09. January 14 , 10:00
Kategorie: Leib & Seele
In seinem großartigen Erfolgen spiegeln sich projektiv seine Verehrer,
seine Erfolge sind ihre Erfolge, und dafür wird er verehrt und als Schumi geliebt. Er hat
mit Können und Verstand alle gefährlichen Situationen gemeistert, der Traum
eines jeden Verehrers. Er war sozusagen seinen Verehrern zu liebe zum Erfolg
und zur Unverletzlichkeit verpflichtet. Dadurch wurde er vereinnahmt. Aber im
Angesicht seiner verehrten Persönlichkeit, seines Ruhms und seines tragischen
Schicksals sind Fragen über die Hintergründe nicht erlaubt. Diesbezüglich ist
seine Person unantastbar.
Die Privatheit seiner Familie hatte er gegenüber der Öffentlichkeit und den
Medien abgeschirmt. Er wollte sie nicht den Medien preisgeben, bzw. die
Familie wollte das nicht. Dies deutet darauf hin, dass ihm und seiner Familie
der Öffentlichkeitsrummel zu viel war. 2009 waren schon schwere Verletzungen
nach einem Unfall beim Motorradrennen verschwiegen und der Öffentlichkeit
nicht bekannt geworden. Anscheinend wäre sein Image angekratzt worden, eines
Helden, der alle Unfälle überlebt. Nach Beendigung seiner erfolgreichen
Karriere ist er nach Jahren zurückgekehrt, aber ohne an seine früheren Erfolge
anzuknüpfen, im Grunde ist er 3 Jahre nach seinen Ansprüchen hinterher
gefahren. Wozu mag er das nötig gehabt haben? Er hätte sich auf seinem Ruhm
ausruhen und das Leben nach seiner Karriere genießen können oder eine weitere
Karriere anschließen. Aber war er dazu geschaffen? Ich weiß von mir selbst,
wie lästig mir das Hochjubeln mancher im Umfeld meiner doch recht bescheidenen
sportlichen Karriere und Erfolge war. Andererseits genoss ich es, eine in den
Augen mancher legendäre Gestalt zu sein. Und um wie viel mehr dürfte das bei
Michael Schumacher sein. Dass er so sehr verehrt wurde, muss ihm zur Last
geworden sein, andererseits muss er wie ein Junkey davon abhängig geworden
sein.
Ein Mensch, der den Geschwindigkeitsrausch, der die Raserei von Kindesbeinen
an liebt, der natürlich auch Erfolg haben möchte, wird im weiteren Verlauf
seines Lebens zum Opfer der Öffentlichkeit und der Medien. Das ist ein
tragisches Schicksal und das erzeugt Aggressionen gegenüber der
Öffentlichkeit.
In der Kindheit werden die Weichen gestellt, ob ein Mensch sich nach sich
selbst richtet oder nach dem Umfeld. Nach sich selbst richten, kann er aber
nur tun, wenn er darin eine Förderung erfährt, sein Selbstwertgefühl daher
bezieht, oder ob er seinen Ruf, sein Image und sein Selbstbild nach dem Umfeld
ausrichtet. Dann ist er darauf ausgerichtet, alle Erwartung zu erfüllen.
Verpflichtung heißt Fremdverpflichtung, Verantwortung heißt Fremdverantwortung
oder Verantwortung für den anderen, und Selbstverpflichtung oder
Selbstverantwortung, natürlich im Einklang mit dem Umfeld, werden klein
geschrieben. Sie werden als Rücksichtslosigkeit und Egoismus gebrandmarkt. Er
wird also von dem Umfeld vereinnahmt. Die Aufopferung ist gesellschaftlicher
und kultureller Kontext im christlichen Sinne und wird hoch gepriesen.
Die Kehrseite ist, die weite Verbreitung unter anderem von Depressionen,
Angststörungen und somatoformen Schmerzstörungen in unserer Kultur sprechen
eine eindeutige Sprache. Sie sind eine Folge der Zerrissenheit zwischen sich
selbst und den Ansprüchen des Umfeldes, dem sich aufgeopfert wird. Der
Depressive ist voller unterdrückter Aggression, der Angstkranke hat Angst vor
den eigenen Aggression und der Schmerzkranke ist hin und her gerissen zwischen
Aggressionen und Anpassung. Es ist zwar eine Errungenschaft und Fortschritt
der westlichen Welt, im Gegensatz zu anderen Kulturen, die Individualität
hervorzuheben, unsere Rechtsprechung fußt auf der Selbstverantwortung, aber
dies ist nur scheinbar und oberflächlich, wenn man die psychologischen
Zusammenhänge und Hintergründe kennt..
Wenn er darin auch noch Erfolge erzielt, wird sein Lebensweg verstärkt, seine
Lebensziele nach den anderen auszurichten. Michael Schumachers tragischer
Unfall ist ein hoch ambivalentes Geschehen. Einerseits lebt er sein
Geschwindigkeitsrausch und seine Erfolge aus, andererseits werden sie ihn zum
Verpflichtung und diese Pflicht ruft seine Aggressionen hervor. Diese
Aggressionen gehen aber gegen die verinnerlichten Objekte, er glaubt selbst
der Öffentlichkeit verpflichtet zu sein, getreu dem christlichen Bild der
Aufopferung, und richten sich somit gegen sich selbst - eine Autoaggression.
Die Autoaggression lässt ihn am Scheidewege nach seiner Karriere diesen Unfall
geschehen. Man könnte auch es so sehen, Hochmut kommt vor den Fall oder unter
dem Aspekt der Selbstbestrafung, Frevel muß bestraft werden. Er hätte
unbeschwert vor der Öffentlichkeit das Leben genießen können, und jetzt steht
er als tragisches Idol umso mehr in der Öffentlichkeit. Das hat absurde
Ausmaße angenommen.
Ich weiß, wenn jemand in eine gefährliche Situation gerät - ich meine nicht die selbst herbeigerufenen Situationen, diese wären ein verkappter Selbstmord - entscheidet sich in einem Bruchteil von Sekunden, ob latente Selbstmordtendenzen aktiviert werden, und er gerade erst recht drauf hält, oder ob er alles tut, um sich zu retten. Vielleicht war das für Michael Schumacher eine solche Situation. Vielleicht hat er sich auch dabei verkalkuliert, wo er sonst am Rande des kalkulierbaren Risikos fährt.
Michael Schumacher hat sicherlich Neid und Mißgunst bei Mitfahrern und
anderen, die sich mit ihm vergleichen, erzeugt. Das war sein Schicksal. Neid
verstehe ich als ein positives Gefühl, auf ein erstrebenswertes Vorbild
ausgerichtet, während Mißgunst von der Unerreichbarkeit des Vorbildes ausgeht
und auf Entwertung und Zerstörung dessen ausgerichtet ist. Diese Begriffe
werden oft verwechselt. Er sonnt sich im Neid anderer, andererseits lebte also
immer in der von der Mißgunst anderer begleiteten Spannung. Aufgrund dieser
Spannungen kann es sein, daß er sozusagen den Mißerfolg herbei sehnte und nach
dem Ende seiner Karriere ihm das passierte, er das durchführte. Er schaffte
also einen Ausgleich zwischen sich und den anderen. Nun braucht niemand mehr
auf Schumi mißgünstig zu sein, und alle können im Chor des Beileides einig
sein. Ja, die Psyche geht unbewußt sonderbare Wege, von denen nur ab und zu
ein Zipfel zum Vorschein kommt.
Wahrscheinlich ist es eine Mischung von allem. Solange er großartige Erfolge
hatte, schwebte er auf der Welle des Erfolges, aber als er in ein Alter kam,
diese Erfolge nicht reproduzieren zu können, kam die andere Seite zum Tragen,
hatte er keine Lust mehr, war dessen überdrüssig, wurde es sogar zur Last,
seine Haut für die anderem zu Markte zu tragen, ständig am Limit zu leben.
Nicki Lauda ist ein großartiges Beispiel, wie ein Rennfahrer nach einem
schweren Unfall eine neue Karriere aufbaut, in dem er eine Fluggesellschaft
gründet und als Experte bei Automobilrennen gesucht wird. Er hat eine Karriere
danach geschafft.
Aber ob das bei Michael Schumacher eine Rolle spielt, darüber kann kein Mensch
entscheiden, der nicht über seine Kindheit Bescheid weiß. Sicherlich war es
ein tragischer Zufall und Pech, eine Verkettung unglücklicher Umstände, aber
der Zufall kommt nicht von ungefähr. Oder ist es ein vorbestimmtes Schicksal?
Er erinnert an die mythischen Beispiele von Achill, der Achillesferse, oder an
Siegfried in der Nibelungensage, dem ein Blatt bei aller Unverletzlichkeit zum
Verhängnis wurde.
Viele werden diese Zeilen im Reich der Spekulation sehen, aber man darf auch
spekulieren, wofür manches spricht. Es bleibt zu hoffen und zu wünschen, dass
er ohne größere Schäden aus einem Koma erwacht und neue Perspektiven findet.
Viel Glück, Schumi!