch dessen Not zu verhindern. Wünsche und Erwartungen werden zu Ansprüchen, vor allem, wenn sich ein Mensch selbst nach diesen Ansprüchen verhalten hat (siehe oben). Wünsche von Eltern an ihre Kinder werden im Zustand der Psychotraumatisierung automatisch zu Befehlen, Geboten und Verboten.

 

In diesen Automatismen, man könnte auch von Koppelungen oder Gleichsetzungen sprechen, beinhaltet eine Frage die Antwort und Erwartungen bzw. Wünsche die Erfüllung. Auf Fragen ist also automatisch zu antworten, Wünsche und Bitten automatisch zu erfüllen. Dabei mag es sowohl für den Fragenden als auch für den Befragten ein ungeheures Verbrechen sein, nicht auf Fragen zu antworten, Erwartungen, Wünschen und Bitten nicht zu entsprechen. Deswegen sind beide Seiten an Frage und Antwort, Bitte und Erfüllung gebunden. Oft sind die Bitten von Eltern für die Kinder Befehle. Die Standpunkte und die Interessen des Gegenübers, seine Selbstbestimmung und Freiheit, werden außer Kraft gesetzt, für diesen wiederum eine Bedrohung, die seinen Widerspruch geradezu herausfordert. Darüber hinaus werden Wunsch, Erwartung und Bedürfnis zusätzlich automatisch mit Recht gleichgesetzt. Der Fragende und Wünschende hat ein Recht auf die Antwort und die Erfüllung. Die dahinter stehende Bedrohung des Fragenden bedeutet, daß dem Fragenden oder Erwartenden seine Ziele nicht erfüllt werden und noch weitergehender, er kein Recht auf seine Fragen oder Erwartungen hat bzw. diese entwertet sind oder er sogar als Gesamtperson (Teil für das Ganze) entwertet ist. Dabei wird Wert mit Recht gleichgesetzt. Wer wenig oder kein Recht hat, ist wertlos. Erhöhter Wert beansprucht erhöhte Rechte. Wert und Recht sind derartige Koppelungen. Auch mag es für den Befragten, der meint, er müsse auf Fragen antworten, eine Zumutung durch den Fragenden darstellen, ihn überhaupt zu befragen und dadurch Antworten zu erzwingen. Da der Fragende oft schon die Reaktion des Befragten kennt, wird er keine Fragen mehr stellen. Derartige Verwicklungen und Verstrickungen spielen sich oft in kleinen Alltagsituationen ab und behindern massiv die freie Entfaltung aller Seiten.

 

Ein ähnlicher Automatismus ist, Verstehen und Verständnis für den anderen bedeutet gleich Handeln im Sinne des anderen. Dann sind Eigeninteressen nicht erlaubt und werden als Rücksichtslosigkeit oder Egoismus gewertet und entwertet. Verständnis für die eigene Person, in die eigenen Ziele und Interessen, also Selbstverständnis und Verständnis für den anderen schließen sich aus. Dadurch entsteht ein Entweder – Oder, eine zwischenmenschliche Spaltung. Kompromisse und Konsens sind dabei nicht möglich. Ein Mensch kann dann automatisch in seinen Interessen zurückstehen und im Sinne der Gleichheit und Gerechtigkeit beansprucht er dasselbe von anderen. Wenn diese eine andere Form des Verständnisses haben, was fast die Regel ist, sind Mißverständnisse und Konflikte vorprogrammiert. Dadurch können bei Liebenden schwerste Zerwürfnisse entstehen.

 

Für viele Traumatisierte läuft automatisch ab, dass ihre Bilder und Phantasien Realität sind und sie ihre Gedanken glauben. Sie können nicht zwischen Bild, Phantasie und Realität und Denken und Glauben unterscheiden. Frühere Erfahrungen, aus denen die Bilder und Fantasien stammen, werden automatisch in der Gegenwart und Zukunft geglaubt. Man kann diesen automatischen Vorgang auch das Primäre Denken nennen. Nach dieser vermeintlichen Realität wird gehandelt. So sagte ich einmal zu einem schwer gestörten Patienten gleich in der ersten Stunde, "Ihre Bilder und Fantasien klingen so wirklich", woraufhin er lachend antwortete, „Ich habe ja auch die Weisheit mit Löffeln gefressen !". Auch er konnte nicht zwischen Phantasie und Realität unterscheiden und hielt seine Bilder für Wissen, konnte aber in einem Anflug von Realitätssinn darüber lachen.

 

Es ist ähnlich wie in der Physik ein zwischenmenschliches Gesetz, Druck erzeugt automatisch Gegendruck, so daß  beispielsweise Kinder sich automatisch gegen den Druck ihrer Eltern wehren müssen. Dieses Sich-Dagegen-Wehren in Formen wie Trotz, Verweigerung und Sabotage entspringt dem menschlichen Urtrieb der Selbstbestimmung. Wenn diese Selbstbestimmung nicht gewahrt bleibt, wird Trotz regelrecht provoziert. Dann ernten Eltern im Bestreben, das Böse zu verhindern und das Gute zu schaffen, nur das Gegenteil, für sie und das Kind eine erneute Traumatisierung. Wird das Kind, ebenso später der Erwachsene, in seinem Trotz aufgrund der existentiellen Befürchtungen und Automatismen der Eltern niedergebügelt, wird dieser auf die innere, intrapsychische Ebene verlagert. Diese Verlagerung geschieht auch dadurch, daß ein Kind ohne eigene Lebenserfahrungen und damit etabliertes Weltbild automatisch das Weltbild der Eltern übernimmt, ohne sich dessen bewußt zu sein. Es wird zur Selbstverständlichkeit. Irgendwo tief im Inneren und im Verhalten bleibt ein Stück Selbstbestimmung erhalten, wenn auch in der pervertiertesten Form, etwa wenn Magersüchtige ihre Selbstbestimmung gegen alle Vernunft im Verhungern suchen oder Herzinfarktgefährdete ihre riskante Lebensform trotz aller Risiken aufrecht erhalten. Die intrapsychische Ebene kann zu einer inneren Pattsituation oder Lähmung führen, die sich seelisch und körperlich in verschiedenster Weise als innere Spannungszustände auswirken kann.

Die Übertretung wird darüber hinaus als das Böse gebrandmarkt, mit Strafen belegt, die das Kind als das Opfer in sich aufnimmt und in Identifizierung mit den Zuschreibungen der Eltern sich selbst als böse wahrnimmt, einer erneuten Traumatisierung. Dann meint ein Kind, für dieses und jenes, etwa gelogen zu haben, ungehorsam gewesen zu sein oder schlechte Leistungen erbracht zu haben, zurecht bestraft worden zu sein.

 

Diese automatisch ablaufenden Verhinderungsstrategien beinhalten die Kontrolle bis zur absoluten Beherrschung der Bedrohungen und laufen automatisch und unbewußt, vielleicht noch vorbewußt nachvollziehbar, wie ein Uhrwerk ab. Bei massiven Bedrohungen kann die Kontrolle des Gegenübers bis zum Absolutismus, Totalitarismus und Dogmatismus ausarten. So mag eine Mutter ihr Kind im Falle ihrer verbreiteten Ängsten überall kontrollieren, es auf Schritt und Tritt verfolgen, damit ja nichts von ihren Befürchtungen eintreten kann, und das Kind muß zur Selbsterhaltung auf Schritt und Tritt sich dagegen wehren, trotzen, verweigern, sabotieren und leidet wiederum unter seinen Schuldgefühlen.

 

Die verbreitetste Form der Verhinderungsstrategie etwa katastrophaler zukünftiger menschlicher Zerwürfnisse, kann die Errichtung von Regeln, Normen, Prinzipien und Moral bis zu idealisierten Formen sein. Diese sind um so rigider, je negativere Erfahrungen bestehen und je größere Katastrophen antizipiert werden. Vor allem das Übertreten der Regeln kann zu einer weiteren Katastrophe in Form der Bestrafung und erneuten Strafritualen führen. Die Gründe liegen also in den früheren Erfahrungen und denen früherer Generationen. Diese Normen mögen für spätere Verhältnisse völlig inadäquat sein. Sie engen die Freiheit, Selbstbestimmung und Entfaltung späterer Generationen rigide ein. Diese Unfreiheit kann selbst somit eine weitere Katastrophe und Traumatisierung darstellen, obwohl sie ja ursprünglich zur Verhinderung der Katastrophe diente. In diesen Vorgängen sehe ich die Tragik des traumatisierten Menschen.

 

Bestehen in der Vorgeschichte Bedrohungserfahrungen, wird möglichst Sicherheit und Vertrautheit gesucht. Alles Neue, Ungewisse und Unsichere machen Angst und müssen möglichst vermieden werden. Daher kommt die Angst und der Haß auf alles Fremde, etwa der Haß auf Ausländer und Andersartige, der dann mit „sachlichen“ Argumenten rationalisiert wird, etwa, daß sie uns die Arbeitsplätze wegnehmen.

 

Je nach Intensität und Häufigkeit der Bedrohungen und Reaktionsbildungen sind die Mechanismen und Automatismen in das Nervensystem wie in eine Matrix oder einen Mutterboden eingeprägt und wiederholen sich ständig. Durch die Traumatisierung erkläre ich mir den Wiederholungszwang nach Freud, der also aus naturwissenschaftlicher neurobiologischer und psychotraumatischer Sicht gut erklärbar ist. Die Matrix schafft die Automatik des Erlebens und somit des Handelns, also der Automatismen und Mechanismen. Der Mensch denkt und glaubt automatisch das, was er oft genug gehört hat und immer wieder denkt und glaubt, reagiert und handelt automatisch nach den alten vorgegebenen Mustern. Diese Automatik ist also nicht einfach durch Einsicht oder Vernunft auf einen Schlag abzustellen, wie von vielen illusionär geglaubt und erhofft wird. Wie nächtliche Alpträume ist sie nicht so leicht gegen alle Vernunft beherrschbar. Dieser Sachverhalt ist bei den alten Griechen im Bild der Hydra fest gehalten, einer vielköpfigen Schlange, bei der auf jeden abgeschlagenen Kopf viele Köpfe nachwachsen. Auf die komplexen Unwägbarkeiten des Lebens wird oft mit wenigen und denselben Automatismen und Reflexen reagiert.

 

Die (Teufels-) Kreisläufe ergeben sich dadurch, daß die Abwehr von Bedrohungen und die Verhinderungsstrategie gerade diese bestätigen. Die Bestätigung ergibt sich aus der Abwehr. Schließlich wäre sonst nichts abzuwehren. Der Vogel Strauss bekräftigt, ja beschwört sogar die Gefahren, vor denen er den Kopf in den Sand steckt, und kann nicht wahrnehmen, daß oft gar nichts Bedrohliches existiert. Er bestätigt die Bedrohung, weil er sonst nicht den Kopf in den Sand stecken würde. Eine Rechtfertigung und Entschuldigung bestätigt das Unrecht und die Schuld, sonst wäre nichts zu rechtfertigen oder zu entschuldigen. Gerade die Idealisierung und Perfektion führt zum Kreislauf von Versagen und weitere Idealisierung.

 

Die Unterdrückung von Streit in Familien führt in einem Teufelskreislauf oft gerade zu Streit, weil trotz des für alle gültigen Harmonie- und Sicherheitsbedürfnisses das Selbstbehauptungsbedürfnis nicht total zu unterdrücken ist und als Folge Streitpunkte an allen Ecken und Kanten in bissigen Bemerkungen und störrischen, provokativen Handlungen zu Tage treten und somit die Familie vermehrt zerstritten ist. Wenn etwa die Handlungen eines Kindes auch oft ursprünglich nicht provokativ gemeint sind, sondern einem analogen Dialog entsprechen, werden sie jedoch auf dem Hintergrund der eingeprägten Erfahrungen von den Eltern so aufgefasst, sanktioniert und dementsprechend vom Kind verinnerlicht. Eine andere Auffassung zu etablieren, würde für das Kind viel erwachsene Überzeugungskraft erfordern und Offenheit der Eltern voraussetzen. Dies ist jedoch im Zustand der Psychotraumatisierung nicht möglich. Anschließend sind die Aggressionen wieder zu unterdrücken und der Kreislauf fängt von vorne an. Diese Hintergründe und Zusammenhänge finde ich regelmäßig in Familienzusammenhängen, wo vermehrt Angst auftritt, die oft an einem Mitglied, dem stigmatisierten Angstkranken, fest gemacht wird.

 

In dem oben angeführten sehr häufigen Fallbeispiel finden sich versteckt einige der Automatismen wieder. Die Frau spricht selbst sogar von dem anerzogenen tragischen Mechanismus ihrer Freundlichkeit. Transgenerationell müssen ihr Unfreundlichkeit und Unhöflichkeit und dessen weitere Folge, nämlich die Zerstrittenheit, als Bedrohung vermittelt worden sein, so dass sie zwanghaft freundlich ist. Der Mechanismus macht sie automatisch gegenüber ihrer Schwiegermutter zumindest nach außen hilflos. Sie kann sich nicht wehren und verschiebt automatisch und erlebt ihre Wut auf die Körperebene, dem Körpersignal für den, der es zu lesen versteht mit einer erneuten Chance, dem Kreislauf zu entkommen. Auf der tieferen Ebene, für sie nicht wahrnehmbar, stellt dieser Mechanismus getreu dem christlichen Spruch „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, halte ihm die linke hin!“ eine versteckte Aggression, ihre Waffe dar, weil sie sich automatisch mit ihrer Freundlichkeit im Recht und die Schwiegermutter im Unrecht sieht, also dadurch ihre Gratifikationen und ihren Selbstwert bezieht. Ihr Unrecht versetzt die Schwiegermutter vermehrt in Wut, sie wird automatisch umso böser, und muß sich automatisch ins Recht rücken und die Schwiegertochter verunglimpfen. Der Hilfsmechanismus der Freundlichkeit wird janusgesichtig zur hilflosen Falle und zur Waffe, wie überhaupt Schwäche und Hilflosigkeit eine Stärke darstellen können. Das soll natürlich nicht heißen, dass alle freundlichen Leute versteckt aggressiv sind, sondern nur die, die unter den Bedingungen der Psychotraumatisierung leben.

 

Literatur:

 

Kapfhammer, H.-P. (2002). Neurobiologie der Posttraumatischen Belastungsstörung. In: Psychotherapie 7, S. 247-259.

 

Kunzke, D. & Güls, F. (2003). Diagnostik einfacher und komplexer posttraumatischer Störungen im Erwachsenalter: Eine Übersicht für die klinische Praxis. In: Psychotherapeut 48, S. 50-70.

 

Levine, Peter A.: Trauma-Heilung. Synthesis, 1998, ISBN 3922026915

 

Rothschild, Babette: Der Körper erinnert sich. Die Psychophysiologie des Traumas und der Traumabehandlung. Synthesis, 2002, ISBN 3-922026-27-3

 

Francine Shapiro: EMDR. Grundlagen & Praxis; Handbuch zur Behandlung traumatisierter Menschen, Junfermann, Paderborn 1999, ISBN 3-87387-360-5

 

Arne Hofmann: EMDR in der Therapie psychotraumatischer Belastungssyndrome, Thieme, Stuttgart 2005, ISBN 3-13-118243-1

 

Glossar:

 

EMDR  Eye Movement Desensitization and Reprocessing, die wohl bedeutenste von Francine Shapiro in der USA entwickelte Therapieform bei posttraumatischen Störungen. Beim EMDR regt der Therapeut den Patienten nach strukturierter Vorbereitung zu bestimmten Augenbewegungen an, wodurch es möglich werden soll, leichter das Trauma zu bewältigen und eine Integration der mit dem Trauma verbundenen Emotionen und Empfindungen zu erreichen. Es wird angenommen, daß durch die bilaterale Stimulation mittels bestimmter Augenbewegungen (oder auch akustischen oder taktilen Reizen), eine Synchronisation der Hirnhälften ermöglicht wird, die bei der posttraumatischen Belastungsstörung gestört sind. Erklärend wird Bezug genommen auf den REM-Schlaf, einer Schlafphase, bei der starke Augenbewegungen stattfinden und zugleich ein erhöhter Verarbeitungsmodus des im Alltag Erlebten vermutet wird.

 

Vulnerabilität  Verletzlichkeit

 

Transgenerationell  die Übermittlung und Übernahme von Werten, Bedeutungen mit den sich daraus ergebenden Lebenseinstellungen, Gefühlen und Handlungen über Generationen hinweg. Diese werden also schon in früheren Generationen geprägt. Die transgenerationelle Vererbung ist das unausweichliche Schicksal eines jeden Menschen.

 

Autor: Bernd Holstiege

Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich

E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info

Abfassungsdatum: 14.09. 2007

Foto: © Weltexpress

Verwertung: Weltexpress

Quelle: www.weltexpress.info

Update: Berlin, 14.09. 2007