„Wie
man aus einem Halbkranken einen unheilbar Kranken machen kann“
Dagegen gesunden Psychose-Patienten häufiger in der „Soteria“
Frankfurt am Main (Weltexpress) - Renate Kingma berichtete in der Frankfurter
Rundschau am 15.1.2008 über ein Behandlungsmodell für Psychosen, der Soteria.
Dieser Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet Geborgenheit, Rettung
und Sicherheit und hat einen alten Vorläufer in Byzanz, den Soter, wie Jesus
Christus angeredet wurde.
Begründet wurde Soteria 1971 von dem Psychiater Loren Mosher in Kalifornien und
in Europa zuerst 1984 von dem Sozialpsychiater Luc Ciombi an der
Universitätsklinik in Bern eingeführt. Es handelt sich um ein Modell, in dem
Wohngemeinschaften in kleinen heimartigen Häusern mit nicht mehr als zehn Betten
und einer 1:1-Betreuung (also wirklich ein Betreuer auf einen Patienten!) leben,
das sich durch eine patientenorientierte Behandlung auszeichnet. In der Folge
entstanden in vielen Städten zahlreiche Initiativen, um weitere
Soteria-Einrichtungen zu realisieren. Dies erwies sich häufig als schwierig,
meist wegen der Kosten und der erforderlichen Kooperation der Kostenträger.
Um uns das Konzept zu veranschaulichen, lassen wir den in der Frankfurt
Rundschau angeführten jungen „Beispiel“patienten zu Wort kommen. Er war immer
wieder in die herkömmliche Psychiatrie eingewiesen worden, bis er eines Tages
nicht mehr bereit war, ständig mit Medikamenten ruhig gestellt zu werden. Er
ergriff die Chance zu einer Klinikalternative, der Soteria, und blieb dort ein
Jahr. Heute sagt er, eine Psychose ist ein Entwicklungsprozeß, den man
durcharbeiten muß. Er fühlte sich beschützt wie in einer guten Familie, und man
ließ ihm Zeit, seinen Weg zu finden. Dort mußte man nicht so schnell wie möglich
gesund werden und funktionieren. Er habe seine Krankheit akzeptiert und müsse
sich nicht mehr verstecken. In guten Phasen konnte er sogar anderen helfen, ihre
akute Krise durchzustehen.
In Deutschland gibt es die seit 1999 bestehende Soteria in Zwiefalten und die
seit 2003 bestehende Soteria in Haar bei München. Darüber hinaus konnten in
etlichen psychiatrischen Kliniken sogenannte "Soteria-Elemente" in den
klinischen Alltag integriert werden. Diese Stationen arbeiten mit einem
psychodynamischen beziehungsorientierten Ansatz und einem milieutherapeutischen
Schwerpunkt. Diese patienten-, beziehungs- und milieu-orientierte Behandlung
soll eine Atmosphäre schaffen, in der die Patienten, die „Bewohner“ genannt
werden, je nach aktueller Befindlichkeit gestützt oder gefördert werden. Sie
werden ganzheitlich rund um die Uhr in ihrer Psychose begleitet. Die Betreuer
bemühen sich um die Schaffung einer kognitiv-affektiven Beruhigung und
Ausgeglichenheit. Mitarbeiter und Bewohner gestalten ihre Beziehung
gleichwertig, es gibt wenig Rollendifferenzierung und wenig Hierarchie.
Der behutsame Einsatz von Medikamenten erfolgt in Absprache mit den Bewohnern.
Konflikte versucht man, untereinander auszuhandeln. Es soll sozusagen eine
Ersatzfamilie auf Zeit geschaffen werden. Eine personelle und konzeptuelle
Kontinuität ist für die Bewohner und ihre Angehörigen wichtig, da dies in einer
meist angstbesetzten Psychose mehr zur Beruhigung beiträgt als beispielsweise
ein Aufenthalt auf Akutstationen mit häufig wechselnden Bezugspersonen und
Behandlungsvorstellungen. Wichtig sind die gemeinsame Entwicklung konkreter
Behandlungsziele und das alltagsorientierte Leben und Lernen in der Gemeinschaft
wie gemeinsames Kochen, Putzen, Freizeitgestaltung usw. Eine enge Zusammenarbeit
mit Angehörigen, weiteren Bezugspersonen und Betreuern ist ein wichtiger Aspekt
des Ansatzes.
Der oben angeführte Patient faßt die Möglichkeiten und Wirkungsweise der Soteria
sprachlich sehr schön zusammen, die Atmosphäre der Klinik, den Schutz, den
fehlenden Druck und die Gewährung der Zeit, um einen eigenen Lebensweg zu
finden. Ein wesentlicher Teil des Wesens der Psychose und Schizophrenie besteht
nämlich in dem Druck, bei sehr verrückten, widersprüchlichen
Familienverhältnissen in der Kindheit und deren Verinnerlichungen, später ein
nach äußeren Maßstäben normales, funktionales Leben führen zu sollen, wodurch
die Kranken völlig überfordert sind. In dieser psychotischen Welt kann allein
schon das kleinste Arbeitsansinnen zu derartiger Panik führen – die Arbeit als
Schreckgespenst -, daß mancher Kranke sich eher umbringt als sich
resozialisieren zu lassen.
Der Unterschied der Soteria zur herkömmlichen Psychiatrie mit einem wesentlich
geringeren Patienten-Betreuer- Schlüssel ist gewaltig. Zwar soll auch dort ein
Rückzugsraum für Kranke geboten werden, die nicht mehr im Alltag zurecht kommen,
aber wegen des Lärms, der Hektik und des Kostendrucks eines Großbetriebes, kann
einfach nicht so individuell auf jeden Patienten eingegangen und diesem Zeit zur
Selbstbewältigung seiner Krankheit gegeben werden. So bleiben Medikamente die
Hauptbehandlung, mit deren Hilfe der Patient zwar seine Ängste nicht mehr so
deutlich spürt, aber auch seine Innenwelt ihm wie abgestorben ist, er sich wie
ein Zombie fühlt und oft genug auch nach außen derart wirkt. Gegen diese höchst
unangenehmen Nebenwirkungen der Medikamente müssen danach weitere gegeben
werden. Ein Kreislauf. Der Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik ist zwar
meist „freiwillig“, aber bei akuter Selbst- und Fremdgefährdung kann eine zuerst
polizeiliche, dann richterliche Einweisung erfolgen.
Die Geschichte der Psychiatrie und der Behandlung von Schizophrenen ist eine
grausame. Die auffälligen krankheitsbedingten Verhaltensweisen des Leidenden
wurden als Trotz, Böswilligkeit und Ungezogenheit aufgefaßt, stigmatisiert und
grausam bestraft. Die Kranken wurden in großen Sälen ohne jeglichen
individuellen Rückzugsraum untergebracht, in gestreifte Sträflingskleidung
gesteckt und mit grausamen Behandlungsmethoden wie Insulin- und Elektroschocks,
teils Prügeln, Fesselung in Erregungszuständen und harten Medikamenten zur
Ruhigstellung traktiert. Die Pfleger erschienen wie Wärter in einem Zuchthaus.
Im 3. Reich wurden Psychotiker sogar erst kastriert, da man eine genetische
Veranlagung annahm und im Rassenwahn diese nicht weiter vererben lassen wollte,
schließlich sogar umgebracht.
Anfang der 70er Jahre habe ich ähnliche Anstaltsverhältnisse noch kennen
gelernt. Die für mich schlimmsten Zustände sah ich auf einer Kinderstation mit
schwer behinderten Kindern. Daß diese Verhältnisse weniger zur Gesundung,
sondern mehr zur Chronifizierung beitrugen, liegt auf der Hand. Im Gefolge des
Geistes der 68er hatten wir jungen Assistenzärzte in der psychiatrischen Klinik,
in der ich ein Jahr zur Facharztweiterbildung weilte, uns ein Refugium
geschaffen, wo auf einer Männerakutstation - die Geschlechter waren noch
getrennt - drei Ärzte für dreißig Patienten zuständig waren. Wir suchten
wenigstens ein bißchen Privatsphäre und Gemütlichkeit durch Abtrennungen und
wohnliches Mobiliar zu schaffen, während ansonsten in großen kalten Sälen für
hundert chronische Patienten ein Arzt zur Verfügung stand. Ich selbst spielte
mit Patienten, die dazu bereit waren, Fußball oder ging, selten genug, joggen.
Die meisten waren kaum zu aktivieren. Ich erinnere mich noch an meine Empörung,
daß der Spargeist der Klinikverwaltung sich in diese Humanisierungsversuche
einmischte. Ähnlich wie Ciompi mit seinem „weichen Zimmer“ hatten wir einen Raum
geschaffen, wo sich ein erregter Patient austoben konnte, ohne sich zu
verletzen. Ich erinnere mich, daß bei einer Chefvisite der Patient heraussprang
und den verdutzten und erschreckten Chefarzt umarmte und küßte.
In diesem Geist, aber noch viel weitgehender, wurde Soteria geschaffen, für die
damalige Vorstellung und auch noch heute wie ein Paradies. Auch erinnere ich
mich, daß damals in Italien fast alle psychiatrische Kliniken geschlossen
wurden. Es hieß, daß die meisten ehemaligen Patienten sich unauffällig unter die
Bevölkerung mischten, nur noch wenige in wieder geschaffenen Kliniken
untergebracht werden mußten.
In den alten Krankenakten der noch lebenden chronischen Patienten konnte ich
minutiös und ungeschminkt die grausame Vorgeschichte nachlesen. Das
Pflegepersonal hielt das damals wohl für völlig normal und hatte keinerlei
Unrechtsbewußtsein. Einer der Fälle aus meiner Erinnerung wurde als
rebellierender Jugendlicher in die Klinik eingewiesen, mit Schocks, Medikamenten
und Fesselung behandelt, wobei er schreiend und winselnd unter das Bett zu
flüchten suchte, mehrfach aus der Klinik ausbrach und zurück gebracht wurde. Für
mich wäre er zuallererst ein rebellierender Jugendlicher gegen die übermäßige
Strenge seiner Eltern gewesen, später wurde er ein chronischer Kranker. Er
entwickelte eine schwere Zuckerkrankheit, wobei die Mutter gegen alle Verbote
des Personals Essen in die Klinik schmuggelte. Das Spätbild über dreißig Jahre
danach war täglich im Klinikpark zu sehen, wo ein verfettetes menschliches Wrack
am Arm einer robusten achtzigjährigen Mutter spazieren geführt wurde.
Daß bei den Soteria-Bemühungen von den Kostenträgern so wenig Entgegenkommen
erfolgt, hängt mit der kurzsichtigen Sparpolitik, ähnlich wie in anderen
Bereichen, beispielsweies den kriminellen Jugendlichen, zusammen. Ein derartig
kostenintensiver Personalschlüssel erscheint zu teuer, überall werden ja Kosten
abgebaut, während die wesentlich teureren Nachfolgekosten der unzureichend
Behandelten mit langjähriger Unterbringung in manchen Fällen, teurer Behandlung,
Arbeitsausfall und Frühberentung in Kauf genommen werden. Die Kostenfrage halte
ich für einen Vorwand für das als Hintergrund vermutete gesellschaftliche
Strafbedürfnis für Fehlverhalten, die Vorurteile und Verurteilungen, gegenüber
kriminellen und gewalttätigen als auch in der Psychose sehr
verhaltensauffälligen Jugendlichen.
Autor: Bernd Holstiege
Unter Mitarbeit von Claudia Schulmerich
E-Mail: bernd.holstiege@weltexpress.info
Abfassungsdatum: 03.02. 2008
Foto: © Weltexpress
Verwertung: Weltexpress
Quelle: www.weltexpress.info
Update: Berlin, 03.02. 2008