Über die göttliche Gabe des Menschen, sich in andere hineinversetzen zu können
Serie: Schmerz und Empathie Geteiltes Leid, doppeltes Leid? (Teil1/2)
Die wunderbaren Eigenschaften des Menschen des Mitgefühls, Mitleids und Hineinversetzens in andere darf man wahrhaftig als göttlich bezeichnen. Aber – diese Gabe ist janusgesichtig, denn in ihr wohnt nicht nur Gott, sondern auch der Teufel, und kann dadurch zum Fluch für den Menschen werden. Wenn sich Menschen eng miteinander verbunden fühlen wie in echten Partnerschaften oder Eltern-Kind-Beziehungen und dabei Leid erfahren, dann leidet der ursprünglich Nichtbetroffene mit dem betroffenen Partner innerlich seelisch mit und wird somit zum Mitbetroffenen. Das Mitempfinden und das Hineinversetzen in das Leid des anderen wird Empathie ( aus dem Griechischen „Hineinleiden“) genannt. Dieses Mitempfinden kann nun zu einer Schmerzerleichterung des Betroffenen, da er sich mit seinem Schmerz nicht mehr alleine fühlt, aber auch zu einem doppelten Leid beider Partner führen. Im Allgemeinen fühlt sich der Leidende durch das Mitempfinden anderer zuerst entlastet. Es wirkt wie eine Tröstung.
Hierzu ist ein Interview von Beatrice Wagner mit dem Hirnforscher Ernst Pöppel im Rahmen der Schmerzforschung in der Zeitschrift DNP, Der Neurologe und Psychiater, 5-2007, aufschlußreich. Der Frage, unter welchen Bedingungen geteiltes und doppeltes Leid entsteht, versuche ich nachzugehen und gelange dabei zur Traumatisierung und deren Bedingungen. Das verbal und/oder nonverbal mitgeteilte Leid führt immer zu einem Mitschwingen und Mitempfinden, wobei die Muster eigene Erfahrungen von Leiden und Schmerzen sind. Schmerz kennt ja jeder aus eigener Erfahrung. Mit diesen eigenen Erfahrungen bringt sich jeder in die Beziehung ein, versetzt sich in den anderen, schwingt oder leidet sogar mit. Das Geheimnis und Wesen der Empathie ist sozusagen, mit sich selbst den anderen sich zu eigen zu machen, anders ausgedrückt, mit den eigenen Leidenserfahrungen andere in sich aufnehmen. Da jeder andere schmerzliche Erfahrungen in die Beziehung mit- und einbringt, entspricht die Art des Mitleidens nicht dem Leiden des Betroffenen. Der Mitleidende unterstellt dem Leidenden sozusagen seine eigenen schmerzlichen Leidenserfahrungen. In dieser Verstrickung der eigenen und Fremdgefühle wohnt der Fluch und der Teufel. Gegen diese Form des Mitempfindens und Mitleids auf einem anderen Erfahrungshintergrund, also einem falschen Mitleid, wird sich deshalb oft heftig und schroff gewehrt „ich will nichts damit zu tun haben!“, vor allem, wenn ohne diese Abwehr allzu heftig mit gelitten wird und das Leiden des Nichtbetroffenen droht, stärker zu werden als das des Betroffenen. Schließlich kommt es oft vor, dass beim Mitleidenden die gleiche, daher das doppelte Leid, oder eine ähnliche Symptomatik auftreten. Bestehen keine eigenen Leidensvorerfahrungen beim Schmerz anderer, kann für das Leiden anderer oft völlige Uneinfühlbarkeit und völliges Unverständnis herrschen. Nachempfinden kann dann nur über eigene parallele und ähnliche Erfahrungen folgen, die jedoch nie dem Gefühl des ursprünglichen Leidenden entsprechen.
Zuerst einmal möchte ich den aktuellen Stand, insbesondere die interessanten Feststellungen der Schmerzforschung darstellen, die mich zu diesem Artikel anregten. E. Pöppel referiert, durch die Fortschritte der Medizin und die verlängerte Lebenserwartung werden die Schmerzen bezogen auf die gesamte Lebensspanne eines Menschen nicht gemindert, sondern eher vermehrt. Er nennt das die Schmerzlast. Mit dem höheren Lebensalter ist auch eine größere Anfälligkeit für altersbedingte Krankheiten verbunden, die meist mit chronischen, lang andauernden Schmerzen einhergeht. Weiterhin macht Pöppel für vermehrte Schmerzen eine falsche Narkosetechnik verantwortlich. Während der Vollnarkose wird im Zustand der Bewußtlosigkeit das Gehirn als Bewertungsinstanz des Schmerzreizes ausgeschaltet. Trotzdem werden die Schmerzrezeptoren gereizt und leiten folgenreich über die zum Gehirn führenden Bahnen weiter. Die Folgen sind nämlich postoperative Schmerzen, die chronifizieren können. Durch vielfältige moderne Operationsmöglichkeiten kann also eine vermehrte Schmerzlast entstehen. Nach Prof. Dr. Walter Zieglgänsberger vom Münchener MPI ( Max-Planck-Institut ) für Psychiatrie ist diese neue Schmerzlast nur durch die intraoperative Gabe von Lokalanästhetika zu vermeiden, so daß am Entstehungspunkt des Schmerzes kein Schmerz an das Gehirn gemeldet werden kann.
Für wesentlich halte ich diese Feststellung auch deshalb, weil der Laie für die postoperativen Schmerzen die verursachte Wunde und deren Schmerzmeldungen für verantwortlich hält. Diese postoperative Wunde spielt sicherlich als postoperativer Schmerz vorübergehend eine große Rolle. Für den weiteren Verlauf der Schmerzentwicklung nach Operationen ist die Schmerzunterdrückung während der Operation im Gehirn von zentraler Bedeutung. Offenbar ist es so, dass das Gehirn ähnlich wie bei Verdrängungen und Verleugnungen, hinter denen seelische Schmerzen stecken, einen ungeheueren und schmerzlichen Aufwand betreibt, die Unterbrechung der Schmerzempfindung vom Ursprungsort und der Wahrnehmung im Gehirn zu reparieren. Den Sinn des vermehrten langandauernden Schmerzes sehe ich in der Wiederherstellung der Kontinuität der am Schmerzpunkt, aber nicht im Gehirn wahrgenommenen Verletzungen. Schmerztherapeuten sprechen von einem Schmerzgedächtnis, dessen Kontinuität durch die Ausschaltung des Gehirns in der Narkose unterbrochen wurde.
Das Mitempfinden des Leidens in der nahen Umgebung ist sogar nach Versuchen von Forschern um Tania Singer vom University Collage of London meßbar. Männern wurden Schmerzen verabreicht, und ihre sensiblen Partnerinnen konnten deren Gesicht beobachten. Das Gehirn der Frauen wurde mithilfe eines MRT (Magnetresonanztomogramm oder auch Kernspin, einer inzwischen üblichen sehr feinen Röntgenmethode)) abgebildet. Zwar blieben die Areale der sensorischen Verarbeitung des lokalen Schmerzpunktes stumm, aber die Areale der affektiven Bewertung zeigten eine starke Aktivität. Mit diesen Befunden ist eine neuronale Begründung der Empathie möglich geworden. Dies bedeutet, dass die Schmerzlast nicht nur für den einzelnen Leidenden zu bewerten ist, sondern auch für seine Umgebung. Dadurch bleibt der Schmerz nicht nur beim einzelnen, sondern potenziert sich noch durch die Empathie.
Der Schmerz und die Schmerzwahrnehmung setzen sich nicht nur aus der sensorischen Wahrnehmung am Punkt der Verletzung, sondern auch aus der affektiven Bewertung und Bedeutung zusammen. Laut E. Pöppel unterscheidet sich die sensorische Schmerzschwelle bei den Menschen kaum. Vielmehr komme es auf die Schmerzverarbeitung, die Toleranzschwelle, an, welche sich sehr von Mensch zu Mensch unterscheide. Dies gelte für die Mitglieder verschiedener Kulturen ebenso wie für Mann und Frau. Bei Frauen läge die Toleranzschwelle niedriger, deswegen ihre erhöhte Klagsamkeit. Im kulturellen Kontext ist der Männlichkeit vermindertes Klagen zugeordnet. Dieser Feststellung widerspricht die Erfahrung, dass Frauen durchaus leidensfähiger sind als Männer. Die Umkehrung des Spruches, „lerne leiden ohne zu klagen“ in „lerne klagen ohne zu leiden“ hat offenbar eine protektive Auswirkung und schützt vor dem Zusammenbruch im Leiden. Zur Erklärung ist ein Ausflug in die Neurobiologie und dort in die Neuroplastizität notwendig. In welcher Weise und welcher Intensität Schmerzen empfunden werden, wird vor allem vom kulturellen Rahmen in den frühen Phasen unserer Biographie bis etwa zur Pubertät bestimmt. Für E. Pöppel hat es keinen Sinn, sich den Kopf zu zerbrechen, wieviel Schmerz angeboren oder wieviel erworben ist. Der Gesamtschmerz beinhaltet immer beides und kann nicht mehr entflochten werden. Die Psyche könne laut Pöppel hier nicht als Instanz ins Spiel gebracht werden, sie sei für das Schmerzempfinden nicht entscheidend. Es gebe also auch keine Persönlichkeit, die mehr Schmerzen ertragen könne oder wehleidiger sei als eine andere.
Weiterhin gelte für das Schmerzempfinden in der aktuellen Situation die Torkontrollentheorie. Z.B. könne einem Torwart in der Euphorie des Spieles ein frisch gebrochener Finger erst am Ende eines Spieles spürbar als Schmerz bewusst werden. Das Tor der Durchlässigkeit der zum Gehirn führenden Fasern wird entscheidend von den absteigenden Fasern, die die jeweiligen Bewusstseinszustände wie Euphorie oder Angst wiedergeben, modelliert. Angst hingegen könne das Tor öffnen, Beruhigung, Zuversicht und Medikamente dies verschließen. Da die Gefühle wie Ängste und deren Beruhigung von der kulturellen Bewertung abhängen, bestimmt diese die Schmerzwahrnehmung. Ähnlich hängt die sensorische Wahrnehmung von postoperativen Schmerzen und deren Chronifizierung von Einflüssen dieser kulturellen Bewertung, vom jeweiligen Geist und dessen inneren Aussagen, ob etwa etwas Schlimmes zu erwarten ist, und äußeren Einflüssen, den Aussagen und dem Geist des Umfeldes, ab.
Anders als E. Pöppel bin ich nicht der Meinung, dass die Psyche keine Rolle spielt. Er selbst beschreibt die affektive Wahrnehmung, in die die Bewertungen und Bedeutungen eingehen, als entscheidenden Faktor und zugehörig zur Schmerzwahrnehmung, und dass diese durch die kulturellen Prägungen bestimmt ist. Das konstituiert ja gerade die Psyche. Also wäre doch die Psyche der entscheidende Faktor. Seine Aussagen erkläre ich mir durch die alleinige naturwissenschaftliche Ausrichtung vieler Mediziner, in der die Psyche keinen Platz findet, dann auch infolge der Ausrichtung der Zeitschrift DNP und der Einflussnahme der Industrie, deren Interessenslage ist, Medikamente zu verkaufen. Die Wahrnehmung des Seins ist halt stark von der Interessenslage geprägt. Eine naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin sucht klare organisch faßbare Fakten und sieht offenbar in der Psyche den Geisterglauben früherer Zeiten, womit sie in gewissem Sinne nicht unrecht hat. Darüber mehr im zweiten Teil.
Für E. Pöppel liegt die Reduzierung der Schmerzlast in der Verantwortung der Medizin. Die Konsequenz ist vor allem ganz einfach die Schmerzreduktion, denn chronische Schmerzen haben Einfluss auf das gesamte Leben, die Lebensqualität, auf die Psyche, auf Leib und Seele und das soziale Umfeld und dessen Lebensqualität. Für den Arzt heißt das, nicht den Patienten gegen den Schmerz ankämpfen zu lassen, sondern frühzeitig dagegen anzugehen. Es gebe viel zu wenig Schmerzzentren, und nur etwa zehn Prozent der Patienten würden adäquat behandelt.
Literatur:
Pöppel, Ernst Schmerz – mehr als ein Symptom, MIC – Minimal invasive Chirurgie. Vol. 16, 2007 Ausgabe 1. S.11f.
Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung: www.bib-demographie.de
Singer, Tanja: Empathy for Pain Involves the Affektive but not Sensory Components of Pain, Science 2004 Feb 20; 303: S. 1157 – 1162
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 28.06. 2007
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 28.06. 2007